Rede Ursula Helmhold: „Von Schwarz-Gelb lernen heißt tricksen lernen!" Niedersachsens Bürgerinnen und Bürger müssen die Zeche zahlen

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Vorbemerkung zum Beginn der heutigen Aktuellen Stunde machen.

(Zuruf von der CDU: Es ist schon alles gesagt!)

Ich weiß, laut Geschäftsordnung hat die Regierung das Recht, jederzeit zu sprechen. Gleichwohl ist es eine Stilfrage, wie man sich in diesem Parlament verhält. Ich möchte an dieser Stelle gerne

(Unruhe bei der CDU)

? ganz besonders auch für Sie ? den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert zitieren, der in seiner Rede gestern gesagt hat:

"Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern das Parlament bestimmt und kontrolliert die Regierung."

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN sowie Zustimmung von Lothar Koch [CDU])

In diesem guten Sinne sollte der Ministerpräsident sich hier als Gast fühlen

(Widerspruch bei der CDU)

und außer bei Regierungserklärungen in Demut warten, bis er dran ist.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Zurufe von der CDU - Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Meine Damen und Herren, es war zu erwarten: Eine schwarz-gelbe Regierung möchte umverteilen ? ? ?

(Unruhe bei der CDU)

? Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören. Aber es ist einfach so. Ich kann Herrn Lammert nur recht geben. Dafür, dass er einer von Ihnen ist, kann ich doch nichts. Er sagt da jedenfalls gescheite Sachen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, es war klar, dass eine schwarz-gelbe Regierung aufwärts umverteilen will, und das gründlich. Dass Sie es aber so gründlich und vor allen Dingen so schamlos tun, hat dann doch überrascht. Es gilt ? das könnte als Überschrift über dieser Regierungserklärung stehen ?: Je reicher man ist, desto besser ist es für einen. Es profitieren die, denen es sowieso schon gut geht. Bei denen sind die Kinder mehr wert, und bei denen trägt natürlich auch die Steuerentlastung besser.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich will Ihnen das am Beispiel von drei Familien erläutern, die jeweils drei Kinder haben:

Familie A hat ein Bruttoeinkommen von 7 000 Euro. Sie wird nach Ihren Plänen 133 Euro im Monat mehr haben. ? Schön.

Familie B hat zwei Kinder und ein Bruttoeinkommen von 3 000 Euro.

(Heiner Schönecke [CDU]: Ich dachte, die haben jeweils drei Kinder!)

Sie wird 52 Euro mehr haben. ? Nicht mehr ganz so schön.

Familie C im Hartz?IV-Bezug kriegt überhaupt nichts, nicht einmal das Kindergeld; denn das wird ihnen vom Regelsatz wieder abgezogen.

Die Belastung aber, die Sie den Bürgerinnen und Bürgern zumuten, ist bei allen drei Familien gleich. Sie zahlen alle die Prämie für die Krankenversicherung. Sie müssen alle in die Pflegeversicherung einzahlen. Sie alle werden die erhöhten Müllgebühren zahlen müssen, die Sie nur aufgeschoben haben; das kommt mit Sicherheit noch. Belastet werden alle gleich.

Ist "Mehr netto vom Brutto" so zu verstehen? Oder müssen wir das so verstehen "Wer so wenig hat, dass er sowieso keine Steuern bezahlt, der braucht aus Ihrer Sicht auch keine Entlastung zu haben"? ? Das ist die Diktion Ihrer Koalitionsvereinbarung!

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Erklären Sie mir trotz Ihres vielen Geredes von Entlastung der Familien doch einmal, wie es zu folgendem Befund kommt: Ein Single mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 3 800 Euro wird nach Ihren Plänen um 83 Euro entlastet, während eine Familie mit zwei Kindern, die ebenfalls 3 800 Euro verdient und in der Steuerklasse III ist, nur um 70 Euro entlastet wird. Das sind 13 Euro weniger! Wozu denn das? Ist das Familienentlastung, meine Damen und Herren?

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Man kann Ihren Koalitionsvertrag getrost unter das Matthäus-Wort stellen:

"Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden."

Herr Thümler, ich habe hier eben wirklich Kreislauf gekriegt, als ich Sie gehört habe,

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN ? Zurufe von der CDU und von der FDP)

als Sie davon geredet haben, dass Leistung sich lohnen muss, dass man die Leistungsträger entlasten muss.

(Björn Thümler [CDU]: Das können Sie nicht ab!)

Ich frage Sie ganz ernsthaft: Wie wollen Sie einem Menschen, der im Wachdienst beschäftigt ist und wenig verdient, obwohl er 40 Stunden arbeitet, der auf ergänzende Hartz?IV-Leistungen angewiesen ist und deswegen von all dem, was Sie tun, überhaupt nichts hat, eigentlich sagen, wie das mit der Leistung ist? Leistet der nichts aus Ihrer Sicht? ? Sie grenzen diese Menschen aus! Welches Etikett kleben Sie denen eigentlich an? So geht es nicht!

