Rede Ursula Helmhold: Der demografische Wandel erfordert eine andere Politik

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Anrede,
demografische Veränderungen haben einen langen Vorlauf und sind mit hoher Sicherheit vorhersagbar.
Die Bevölkerung der Bundesrepublik wird bis zum Jahr 2050 um 10 Millionen bis 30 Millionen Menschen schrumpfen, der Unterschied hängt allein vom Maß der Zuwanderung ab.
Wenn wir uns die Konsequenzen dieser Entwicklung verdeutlichen, sind nicht nur eine noch grundsätzlichere Gesundheitsreform und eine völlige Neuordnung unseres Rentensystems erforderlich. Die gesamte Gesellschaft und die Wirtschaft stehen vor radikalen Umwälzungen. Deutschland wird sich in den kommenden Jahrzehnten von Grund auf verändern. Diese Veränderungen betreffen praktisch alle Bereiche unseres Lebens: Schulen, Hochschulen, Regional- und Städteplanung, Gesundheitsversorgung, Pflege, Industrie, Handel und Immobilienwirtschaft, um nur einige zu nennen.
Das Problem steigert sich noch, wenn ab 2020 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und damit die Veränderung des Altersaufbaus der Bevölkerung in diesem Bereich voll durchschlagen. Wir brauchen zukünftig eine gerechtere Lastenverteilung, bei der starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern, aber klar ist, dass solche Maßnahmen allein uns nicht helfen.
Auch die Bundesländer sind gefordert sich strategisch auf den demografischen Wandel einzustellen, der längst auf Jahrzehnte unumkehrbar im Gange ist.
Wir dürfen uns als Landtag davor nicht wegducken, wie die Landesregierung es derzeit noch versucht. Es nützt Niedersachsen nicht, dass wir mit Dörpen im Emsland mit 34,1 Jahren die jüngste Gemeinde haben, denn wir haben gleichzeitig mit Bad Eilsen und einem Altersdurchschnitt von 55 Jahren auch die älteste Stadt Deutschlands. Wir müssen jetzt in Niedersachsen gegensteuern und nicht abwarten.
Bevölkerungsabnahme und Steuerzahlerschwund könnten zukünftig einen einseitigen Wettbewerb der starken Kommunen gegen die schwächeren Regionen um Einwohner und Steuerkraft entfachen. Schon hat Hamburg gegen alle demografischen Prognosen für die eigene Entwicklung das Ziel "wachsende Stadt" ausgegeben. Würde dieses Beispiel direkt an der niedersächsischen Landesgrenze Schule machen, begänne ein gnadenloser Ansiedlungswettbewerb bei dem viel Steuergeld verbrannt würde, weil es allen um die gleichen, immer weniger werdenden Menschen und Betriebe geht.
Wir Grüne setzen dagegen auf eine innovative Eigenentwicklung Niedersachsens. Wir wollen die geringer werdenden Finanzen und Infrastrukturangebote bei sinkender Bevölkerungszahl stärker bündeln. Dafür brauchen wir dringend mehr interkommunale Zusammenarbeit und die kreisübergreifende Bildung von Regionen. Die Landesregierung tabuisiert die Gebietsreform und steckt damit den Kopf in den Sand.
In Sachsen dagegen betreibt die dortige CDU Landesregierung gerade offensiv eine umfassende Gebietsreform hin zu Großkreisen.
Ebenso kurzsichtig ist die Haltung von Ministerpräsident Wulff zur Regionalplanung. Seit seiner Regierungsübernahme führt diese ein Schattendasein und wird nicht als gestaltendes Instrument zur übergreifenden Klärung widersprechender Entwicklungswünsche gestärkt.
Wer zukünftig allen BürgerInnen eine ausreichende Grundversorgung sichern will, braucht im demografischen Umbruch die Möglichkeit zur Beschränkung auf das in zentralen Orten Bezahlbare. Dabei sind die bisherigen zentralen Orte sowohl auf ausreichende Präsenz in der Fläche, als auch auf unwirtschaftliche, redundante Dopplungen zu überprüfen.
Auch bei der Verkehrsinfrastruktur wird der demografische Wandel neue Denkweisen erzwingen. Die unterfinanzierte Bauunterhaltung der vergangenen Jahrzehnte wird schon in wenigen Jahren alle verfügbaren öffentlichen Ressourcen binden, und manche unsinnigen Bauprojekte wie die A22 unmöglich machen. Es ist einfach nicht sinnvoll neue Autobahnen zu bauen, wenn man das vorhandene Straßennetz schon nicht mehr in Ordnung halten kann. Wir wollen jedenfalls die Bürgerinnen und Bürger nicht zusätzlich zur Kasse bitten durch höhere Steuern oder eine teure PKW Maut, damit diese Luftschlösser trotz Bevölkerungsrückgangs noch reifen.
Anrede,
Kreativität wird aber auch beim Öffentlichen Personennahverkehr gefordert sein. Gute Anbindungen bleiben nur dort finanzierbar, wo die Siedlungsstruktur konsequent darauf ausgerichtet wird. Alle weiteren Zersiedlungstendenzen müssen zum Schutz der kommunalen Kassen, aber auch zum Schutz der "Häuslebauer", deren entlegene Liegenschaften vielleicht schon in 20 Jahren unverkäuflich sein könnten, verhindert werden. In den dünn besiedelten Bereichen unseres Landes müssen wir den ÖPNV ohnehin mit flexiblen und nachfrageorientierten Konzepten fast neu erfinden. Absehbar ist jetzt schon, dass die Schülerbeförderung wegen des Rückgangs der Schülerzahlen nicht mehr bezahlbar ist.
Es ist kontraproduktiv, meine Damen und Herren von CDU und FDP, wenn Sie versuchen diese Probleme in Schrumpfungsregionen mit Subventionen zu kaschieren. Das behindert die notwendige Eigeninitiative zur Umorganisation. Wenn sich allerdings tragfähige innovative Ansätze vor Ort entwickeln, ist eine temporäre Anschubfinanzierung auch in Zukunft unverzichtbar. Eine Förderung nach dem Gießkannenprinzip ist aber in Zukunft sicher nicht mehr bezahlbar.
Anrede,
der Herausforderung durch die demografische Entwicklung muss aktiv und planvoll begegnet werden. Dafür ist es erforderlich durch die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Erarbeitung der Lösungsansätze die Mitwirkungsbereitschaft und das Problembewusstsein insgesamt zu stärken. Andere Bundesländer sind auch in diesem Feld weiter und haben wie zum Beispiel in Schleswig-Holstein bereits umfangreiche Strategiekonzepte erarbeiten lassen. Das Land Niedersachsen muss aufholen.
Wir Grüne schlagen vor, bei einem Fachsymposium - zusammen mit den Kommunen, der Wirtschaft und wichtigen gesellschaftlichen Gruppen - in allen Politikfeldern, die in Niedersachsen relevanten Aspekte und Gestaltungsmöglichkeiten der demografischen Entwicklung herauszuarbeiten. Die Steuerung der politischen, administrativen und gesellschaftlichen Gegenmaßnahmen zur Milderung der demografischen Auswirkungen ließe sich mit einem Runden Tisch "Die demografische Herausforderung gestalten" am effektivsten und am besten gesellschaftlich eingebunden erreichen.
Anrede,
es wäre eine ungeheure Vergeudung von öffentlichen Mitteln und ein fataler Wettbewerbsnachteil für die Zukunft des Landes, wenn jetzt nicht gemeinsam steuernd auf diese absehbaren Entwicklungen reagiert wird.

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