Susanne Menge: Rede zur Versorgung von traumatisierten und psychisch erkrankten Geflüchteten und Abschaffung von Langzeitduldungen (TOP 9/10)

- Es gilt das gesprochene Wort -

Rede TOP 9 und 10: Versorgung von traumatisierten und psychisch erkrankten Geflüchteten verbessern! (Drs. 18/8722)
Langzeitduldungen abschaffen, Bleiberecht voranbringen, Integration fördern! (Drs. 18/8723)

Anrede,

ich freue mich, dass weiterhin Geflüchtete aus Griechenland in regelmäßigen Abständen in Hannover landen und hier in eine neue Zukunft starten können. Diese Rettungsaktion, die leider viel zu wenige rettet, hat lange auf sich warten lassen. Viele bleiben im Elend der griechischen Flüchtlingslager zurück, leiden dort vielfach unbemerkt weiter und ziehen sich Krankheiten - auch psychische Krankheiten - zu. Die wenigen Geretteten kommen ebenfalls mit Krankheiten und Traumata hierher. Diesem Leid, das bei Weitem nicht nur die aus den griechischen Lagern Aufgenommenen trifft, sondern im Grunde alle zu uns Geflüchteten, widmen wir unseren vorliegenden Antrag „Versorgung von traumatisierten und psychisch erkrankten Geflüchteten verbessern!“

Anrede,

bereits vor der Flucht aus einem Krisengebiet, in dem Krieg, Hunger oder politische Verfolgung herrschen, erleiden die Menschen dort vielfältige Qualen. Wir - hier im friedlichen und wohlhabenden Europa - sind vielleicht durch die täglichen Nachrichten aus solchen Gebieten abgestumpft oder können bzw. wollen uns das persönliche Leid der Menschen dort nicht vorstellen. Wem das so geht, dem empfehle ich die Lektüre der Fluchtgeschichte der Syrerin Rauda Al-Taha, die Doris Schröder-Köpf als Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe in Kooperation mit der Stadt Celle im Januar veröffentlicht hat. Meinen herzlichen Dank an Frau Rauda Al-Taha und Doris Schröder-Köpf dafür! Nach dieser Lektüre kann man sich vorstellen, welche Schrecken die Menschen dazu bewegen, eine gefährliche und entbehrungsreiche Flucht in eine ungewisse Zukunft zu riskieren. Durch Kriegsgeschehen, Gewalterfahrungen, Hunger, Angst um das eigene Leben und das der eignen Kinder, Terror und Todesgefahren entstehen psychische Erkrankungen vor oder während der Flucht, die am Ziel nicht einfach wieder verschwinden. Man fühlt sich hier keineswegs gleich in Sicherheit, merkt, dass man nicht überall willkommen ist, trifft Feinde oder Verfolger aus dem eigenen Land oder von unterwegs wieder und ist ohne Sprachkenntnisse isoliert und unsicher. Auf einer solchen Basis kann man kaum konzentriert an Integrationskursen teilnehmen oder die deutsche Sprache lernen. Im schlimmsten Fall kommt es zu Retraumatisierungen durch Knallgeräusche oder bedrohlich wirkende, stressbeladene Situationen, die zu unerwarteten und möglicherweise gefährlichen Reaktionen der Traumatisierten führen können.

Deshalb müssen wir solche Erkrankungen und Traumatisierungen früh und proaktiv erkennen, die Betroffenen schützen, ihnen ein sicheres Umfeld bieten und natürlich sie heilen. Glücklicherweise haben wir in Niedersachsen das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge (NTFN), das eine unglaublich wertvolle Arbeit leistet. Ich danke bei dieser Gelegenheit allen dort Engagierten ganz herzlich für ihre Arbeit. In den diesjährigen Haushaltsverhandlungen werden wir um die Finanzierung des NTFN bangen müssen und ich warne schon jetzt davor, hier die Mittel zu kürzen. Im Gegenteil müsste in das NTFN viel mehr Geld investiert werden, damit es sein Netzwerk in die Fläche ausweiten und somit mehr Geflüchtete erreichen kann. Ich versichere Ihnen: Der Bedarf und die Nachfrage sind riesig.