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Offensichtlich haben aber einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der CDU-Bundestagsfraktion doch noch so etwas wie ein soziales Gewissen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass Mutti heute neun Stimmen aus dem eigenen Lager nicht gekriegt hat. Hut ab vor diesen neun!

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN ? Björn Thümler [CDU]: Sie sind von Neid zerfressen! Sie sind nicht die moralische Instanz des Hauses!)

Meine Damen und Herren, nach diesem Vertrag wissen die Menschen, worauf sie sich einzustellen haben. Es gibt reichlich Entlastung für Unternehmen und für Reiche, und es gibt reichlich Belastungen für Arbeitnehmer.

Natürlich haben Sie ein soziales Mäntelchen entdeckt, nämlich das Schonvermögen für Hartz?IV-Bezieher. Dazu will ich Ihnen eines sagen: FDP und CDU haben damals im Vermittlungsausschuss dafür gesorgt, dass dieses Schonvermögen überhaupt so niedrig wurde. Es ist höchste Zeit, dass Sie das jetzt korrigieren. Diesen Teil der Geschichte dürfen Sie aber bitte auch nicht verschweigen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Ich gebe zu, das war schon ein genialer Schachzug: Wir erhöhen jetzt das Schonvermögen, und alle fühlen sich irgendwie ein bisschen besser. ? In Wirklichkeit betrifft das überhaupt nur 1 % der Menschen im Hartz?IV-Bezug.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Lex Schickedanz!)

? Vielleicht jetzt auch noch Schickedanz. ? Sie machen etwas für 1 %, und alle fühlen sich gut. In Bezug auf Public Relations ist das wirklich à la bonne heur. Aber Sozialpolitik ist das nicht, meine Damen und Herren!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

In Ihrem Vertrag steht kein Wort zu den viel zu niedrigen Hartz?IV-Sätzen, die das Bundesverfassungsgericht gerade prüft. Es steht kein Wort darin zu Kinderarmut und zur Sicherung von Chancen gerade für diese Kinder.

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Frau Helmhold, wer hat das denn beschlossen? Wer war das?)

Kein einziges Wort dazu, kein Interesse daran! Dieses Desinteresse gerade an benachteiligten Kindern zeigt sich auch noch an einer Sache, die ich wirklich fatal finde: Sie haben doch tatsächlich die Betreuungsprämie vereinbart, meine Damen und Herren. Diese Prämie wird in Zukunft Kinder davon abhalten, zur Kindertagesstätte, zu einer Bildungseinrichtung zu gehen ? gerade diejenigen, die es am nötigsten haben.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Das ist eine bildungspolitische Katastrophe! Wissen Sie, wer das gesagt hat? ? Frau von der Leyen hat das 2007 gesagt. Und jetzt soll sie als Familienministerin diese Prämie selbst umsetzen. Wegen so etwas sind andere schon zurückgetreten. Das hatte Stil und Art.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, in diesem Land lebt fast jedes fünfte Kind in Armut. Und dazu fällt Ihnen in Ihrem Koalitionsvertrag nichts ein? Statt in die Bildungsinfrastruktur zu gehen, statt für Chancengerechtigkeit zu sorgen, gewähren Sie wieder direkte Leistungen mit der Gießkanne, die sehr unterschiedlich ankommen und bei denen, die sie am nötigsten haben, schon gar nicht. Statt die Regelsätze zu erhöhen ? das wäre wirklich dringend notwendig ?, wollen Sie warten, bis das Bundesverfassungsgericht Sie dazu zwingt.

Noch eine Anmerkung zur Steuerentlastung: Sie glauben doch wohl nicht, dass die Entlastung bei den Gutverdienenden in den Konsum geht! Die Sparquote wird steigen, meine Damen und Herren. Wer mehr Geld kriegt, wenn er schon genug hat, der legt es auf die hohe Kante.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Die Hartz?IV-Empfänger würden das Geld ausgeben. Dann hätten Sie wenigstens noch den Effekt, dass der Binnenmarkt angekurbelt wird, den Sie so nicht haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Stattdessen bedienen Sie Ihre Klientel. Ich finde das wirklich erbärmlich. Wo ist eigentlich die Kanzlerin, die uns versprochen hat, dass sie allen Menschen in dieser Republik zu dienen hat und nicht nur denen, die Steuern zahlen, meine Damen und Herren?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie wollen nicht den Menschen helfen, denen es am schlechtesten geht. Sie machen keine neuen Mindestlöhne und wollen sogar die bestehenden auf den Prüfstand stellen. Dazu sage ich Ihnen: Ohne neue Mindestlöhne ist die Anhebung der Zuverdienstgrenze eine weitere Subventionierung des Niedriglohnbereichs. Dieser Sektor wird weiter wachsen, weil die Löhne weiterhin durch ALG II aufgefüttert werden. Das kostet Milliarden. Wissen Sie, wie Sie die bezahlen wollen? ? Aber darauf kommt es Ihnen ja wahrscheinlich auch nicht mehr an. Das ist jetzt alles schon egal nach dem Motto: Wir haben den Kuchen jetzt schon dreimal verfrühstückt, dann können wir noch einmal 20 Milliarden Euro Schulden obendrauf packen.

