Rede Stefan Wenzel: Aktuelle Stunde "Werte im Wandel"

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland ist im Achtelfinale - dank Miroslav Klose, der seine Kindheit in Polen verbracht hat, dank David Odonkor, dessen Vater aus Ghana stammt, und dank Oliver Neuville, der in der Schweiz geboren ist.

(Präsident Jürgen Gansäuer übernimmt den Vorsitz)

Es ist gut, meine Damen und Herren, wie das Ereignis Fußballweltmeisterschaft bislang gefeiert wird. Alle haben gute Laune, überall Schwarz-Rot-Gold. Warum auch nicht? Es ist die deutsche Fahne, und wir sind Gastgeber.

Es liegt keine Gewalt in der Luft. Kein aggressiver Nationalismus bricht sich Bahn, sondern ein fröhlich gelassener weltoffener Patriotismus weht über das Land.

Diese WM gehört den toleranten, fröhlichen und weltoffenen Deutschen und ihren Gästen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Zustimmung von Dr. Philipp Rösler [FDP])

Meine Damen und Herren, aber auch manch Konservativer erfährt zurzeit, dass das Land viel moderner, weltoffener, toleranter und auch gelassener geworden ist, als ihm viele nachgesagt haben. Es ist auch gefühlvoller geworden. In einer Zeitung war sogar von einem "Sommer der Liebe" die Rede. Wer glaubt noch daran in Niedersachsen 39 Jahre nach Woodstock?

(Heiterkeit bei allen Fraktionen)

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Lo  / 21.06.2006 PL

Meine Damen und Herren, die Debatte in Gesellschaft und Wissenschaft über veränderte Werte und sich wandelnde Moralbegriffe war zu allen Zeiten heftig. Die Konservativen sahen im Wertewandel, der mit den gesellschaftlichen Bewegungen der späten Sechziger eingeleitet wurde, schlicht den kontinuierlichen Werteverfall. Die Kritiker dieser konservativen Auslegung verstanden Wertewandel dagegen als zentrale Voraussetzung für Fortschritt in modernen Gesellschaften. Und die Geschichte hat Letzteren Recht gegeben.

Selbstentfaltung, Toleranz und Freiheit als zentrale Wertvorstellungen sind längst zum Schlüssel für das Funktionieren unserer Gesellschaft geworden. Umso kurioser ist, dass das selbsternannte bürgerliche Lager in unserem Land noch immer einen Wertekanon hoch hält, der in vielen Teilen nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmt und selbst von vielen derjenigen nicht mehr gelebt wird, werte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, die ihn mit ihren eigenen politischen Entscheidungen immer noch propagieren.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Am deutlichsten wird das in der Familienpolitik. Es ist unglaubwürdig, sich gegen die Homoehe auszusprechen, wenn in den eigenen Reihen längst bekennende Homosexuelle an exponierter Stelle Politik machen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Es ist unglaubwürdig, meine Damen und Herren, gegen die Abschaffung des Ehegattensplittings zu agitieren und so zu tun, als gäbe es in den eigenen Reihen keine alleinerziehenden Mütter und Väter, keine unehelichen Kinder und keine Patchworkfamilien.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Es ist unglaubwürdig, die Ehe als Wert an sich zu betrachten, sich aber selbst den Fährnissen des Lebens wie Partnerwechsel oder Scheidung nicht entziehen zu können.

Meine Damen und Herren, Sie, die Konservativen, leben doch das Familienbild, das Sie anderen durch Ihre Familienpolitik verordnen wollen, selbst nicht mehr.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

Sie sind selbst mit Ihren Lebensentwürfen nichts anders als die Kinder der 68-er, nur dass Sie sich noch in der Trotzphase befinden

(Heiterkeit und Beifall bei den GRÜNEN und Zustimmung bei der SPD)

und nicht wahrhaben wollen, dass die, die von Ihnen gescholten wurden, vielleicht doch nicht so ganz Unrecht hatten. Dass man sich schwer tut, einzugestehen, dass die Elterngeneration manches erreicht hat, was gut und richtig ist, kann vorkommen ? ich würde das spätpubertär nennen ?, aber wenn das zur Geisteshaltung einer Partei wird, dann wird es gefährlich.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Denn faktisch blockieren Sie die Anpassung der Sozial- und Familienpolitik an die realen Verhältnisse und an künftige Herausforderungen, und letztlich fällt diese bigotte Haltung auch auf Sie selbst zurück.

(Bernd Althusmann [CDU]: Er hat zu viel Sigmund Freud gelesen!)

"Schwul, geschieden, getrennt - Das Privatleben der CDU-Granden beweist: Die konservativen Dämme gegen Kulturrevolte und Hedonismus sind gebrochen", schrieb Franz Walter letzte Woche in der Welt.

Dann noch ein Wort zu dem, was politisch und was privat ist: Gerade in der niedersächsischen Politik sind in der jüngeren Geschichte viele Exempel statuiert worden, die eigentlich heilsame Erfahrungen liefern sollten, nicht zuletzt mit Gerhard Schröder, aber auch von Nachfolgern auf der Ministerbank und dem Ministerpräsidentenstuhl. Wenn man in der Politik darum bittet, sein Privatleben, seine Familie und seinen Feierabend in Frieden zu lassen, dann darf derjenige nicht zur gleichen Zeit darum buhlen, dass sein Privatleben, seine Familie und sein Feierabend dazu beitragen, die Zustimmung zu seiner Partei zu heben.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Wer um Zurückhaltung bittet ? ? ?

Präsident Jürgen Gansäuer:

Herr Kollege Wenzel, Sie müssen zum Schluss kommen! Sie haben Ihre Redezeit schon erheblich überzogen.

Stefan Wenzel (GRÜNE):

Letzter Satz: Wer um Zurückhaltung fleht, bittet nicht per Handy zum Fototermin. - Herzlichen Dank!

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

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