Rede Ursula Helmhold: Zweite Beratung Haushalt – Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit

Landtagssitzung am 07.12.2006, TOP 10 ff

Anrede,

die sozialpolitische Bilanz des vergangenen Jahres zeigt, dass die Politik dieser Landesregierung an vielen Stellen unsozial ist. Das betrifft nicht nur die originäre Sozialpolitik, sondern das politische Gesamtkonzept dieser Regierung. Jede politische Maßnahme muss sich daran messen lassen, welchen Beitrag sie zu einem gerechten, solidarischen, würdigen und chancengerechten Zusammenleben der Menschen leistet.

Lassen wir unter diesem Aspekt einige Politikfelder einmal Revue passieren:

Ab dem 1. Januar 2007 erhalten blinde Menschen über 27 Jahre in Niedersachsen wieder ein einkommens- und vermögensunabhängiges Landesblindengeld. Damit endet ein wirklich unrühmliches Politikkapitel dieser Landesregierung, in dem ohne Rücksicht auf Verluste versucht wurde, eine Teilhabeleistung durch Armenfürsorge zu ersetzen.

Es ist der Ministerin in gewisser Weise zu konzedieren, dass sie mit dem Blindenverband am Ende einen Kompromiss erzielt hat. Den allerdings hätte der Ministerpräsident auf der Basis unseres Angebots schon ein Jahr eher haben können. Seine Halsstarrigkeit und die seiner damaligen Sozialministerin von der Leyen haben es nötig gemacht, dass die blinden Menschen in Niedersachsen, gemeinsam mit einem breiten Bündnis von Unterstützerinnen, ein Volksbegehren auf den Weg bringen mussten, ehe die Landesregierung endlich einlenkte. Das Ganze: Kein Meisterstück – nicht sozial!

Für seine Kampagne und die phantasievollen und kreativen Aktionen erhielt der niedersächsische Blindenverband übrigens den "Politik-Award" des Fachmagazins Politik und Kommunikation, zu dem ich von dieser Stelle aus noch herzlich gratulieren möchte. 
"Der Preis gehört dem Blindenverband für eine vorbildliche Kampagne, aber zugleich auch allen Bürgerinnen und Bürgern über Niedersachsen hinaus, die sich für das soziale Miteinander und den Erhalt unseres Sozialstaates einsetzen", so der Landesbehindertenbeauftragte auf der Homepage des Ministeriums. Ein Preis für den Protest gegen die hartherzigen Pläne der Niedersächsischen Landesregierung – gelobt auf den Internetseiten eben dieser Regierung – das hat schon was, meine Damen und Herren.

"Es geht uns um eine Gesellschaft, in der der Staat nicht dazu da ist, dass Glück des Einzelnen zu mehren, sondern Leid zu lindern", lese ich ebenfalls auf der Homepage des Ministeriums und zwar als Überschrift des Kapitels "Sozialpolitik". Das finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich mager. Menschen in schwierigen Situationen zu unterstützen,  das ist doch selbstverständlich. In diesem Sinne ist Sozialpolitik wohl "Hilfepolitik". Aber der Anspruch, Frau Ministerin, ist größer: zeitgemäße Sozialpolitik verhilft zur Teilhabe, aktiviert und befähigt und hat unserer Auffassung nach einen emanzipativen Anspruch. Den haben Sie nicht.

Immer mehr Menschen in Niedersachsen werden ausgegrenzt. Im Jahr 2005 ist die Armutsquote erneut um 0.4 Prozentpunkte auf 14,9 % gestiegen, während gleichzeitig die Reichtumsquote um 0,3 auf 5,9% anstieg. Das ist die Folge Ihrer Politik!

Besonders häufig tritt Armut bei Alleinerziehenden oder Haushalten mit vielen Kindern und bei Erwerbslosigkeit auf. Sozialpolitik muss für gerechte Chancen sorgen. Die größte Chance, die eine Gesellschaft zu vergeben hat, ist die Chance auf Bildung. Hier liegt der Schlüssel für Emanzipation und Teilhabe. In diesem Sinne ist Bildungspolitik Sozialpolitik. Wir wissen, dass Bildung der Schlüssel zur Teilhabe am Arbeitsmarkt und damit entscheidend für die Herstellung von Chancengleichheit für den Einstieg ins Erwerbsleben ist.