Das Verbot sittenwidriger Löhne ist genauso eine Augenwischerei wie die Anhebung des Schonvermögens. Sittenwidrige Löhne sind nämlich schon lange verboten. Dafür gibt es bereits Gesetze. Bei Ihnen sind Löhne von 2,03 Euro für eine Friseurin oder etwas mehr als 3 Euro für jemanden im Wachgeschäft in Ordnung, die sind nach Ihrer Meinung nicht sittenwidrig. Ich finde es unmoralisch, dass man so mit Menschen umgeht. Das kann doch nicht der Anspruch einer christlichen Partei sein!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Und dann behaupten Sie noch allen Ernstes, dass Sie mit Ihrem Koalitionsvertrag einen Schutzschirm für Arbeitnehmer aufspannen. Ich zeige Ihnen einmal, wie dieser Schutzschirm aussieht.

(Die Rednerin hält einen zerfledderten Schirm hoch)

Einen solchen Schutzschirm haben Sie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande aufgespannt: Durchlöchert bis ins Letzte. Die werden nass bis aufs Hemd werden.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN ? Zurufe von der CDU: Nicht einmal damit kann sie umgehen! ? Das spricht ja gegen das Waffengesetz!)

Meine Damen und Herren, mit Ihrem Vertragswerk wird vielen genommen, aber es wird natürlich ? ich will gerecht sein ? auch vielen gegeben. Bei Ihrer Klientel ist für jeden etwas dabei: Die Apotheker kriegen das Abgabemonopol, den Ärzten wird die Konkurrenz durch die medizinischen Versorgungszentren vom Hals gehalten, die Steuerberater kriegen neue Kunden, die privaten Versicherer auch, die Zahnärzte kriegen mehr Geld, und die Pharmaindustrie kriegt neue Schutzzäune und muss sich an der Konsolidierung der Krankenkassen nicht beteiligen. Das ist der Abschied von der Solidarität, den Sie insbesondere in der Kranken- und Pflegeversicherung einleiten!

Meine Damen und Herren, die Sekretärin und ihr Chef, der Konzernchef, zahlen am Ende dasselbe. Und Sie sagen, gerecht sei der Ausgleich über das Steuersystem. Ich frage die Damen und Herren von CDU und FDP, diese großen Haushälter: Wo ist eigentlich die Liste der FDP mit den Einsparmöglichkeiten geblieben, dieses dicke Buch, das Sie sonst immer hochgehalten haben?

(Stefan Wenzel [GRÜNE]: Herr Dürr ist schon abgehauen! ? Hans-Werner Schwarz [FDP]: Weil alles schon einmal gesagt wurde! Das hat Herr Wenzel doch alles schon erzählt!)

Haben Sie das eigentlich eingestampft, ehe Sie in die Koalitionsverhandlungen gegangen sind? Der soziale Ausgleich kostet mindestens 20 Milliarden Euro. Wie wollen Sie den finanzieren? Wollen Sie noch einmal 20 Milliarden Euro auf den Schuldenberg packen, weil es schon nicht mehr darauf ankommt? "Heidewitzka, Schulden machen, bis der Arzt kommt" ? das ist Ihre Devise.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Die Süddeutsche Zeitung hat zu der Gesundheitsprämie geschrieben: "Die Zoff-Pauschale wird die Koalition noch beschäftigen." Ehrlich gesagt, meine Damen und Herren: Das glaube ich auch.

Insgesamt hätte ich wirklich gedacht ? irgendwie bin ich manchmal doch noch Optimistin, vielleicht auch Idealistin ?, dass eine Partei, die das "C" im Namen führt, sich ein bisschen mehr daran orientiert. Ich finde auch, dass in Krisenzeiten die Bibel vielleicht die  bessere Orientierung ist als die Einflüsterungen der Lobbygruppen.

(Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

So möchte ich zum Abschluss an Matthäus 12, 24 erinnern ? das hätte in den Verhandlungen ein Motto für Sie sein können ?: "Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme." Daran habe Sie sich nicht orientiert, meine Damen und Herren; denn leider ist es mit Ihnen ja so: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP sozial ist.

Herzlichen Dank.

(Starker Beifall bei den GRÜNEN und lebhafter Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

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