Rede Stefan Wenzel: Aktuelle Stunde „Atomkraft vor dem Aus – „die Geschichte einer Lüge, die mit immer neuen Lügen umstellt wurde (Die Zeit, 10.09.2009)

Stefan Wenzel (GRÜNE

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Geschichte der Atomenergie ist die Geschichte einer Jahrhundertlüge. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde uns die Atomkraft mit Heilserwartungen verkauft: Wüsten sollten begrünt werden, unendliche Energiequellen, ewiges Licht, Wärme, Glück sollten entstehen ? alles wurde damit verbunden.

Heute wissen wir es besser. Die Geschichte der Atomenergie ist eine Geschichte des technischen Scheiterns: Kalkar, Hamm-Uentrop, Karlsruhe, Jülich und Morsleben heißen die Reste ? eine Kette von unendlich teuren Forschungs- und Industrieruinen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Und die Asse, das Endlager für schwach- und mittelradioaktiven Atommüll als Versuchsendlager für Gorleben? ? "Sicher für alle Zeiten", hat es 1969 geheißen. Fast ein halbes Jahrhundert haben sich eine blinde Politik, verantwortungslose Wissenschaftler und eine geld- und machtgierige Atomwirtschaft etabliert, die uns jetzt mit dem Ergebnis ihres Scheiterns konfrontieren. Niemand von uns kennt bis heute die wahren Ausmaße. Niemand kann das Desaster in seinem ganzen Umfang ermessen. Und wer wie CDU und FDP, Herr Thiele, in dieser Situation weiter ungebrochen auf Atomkraft setzt, auf Laufzeitverlängerungen und sogar auf den Neubau von atomaren Anlagen, der macht sich weiter schuldig.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Karl-Heinrich Langspecht [CDU]: Wer sagt das denn?)

Meine Damen und Herren, ich frage die Kollegen von CDU und FDP: Was muss eigentlich noch passieren, damit Ihre Ideologie von der Einsicht besiegt wird, dass Atomkraft niemals das Glück der Menschheit war und wird, sondern dass damit am Ende sogar die Gefahr ihres Untergangs verbunden sein kann?

(Editha Lorberg [CDU]: Das sagt auch kein Mensch!)

Meine Damen und Herren, aus der nunmehr 30-jährigen Auseinandersetzung um den Salzstock Gorleben und das dort geplante Atommülllager lassen sich für verantwortungsvolle Politik meines Erachtens nur drei Lehren ziehen:

Erstens. Wer so schamlos lügt und betrügt wie die Wissenschaftler und Industrievertreter, die Gorleben über Jahre als sicher verkauft haben, der scheitert auf ganzer Linie.

Zweitens. Das Vertuschen der wahren Gründe für die Auswahl von Gorleben, die manipulierten Gutachten und der Verzicht auf Bürgerbeteiligungen haben das Vertrauen in Staat, Regierung und wissenschaftliche Einrichtungen tief zerstört.

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wet  / 23.09.2009 / stk

Drittens. Die Fehler und Versäumnisse sind nicht heilbar. Ohne einen völligen Neubeginn wird es keinen Frieden in der Gesellschaft geben können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In Gorleben verantwortet der Staat einen 30?jährigen Konflikt, der manchmal fast an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnert, wenn Zehntausende von Polizisten tagelang den Landkreis besetzen, um Müll in eine oberirdische Halle zu transportieren.

Meine Damen und Herren, unsere Demokratie droht an der Atommüllfrage zu scheitern.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Regierungen und Parlamente haben ihre Gestaltungsmacht in dieser Frage schon verloren.

Herr Ministerpräsident Wulff, in Ihrer Heimatstadt wurde nach einem 30?jährigen Konflikt einst ein historischer Frieden begründet. Zum Glück reden wir heute nicht über Krieg. Aber wir reden über einen 30?jährigen gesellschaftlichen Konflikt zwischen den Interessen von Regierungen und Atomindustrie auf der einen Seite und den Anwohnerinnen und Anwohnern vor Ort und vielen Menschen in diesem Land auf der anderen Seite. Nach den Enthüllungen der letzten Wochen und Monate stehen wir mehr denn je vor einer tiefgreifenden Vertrauenskrise. Auch in der Atomfrage ist es überfällig, endlich über einen historischen Frieden zu sprechen.

Meine Damen und Herren, Herr Wulff, Sie und Ihre Regierung haben die Wahl: Sie können jetzt in die Ahnengalerie der unbelehrbaren Atombefürworter eingehen und damit die Politik des Scheiterns in dieser Frage fortsetzen. Sie können aber auch endlich einen Schlussstrich unter die Atomlüge ziehen und den Menschen in Niedersachsen beweisen, dass man ihre Sorgen und Ängste tatsächlich ernst nimmt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, für den Umgang mit dem atomaren Müll, mit dem Stoff, der Zehntausende von Generationen überdauert, für den Umgang mit Plutonium, dem Ultragift, taugt am Ende keine Mehrheit, die nur für vier oder fünf Jahre legitimiert ist. Eine Bewältigung dieses Problems wird es ohne Verständigung in der Gesellschaft ? das heißt auch: ohne Verständigung über Parteigrenzen hinweg ? nicht geben. Nur einmal hat es bislang den Beginn für einen solchen Konsens gegeben; unter Rot-Grün wurden die Verträge dafür unterzeichnet.