Und was tun Sie an dieser zentralen Stelle? Sie schließen für einen Teil der jungen Menschen die Tür zu und werfen den Schlüssel weit weg. Sie sorgen mit Ihrem Marsch zurück in das dreigliedrige Schulsystem der 50iger Jahre für eine Verfestigung des gerade in Deutschland besonders fatalen Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Chancenungleichheit. Sie sorgen für Bildungsarmut und damit für sich dauerhaft verfestigende Armutsstrukturen. Sie lassen zu, dass sich der Teufelskreis aus Einkommensarmut und Transferbezug, Bildungsferne, Sprach- und Gesundheitsproblemen, Migrationshintergrund und Arbeitslosigkeit schließt. Sozial ist das nicht!

Insbesondere Kinder verlieren unter diesen Bedingungen ihre Zukunft bereits ehe sie merken, dass sie überhaupt eine hätten haben können.
Und so ganz genau wollen Sie die Sache mit der Armut ja gar nicht wissen. Sie verweigern eine präzise Armuts- und Reichtumsberichterstattung. So können Sie die harten Fakten zur Armut in Niedersachsen weiter ignorieren.

Anrede,

mit der Änderung des niedersächsischen Pflegegesetzes hat die Regierung Wulff die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die örtlichen Sozialhilfeträger jetzt alte pflegebedürftige Menschen zunehmend zwangsweise mit wildfremden Menschen in Mehrbettzimmern unterbringen. So viel zum Thema Menschenwürde im Alter. Sozial ist das nicht!

Die Behindertenpolitik des Landes stagniert und fährt auf recht traditionellen Schienen. Wir haben Sie daher mit unserem Entschließungsantrag zur Umorientierung der Eingliederungshilfe aufgefordert, endlich den Anspruch behinderter Menschen auf mehr selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Leben durchzusetzen. Die Resonanz auf die Einführung des Persönlichen Budget in drei Modellregionen war eher bescheiden, die flächendeckende Umsetzung erfolgt sehr schleppend, an das trägerübergreifende Budget wagt sich diese Landesregierung erst gar nicht heran, obwohl dafür von Bundesseite grünes Licht gegeben ist.

Ein komplettes Desaster für behinderte Menschen stellt die Verzögerung eines Landesgleichstellungsgesetzes dar. Seit 2003 versprechen Sie dieses Gesetz. Sie führen die behinderten Menschen jetzt seit 3 Jahren an der Nase herum. Ganz im Stil der Vorgängerregierung heißt das Motto:  Tarnen, täuschen und verzögern! Das Ganze: Ein Trauerspiel!
Ein sozialpolitischer Offenbarungseid!

Anrede,

dann haben wir noch das Kapitel Psychiatrie. Ihre Psychiatriepolitik besteht seit 2003 lediglich darin, dass sie nicht stattfindet und gipfelt jetzt in dem Versuch der Erledigung durch Verkauf. Wider jeden fachlichen Rat haben Sie ein relativ intransparentes Verfahren durchgezogen mit dem einzigen Ziel, das Geld in der Kasse des Finanzministers klingeln zulassen. Von den ursprünglichen Begründungen für diesen Verkauf ist  mittlerweile nicht mehr viel übrig: Der Zubau an forensischen Betten wird auch in Zukunft in der Hauptsache vom Land geleistet und bezahlt werden müssen. Den Kern der Forensik muss das Land nun doch selbst behalten, weil die verfassungsrechtlichen Probleme sonst zu offensichtlich gewesen wären. Aber auch so wird es schlimm genug werden. Mit abenteuerlichen Konstruktionen versuchen Sie den Anschein zu erwecken, als ob die Anwesenheit eines einzigen Landesbediensteten in einer beliehenen Maßregelvollzugsanstalt ausreichen könnte, schwerwiegende Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Sie haben es ja schon häufiger mit der Verfassung nicht so genau genommen – offenbar ist Ihr Lernvermögen an dieser Stelle begrenzt.

