Rede Ursula Helmhold: Alternativen zum Heim schaffen – Ambulante Wohnformen weiter ausbauen

 

Anrede,

auch wenn  sowohl im SGB IX als auch im SGB XII der Vorrang der ambulanten Hilfen hervorgehoben wird, hat sich in der Praxis dieser Reformansatz bislang noch nicht in ausreichendem Maße durchsetzen können. Wir sind gerade in der Eingliederungshilfe leider noch weit von einer Umsetzung des gesetzlich gebotenen Wunsch- und Wahlrechts für behinderte Menschen entfernt.

Stattdessen findet die stationäre Einweisung der Betroffenen immer noch viel zu leichtfertig statt – weil in vielen Orten Alternativen fehlen!

Parallel dazu geht der seit Anfang der 90er Jahre festzustellende massive Ausgabenzuwachs bei der Unterbringung in stationären Einrichtungen ungehindert weiter.

Insbesondere seit die Eingliederungshilfe durch den Wechsel der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in das ALG II aus dem Schatten der anderen Sozialhilfeausgaben herausgetreten ist, ist die Eingliederungshilfe als bedeutender Kostenblock in den Blick der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger geraten.

Unbestreitbar ist ein enormer Ausgabenzuwachs bei dieser Leistung. Zwischen 1994 und 2002 betrug der Anstieg jährlich 5,8% und es ist in den nächsten Jahren mit einem weiteren signifikanten Anstieg zur rechnen. Der medizinische Fortschritt und die moderne Betreuung tragen dazu bei, dass heutzutage auch sehr schwer und mehrfach behinderte Menschen ein normales Lebensalter erreichen. Die Zahl der über 60jährigen Menschen mit Behinderung steigt kontinuierlich und wird sich bis 2014 verdoppeln. Das liegt auch daran, dass nach der Euthanasie in der Nazizeit erstmalig wieder komplette Jahrgänge von behinderten Menschen das Rentenalter erreichen.

In Niedersachsen haben wir allein in den Werkstätten mittlerweile 25.000 Menschen mit Behinderungen, ca. 20.000 behinderte Menschen leben in stationären Einrichtungen, ca. 4.500 werden ambulant betreut, viele leben noch bei ihren Eltern. Der Landeshaushalt 2006 setzt für die Eingliederungshilfe fast 1,3 Milliarden Euro an, das ist mehr als die Hälfte des Sozialhaushalts. Die Nettoausgaben steigen jährlich um rund 50 Millionen Euro, und das trotz vollzogener Nullrunden bei den Pflegesätzen seit 2004.

Diese Entwicklung führt seit Jahren zu immer weiter reichenden Sparvorschlägen der Bundesländer und Kommunen.

So schlug z.B. das von Bayern eingebrachte kommunale Entlastungsgesetz (KEG) vor, dass die Ausgaben je nach Kassenlage gedeckelt werden sollen.

Daneben häufen sich aus den Ländern Sparvorschläge, Eingliederungsleistungen nur noch Bedürftigen zukommen zu lassen. Dies würde den Ansatz des SGB IX konterkarieren, Behinderungen nicht mehr als individuelle Notlage zu verstehen. Die Chance auf Integration würde damit vom individuellen Einkommen und Vermögen, also von der Bedürftigkeit abhängig gemacht.

Anrede,

wir müssen uns, wenn wir über die Zukunft der Eingliederungshilfe sprechen, darüber im Klaren sein, das die Zahl der Menschen mit Betreuungsbedarf in den nächsten Jahren kontinuierlich weiter steigen wird. Unsere Position ist es, die dringend notwendige Weiterentwicklung der Qualität der Eingliederungshilfe mit einer Reform auf der Ausgabenseite zu verbinden.

Wir wollen behinderte Menschen in ihrem Wunsch nach einer selbstständigen und möglichst selbstbestimmten Lebensführung zu stärken und die dafür notwendigen Strukturen in der Eingliederungshilfe zu schaffen.

Dazu gehört auch die Umsetzung des Vorrangs außerstationärer Wohnformen. Und um der Legendenbildung gleich vorzubeugen: Dieser Vorrang bedeutet nicht, dass stationäre Hilfe, über deren Form allerdings auch geredet werden muss, in der Zukunft völlig überflüssig wird. Uns geht es darum, dass immer noch viele behinderte Menschen in den stationären Einrichtungen fehl am Platze sind und unter anderen Bedingungen auch ambulant betreut oder selbstständig leben könnten.

Niedersachsen nimmt bundesweit zum Beispiel eine Spitzenstellung bei den Heimunterbringungen von Menschen mit seelischen Behinderungen ein. Laut Tätigkeitsbericht des Ausschusses für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung für das Jahr 2002 soll gegenüber dem Bundesschnitt von 4,4 Heimunterbringungen auf 10.000 Einwohner diese Zahl in Niedersachsen bei 14,4 Heimunterbringungen liegen.

Niedersachsen – und das beklage ich her ausdrücklich – ist in diesem Feld der Sozialpolitik bisher wenig kreativ und orientiert seine Politik bisher vorwiegend an den Interessen der gewachsenen Trägerlandschaften. Ist diese Einstellung zukunftsweisend? Ich meine: nein!

Die Frage lautet also: Wie kann eine weitere Ambulantisierung der Hilfestrukturenaussehen, die zugleich Qualität im Interesse behinderter Menschen bietet, aber auch zu Kostendämpfungen beim Anstieg der Eingliederungshilfe führen könnte?

Besonders spannend finde ich in diesem Zusammenhang das Modell der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen, die gemeinsam mit der freien Wohlfahrtspflege bis Ende 2008 rund 3500 behinderten Menschen, das sind rund 9% der derzeit in Heimen lebenden, ein Leben in der eigenen Wohnung ermöglichen und gleichzeitig 2000 Heimplätze abbauen will.

Dies ist ein wirklich innovativer Ansatz, denn er verbindet das Ziel mit einer Förderung des selbstbestimmten Lebens in der eigenen Wohnung mit einer Dämpfung der stationäre Kosten Begleitet wird dieses Konzept mit erfolgsabhängigen Sonderzahlungen an die Einrichtungen, die stationäre Plätze abbauen und Alternative aufbauen. Dazu erhalten die behinderten Menschen, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, ein Startgeld.

Mit dem persönlichen Budget haben wir seit der von der damaligen rotgrünen Bundesregierung beschlossenen Reform der Sozialgesetzbücher IX und XII ein zusätzliches Instrument zur Förderung des selbstbestimmten Lebens von Menschen mit Behinderungen geschaffen. Die Modellversuche in Niedersachsen sind mit Ausnahme Braunschweigs leider von eher zaghafter Resonanz gewesen. Nun ist die flächendeckende Einführung geplant, verläuft aber noch schleppend. Wir werden dieses Vorhaben politisch intensiv begleiten und fordern hierzu auch die Umsetzung des kostenträgerübergreifenden Persönlichen Budgets.

Anrede,

in der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte sind wir längst weiter: wir haben dort die sozialpsychiatrischen Verbünde, wir haben Hilfeplanverfahren, Hilfekonferenzen, Kriseninterventionszentren und tagesstrukturierende Angebote. Alles dies muss endlich auch für Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, die selbstständig wohnen wollen, umgesetzt werden. Und alles dies muss die Öffentliche Hand, wie man in Nordrhein-Westfalen beobachten kann, nicht mehr kosten, sondern kann auch mit den Ersparnissen des Umbaus der Eingliederungshilfe finanziert werden.
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