(Zuruf von Karl-Heinrich Langspecht [CDU])

Man kann diesen Konsens kritisieren. Man kann davon sprechen, dass dieser Konsens nur ein halber war, Herr Langspecht,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

weil für die entscheidende Frage einer neuen Endlagersuche nicht die entsprechenden Weichen gestellt wurden. Man kann dies kritisieren; aber die Konsequenz aus dieser Kritik kann nicht sein, den halben Konsens aufzukündigen, sondern sie muss heißen, aus dem halben Konsens einen ganzen Konsens zu machen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Herr Ministerpräsident Wulff, es war ein niedersächsischer CDU-Minister­präsident, der die Entscheidung für Gorleben gefällt hat. Es könnte wiederum ein niedersächsischer CDU-Ministerpräsident sein, der diesen historischen Fehler korrigiert. Herr Wulff, Sie haben es mit in der Hand, Sie können maßgeblich dazu beitragen, den Konflikt um Gorleben zu beenden. Deshalb appellieren wir an Sie: Kehren Sie um, leisten Sie Ihren Beitrag für eine nationale Verständigung in dieser Kernfrage für unsere Gesellschaft, helfen Sie mit, vom Land Niedersachsen Schaden abzuwenden, und erklären Sie für diese Regierung, dass das Endlagerprojekt in Gorleben gescheitert ist!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Zweite Wortmeldung

Stefan Wenzel (GRÜNE

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Langspecht, Herr Dürr, Herr Bäumer, Sie haben sich hier über diesen Tagesordnungspunkt sehr erregt. Man muss aber zum einen feststellen, dass es bedauerlich ist, dass Sie hier einfach Ihre vorbereiteten Reden gehalten haben und auf die Vorredner im Wesentlichen nicht eingegangen sind.

Zum anderen haben Sie hier erneut versucht, Ihre Wahrheiten zu verkaufen. Sie behaupten nach wie vor, dass Atomkraft CO2-frei ist. Meine Damen und Herren, das ist nicht nur wissenschaftlich falsch, sondern das ist auch eine politische Lüge, wenn man das behauptet; denn wir wissen heute ganz genau, dass es anders ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wissen, dass z. B. eine Energieversorgung mit Wind- und Blockheizkraftwerken, so wie man das in Dänemark ganz energisch angegangen ist, am Ende nur halb so viel CO2 produziert wie ein Atomkraftwerk, weil man immer die gesamte Kette dieser Technologie angucken muss und nicht nur ein kleines Fitzelchen herausnehmen darf.

Meine Damen und Herren, wenn Sie, Herr Bäumer, glauben, das, was wir hier in den letzten Wochen und Monaten erlebt haben, sei nur eine Inszenierung, dann rate ich Ihnen: Gehen Sie nach Wolfenbüttel! Gehen Sie nach Remlingen! Sprechen Sie mit den Menschen dort vor Ort, die über Jahre hinweg in dieser Frage belogen und betrogen wurden, dass sich die Balken biegen! Und, meine Damen und Herren, Herr Bäumer, Herr Langspecht und Herr Dürr, gehen Sie ins Wendland und sprechen Sie mit den Menschen, denen man damals erzählt hat, in dem PTB-Gutachten von 1983 sei die Wahrheit abgebildet!

Herr Röthemeyer hat jetzt schon wieder einen Rückzieher gemacht. Er hat sich noch vor wenigen Monaten ganz anders eingelassen und hat gesagt: Als diese Herren aus dem Kanzleramt und den Bundesministerien ? Herr Hanning, der heute Staatssekretär ist, Herr Ziegler aus dem Bundesforschungsministerium und zwei Herren aus dem Bundesinnenministerium ? an dem Gespräch in Hannover bei der BGR teilgenommen haben, war allen im Raum klar, dass es sich um eine Weisung handelte. Entsprechend wurde das umgesetzt.

Meine Damen und Herren, dabei ging es nicht um Randnotizen. Da ging es nicht um didaktische Anmerkungen, als es um den Standort Gorleben ging. Dort hat man in der Substanz verändert. Das ist ganz eindeutig nachgewiesen. Dort hat man z. B. Hinweise auf Verbindungen zum Grundwasser beseitigt. Dort hat man am Ende gesagt: Die Eignungshöffigkeit ist voll bestätigt. ? In der Ursprungsfassung hieß es: Die Bewertung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. ? Hier hat man nach Strich und Faden manipuliert, meine Damen und Herren, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Die Atomkraft und das, was Sie hier von sich geben, sind die Geschichte einer Lüge,

(Björn Thümler [CDU]: Schon wieder dieses Wort! Das geht nicht!)

bei der CDU und FDP immer wieder behaupten: Atomkraft ist sicher. ? Ich sage Ihnen: Spätestens nach Tschernobyl, spätestens nach der Asse ist diese Lüge erkannt. Sie werden in diesem Land niemanden mehr damit überzeugen.

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle noch einmal den Ministerpräsidenten fragen, ob er bereit ist, auf die Fragen zu antworten, die ich ihm heute Morgen gestellt habe.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

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