Aber nicht nur beim NTFN kann das Land etwas für die Betroffenen tun, sondern durch zahlreiche andere Maßnahmen, die wir in unserem Antrag auflisten. So sind die Aufnahmeeinrichtungen des Landes möglichst klein, stadtnah und leicht erreichbar zu gestalten. Meine Damen und Herren, eine Aufnahmeeinrichtung mit einem Truppenübungsplatz nebenan, auf dem Schießübungen stattfinden, die die Geflüchteten in der Einrichtung unmittelbar hören, geht gar nicht! Dennoch will die Landesregierung den Ende 2022 auslaufenden Vertrag für die Einrichtung in Bad Fallingbostel-Oerbke verlängern. Minister Pistorius, bitte suchen Sie hierfür Alternativen. Gäbe es die von uns geforderte unabhängige Beschwerdestelle, so wüsste die Landesregierung vermutlich von den Problemen der Geflüchteten mit den Schießübungen. In ihrer Antwort auf meine Anfrage leugnet sie ja, davon zu wissen.

Und nicht nur wegen der Corona-Infektionsgefahr sind kleine, private Wohnräume wichtig für die Geflüchteten. Gerade Frauen und Kinder brauchen eine Umgebung, die ihnen Sicherheit und Privatsphäre bietet. Selbstbestimmung und Transparenz sind hier ebenfalls wichtige Stichworte, denn sie bewahren vor Stress und stärken das Selbstbewusstsein. Letzterem zuträglich ist zudem der Zugang zu Arbeit, Beschäftigung, Bildung und Mobilität. Hier liegen die Hürden immer noch zu hoch, und das Potenzial von Geflüchteten wird zu wenig erkannt und genutzt.

Anrede,

das war nur eine Auswahl unserer Forderungen, die Sie alle dem vom NTFN herausgegebenen „Leitfaden zum Umgang mit traumatisierten und psychisch erkrankten Geflüchteten im Aufnahmeverfahren“, dort verbunden mit eindrücklichen Ausführungen und Beispielen aus der Praxis, entnehmen können.

Ich komme nun zu unserem zweiten vorliegenden Antrag „Langzeitduldungen abschaffen, Bleiberecht voranbringen, Integration fördern!“. Auch hier besteht dringender Handlungsbedarf, denn die beinahe 20 000 in Niedersachsen lediglich geduldeten Menschen brauchen eine Zukunftsperspektive. Den Zeitungen konnten wir alle in den vergangenen Wochen die aufrüttelnde Geschichte der Krankenpflegerin Farah Demir entnehmen, die beispielhaft für zahlreiche Menschen steht, die sich bei uns engagieren oder das gern möchten, aber durch eine blinde und an Paragrafen hängende Bürokratie daran gehindert werden. Die Duldung ist kein Aufenthaltsstatus, auf den man eine Existenz oder gar eine Zukunft gründen kann. Sie ist sogar noch weniger als die ebenfalls noch befristete Aufenthaltserlaubnis, über die viele Geduldete schon glücklich wären. Die Duldung nagt an den Nerven, am Selbstbewusstsein, an der psychischen Gesundheit. Und dann sind wir wieder dort, wovon ich bereits oben gesprochen habe. Man kann nichts planen, nichts aufbauen, hat keine Perspektive und hängt ungewollt am sprichwörtlichen Tropf der Wohlfahrt, wobei man damit eben gerade nicht wohl fährt, sondern mit staatlichen Leistungen über die Runden kommen muss, die unter dem rechnerischen Existenzminimum liegen und Deutschen nicht zugemutet werden.

Oft scheitert die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ungeklärten Identitäten oder Staatsangehörigkeiten. Aber es gibt Lösungen, die eine hilfsbereite und sensibilisierte Verwaltung erreichen kann. Es gibt sogar bundesgesetzliche Regelungen, die aber zu wenig angewandt werden. Deshalb fordern wir ein Landesprogramm zum Abbau von Langzeitduldungen und für die vermehrte Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, das

  1. eine unabhängige Bleiberechtsberatung,
  2. Einzelfallprüfungen und -beratungen, so wie sie offenbar möglich sind, wenn nur die Zeitungen genug über einen Fall wie den der Ferah Demir berichten und sie der Innenminister unter dem öffentlichen Druck anordnet, und
  3. eine Informationskampagne

beinhaltet. Zudem muss die Landesregierung einen sehr guten Erlass aus rot-grünen Zeiten endlich zeitlich entfristen und damit ein Signal an die Ausländerbehörden senden, dass er auf Dauer angelegt und entsprechend ernsthaft und konsequent anzuwenden ist.

Das Innen- und das Sozialministerium sind durch unsere beiden Anträge also dringend gefordert, mehr zu tun für die zu uns Geflüchteten. Ich möchte in Zukunft genauso viele Pressemitteilungen über die Umsetzung der hier geforderten Maßnahmen lesen wie über die einzelnen Landungen von Flügen mit Geflüchteten aus griechischen Lagern.

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