Rede Stefan Wenzel: Atomkraftwerke in Niedersachsen: Studie zu Krebserkrankungen bei Kindern zwingt zum Handeln - Wirkung von Niedrigstrahlung neu bewerten!

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach der Kinderkrebsstudie des Bundesamts für Strahlenschutz können die Aufsichtsbehörden nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

(Zustimmung von Miriam Staudte [GRÜNE])

Zum ersten Mal ist der Zusammenhang zwischen der Nähe des Wohnortes eines Kindes zum Atomkraftwerk und dem Risiko, an Leukämie zu erkranken, ganz eindeutig bewiesen. Diese Studie genügt höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen. Die Qualitätsprüfung des Bundesamtes für Strahlenschutz durch die Professoren Jöckel, Greiser und Hoffmann kam zu dem Ergebnis ? ich zitiere ?:

In der Kinderkrebsstudie wurde die bestmögliche Methodik angewendet, um die a priori formulierte Hypothese analytisch zu prüfen. Mit dem Hauptergebnis, nämlich dem negativen Abstandstrend, ist die Studienfrage für Deutschland abschließend beantwortet.

Das Bundesamt für Strahlenschutz kam in seiner Stellungnahme vom 21. April dieses Jahres zu den Aussagen, dass es einen eindeutigen statistisch signifikanten Zusammenhang mit der Entfernung des Wohnortes der Kinder zum Atomkraftwerk gibt, dass diese Ergebnisse gegen alle Sensitivitätsprüfungen stabil sind, dass es keinen Hinweis auf den Einfluss von Störgrößen gibt und dass sie strahlenbiologisch plausibel sind, weil hier zwar Leukämie auftritt, aber bislang keine ZNS-Tumore auftreten. Die Gutachter widersprechen der These, dass Radioaktivität für die gemessenen Effekte nicht verantwortlich sein könnte.

Die Gutachter des Bundesamtes für Strahlenschutz kommen zu dem Schluss, dass die Zahl der Leukämiefälle zudem deutlich höher ist, als von den Autoren der Studie zunächst bekannt gegeben. Demnach ist fast die Hälfte der Kinderkrebserkrankungen im Umkreis von 50 km um ein Atomkraftwerk auf die Nähe zu diesem Atomkraftwerk zurückzuführen. Die Gutachter sprechen hier von 121 bis 275 Kindern unter fünf Jahren im Zeitraum von 1980 bis 2003.

Meine Damen und Herren, im In- und  Ausland gab es bereits vorher eine ganze Reihe von Studien. Es gab u. a. die Meta-Analyse von Baker und Hoel von 2007 zu 17 Einzelstudien, die zwischen 1984 und 1997 angefertigt wurden. Darin ging es um 136 Atomkraftwerke in neun Ländern. Auch hier gibt es erhöhte Leukämieraten, insbesondere bei Kindern unter zehn Jahren. Dasselbe gilt bei drei Fallkontrollstudien, die sich auf die Umgebung von Sellafield/Windscale, La Hague und Pilgrim in Massachusetts/USA bezogen. Auch dort wurden ähnliche Trends gemessen.

Die Studie muss uns alarmieren. Ganz offensichtlich reichen bisherige Wirkanalysen nicht aus, um den Einfluss von Atomkraftwerken auf die Gesundheit von Kindern zu erklären. Viele Forschungsergebnisse zur Wirkung von Niedrigstrahlung beziehen sich auf Hiroshima und Nagasaki. Nach Tschernobyl wurde vieles unterlassen, was notwendig gewesen wäre. Eine Ursache könnte in den merkwürdigen Abkommen zwischen WHO und IAEA liegen, was die Handlungsfreiheit der WHO einschränkt. Diese Beschränkungen müssen endlich aufgehoben werden!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Gesundheitsschutz und Risikovorsorge müssen ganz offensichtlich neu bewertet werden. Eine Neubewertung der Risiken von Niedrigstrahlung muss insbesondere die Strahlenempfindlichkeit von Embryonen, von Säuglingen und von Kleinkindern berücksichtigen. Hier ist in der Vergangenheit viel zu oft nur der Erwachsene zum Maßstab genommen worden, oft nur der männliche Erwachsene. Auch Frauen sind deutlich sensibler gegen Strahlenbelastung.

(Professor Dr. Dr. Zielke [FDP]: Bitte?)

Es gibt Studien wie den Oxford Survey of Childhood Cancer zur Wirkung von Röntgenstrahlen. Auch diese deuten auf eine deutlich höhere Sensitivität bei Kindern hin. Das, meine Damen und Herren, muss endlich Grundlage für die Neubewertung von Risiken sein!

Kinder, die in der Umgebung von Atomkraftwerken leben, werden durch vielerlei Quellen belastet: einerseits durch natürliche Radioaktivität, andererseits durch die Strahlenbelastung durch diagnostisches Röntgen, durch die Exposition mit geringer Dosis, durch eine Mischexposition aus direkter Gammastrahlung und äußerer Gamma- und Betastrahlung sowie durch Alpha-, Beta- und Gammastrahlung durch inkorporierte Nuklide. In der Summe dieser Belastungen kommt es ganz offensichtlich zu Wirkungen, die bei der Erteilung von Betriebsgenehmigungen von Atomkraftwerken unterschätzt und falsch bewertet wurden. Das, meine Damen und Herren, muss endlich Konsequenzen haben!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nun liegt eine Studie vor, die uns zum Handeln zwingt.

Wir fordern die Landesregierung daher auf, die Atomkraftwerke in Niedersachsen einer Sonderprüfung zu unterziehen, dabei eine Beweislastumkehr vorzunehmen und zugleich das System der Strahlenüberwachung einer Generalrevision zu unterziehen. Die KiKK-Studie hat ein Ergebnis von außerordentlicher Tragweite. Herr Wulff ? er ist leider nicht anwesend ?,

(Dr. Bernd Althusmann [CDU]: Entschuldigt!)

Frau Ross-Luttmann, wir fordern die Landesregierung mit diesem Antrag auf, umgehend zu berichten, welche Schlüsse sie aus dieser Kinderkrebsstudie zieht und welche Konsequenzen sie bislang zum Schutz der Bevölkerung gezogen hat oder ziehen will.

Die Frage, vor der wir alle stehen, ist: Wollen Sie oder wollen einige von Ihnen wieder in die Schützengräben, oder lassen Sie sich auf eine sehr ernsthafte Debatte und eine sehr ernsthafte Analyse dieser Ergebnisse ein?

Wir haben in der letzten Wahlperiode gemeinsam ein Signal gesetzt, und zwar mit der Arbeit, die der Ausschuss zum Thema Leukämie in der Elbmarsch geleistet hat. Dort gab es einen hoffnungsvollen Ansatz, der von allen vier Fraktionen, die in der letzten Wahlperiode vertreten waren, mitgetragen wurde. Der Auftrag reicht in diese Wahlperiode hinein. Wir sind hier noch in der Arbeit. Wir könnten auf dieser Ebene aufbauen, auf dieser Ebene mit derselben Ernsthaftigkeit darangehen und Konsequenzen aus dieser Studie mit diesen besorgniserregenden Ergebnissen ziehen.

Meine Damen und Herren, wir sind es den Eltern der Kinder, aber letztlich allen Anwohnerinnen und Anwohnern von Atomkraftwerken oder anderen Anlagen, die mit radioaktiver Strahlung zu tun haben, schuldig, diese Herausforderung mit aller Ernsthaftigkeit und aller Konsequenz anzugehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

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