Dass mit der Privatisierung die notwendige Weiterentwicklung der Psychiatrie zu einer weiteren Regionalisierung hochgradig erschwert wird, ist Ihnen komplett egal gewesen. Es ging von Anfang an nur ums Geld, die Sozialministerin hatte ganz offenbar nur wenig zu entscheiden. Dabei ist die ambulante psychiatrische Versorgung in vielen Teilen des Landes höchst defizitär, wie die Berichte des Ausschusses für die Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung jedes Jahr in aller Deutlichkeit zeigen. Das Land allerdings begibt sich mit der Privatisierung jeder Steuerungsmöglichkeit in diesem Bereich. Weg mit Schaden heißt wohl die Devise, was kümmern uns die seelisch behinderten Menschen. Sozialpolitik ist das nicht.

Anrede,

die Frauenpolitik der schwarz-gelben Landesregierung verkommt unter dem Deckmäntelchen der Gleichstellungspolitik immer mehr zu einem Anhängsel der Familienpolitik: Den Anfang machte die Abschaffung der hauptamtlichen kommunalen Frauenbeauftragten, weiter ging es mit der Änderung des Niedersächsischen Hochschulgesetzes, wodurch die Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten der Hochschulfrauenbeauftragten erheblich einengt wurde. Nun nehmen Sie sich das Niedersächsische Gleichstellungsgesetz vor, das ursprünglich dazu dienen sollte, den Frauenanteil in Führungsposition innerhalb der Verwaltungen zu erhöhen. Unter dem Motto "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" erleben wir einen völligen Paradigmenwechsel: Von Frauenförderung ist dort wenig zu finden.

Massive Proteste der betroffenen Einrichtungen verhinderten, dass es im Gewaltschutzbereich zu Kürzungen kommen konnte. Hier hat die Ministerin nun nachgelegt und das begrüße ich ausdrücklich.

Familienförderung, das muss man der Ministerin lassen, hat sie tatsächlich -  zumindest pressewirksam - sehr intensiv betrieben. Aber was kann man davon halten: Da fließen ab 2007 100 Mio. Euro für das Förderprogramm "Familien mit Zukunft" in die Kleinkindbetreuung, aber für die Schaffung der dringend notwendigen Hortbetreuung ist kein Geld vorgesehen.

Anrede,

ich möchte noch einen kleinen Blick auf einen Politikbereich lenken, den Sie als Förderung des ehrenamtlichen Engagements bezeichnen.
Sie wollten junge Menschen ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz ins Freiwillige Soziale Jahr vermitteln in der Hoffnung, dass dann ein so genannter Klebeeffekt entsteht. An sich eine gute Idee. Sie fruchtet aber wenig, wenn Sie sie kurzatmig und viel zu spät im Herbst eines Jahres den Trägern andienen mit der Folge, dass statt der geplanten 100 Personen nur 50 in ein FSJ hineinvermittelt werden konnten. Sie preisen das Ehrenamt, aber jungen Menschen, die sich engagieren wollen zeigen Sie die kalte Schulter. Es gibt in Niedersachsen immer noch zu wenige Plätze für das Freiwillige Soziale Jahr. Für 1000 Bewerber beim Diakonischen Werk gibt es nur 200 Plätze! Warum haben Sie die freien Mittel nicht zu den regulären FSJ-Trägern umgeschichtet?  Sie haben da Ihre eigene Chance vertan!  Das Ganze: Dilettantismus!

Anrede,

die Bewertung der Arbeit der Ministerin im gestrigen Rundblick können wir so nicht teilen. Wir nehmen wahr, dass diese nun nicht mehr ganz neue Sozialministerin übervorsichtig agiert, lauwarme Politik präsentiert und häufig im Vagen bleibt. Von einem "Stempel", der der niedersächsischen Sozialpolitik durch sie aufgedrückt worden sei, können wir jedenfalls herzlich wenig spüren. Eher spüren wir, dass Sozialpolitik immer mehr zu einer reinen Fürsorgepolitik verkommt, wenn sie nicht, wie bei den Psychiatrien, gleich ganz aufgegeben wird.

Eine Sozialpolitik mit einem so minimalen Anspruch verdient ihren Namen nicht, ebenso wie die weitgehend erledigte Frauenpolitik.
Die Menschen in Niedersachsen merken das und der "Stern Wulff" beginnt zu sinken.

"Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten und einige Leute allezeit; aber alle Leute allezeit zum Narren halten kann man nicht", sagte Abraham Lincoln. Ich bin sicher: Sie werden die Quittung für Ihre Politik genau so kriegen, wie Sie sie verdienen!
Zurück zum Pressearchiv