Rede Stefan Wenzel: Abgabe einer Regierungserklärung zum Thema „Integration in Niedersachsen“

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Herr Präsident, meine Damen und Herren, Herr Minister Schünemann,

Ihre Worte haben wir wohl vernommen. Aber ich will Ihnen sagen, warum Ihr Vortrag nicht glaubwürdig ist:

Jahrzehntelang haben Sie und Ihresgleichen es leugnen wollen, dass Deutschland längst zum Einwanderungsland geworden ist. Jetzt wollen Sie uns weismachen, dass mit CDU und FDP alles gut wird.
Sie finden kein Wort der Nachdenklichkeit, kein Wort der Selbstkritik. Sie glauben keine Fehler gemacht zu haben. Deshalb sind Ihr Vortrag und Ihre Politik unglaubwürdig.

Es ist nicht so, dass wir Ihre heutige Regierungserklärung nicht verstehen:
Sie wollen einen Imagewechsel. Und den haben Sie auch bitter nötig.

Aber Sie werden diesen Imagewechsel nicht hinbekommen.
Weil Integration für Sie eine Verwaltungsaufgabe ist und nicht eine Herzenssache.
Für Sie geht es um Gesetze, um Kosten, um Sicherheitsaspekte, um volkswirtschaftliche Erwägungen.

Aber es geht Ihnen nicht um die Menschen.

Mit keinem Wort sprechen Sie über die Hintergründe von Flucht und Zuwanderung, Sie sprechen nicht über die Ungerechtigkeit, nicht über das Nord-Süd-Gefälle, nicht über moralische Verpflichtungen und nicht über Humanität.

Sie addieren Maßnahmen, Arbeitskreise und Erlasse – aber unterm Strich kommt keine Menschlichkeit zustande.
Sie lassen jetzt Ihren Apparat heiß laufen, aber das Herz bleibt kalt.

Anrede,

Sie haben sich bislang durch eine Politik ausgezeichnet, die gut integrierte und oft auch gut ausgebildete junge Menschen in Länder abgeschoben hat, deren Sprache und Kultur sie nur aus Erzählungen ihrer Eltern kennen.

Sie haben den Handlungsspielraum der Ausländerbehörden durch Erlasse und Weisungen immer weiter eingeschränkt und die gnadenlose Abschiebung von Menschen durchgesetzt, die oft in Deutschland geboren wurden und weit mehr als ein Jahrzehnt hier gelebt haben.

Anrede,

Deutschland ist ein Einwanderungsland - diese Erkenntnis reift auch in konservativen Kreisen immer mehr. Es war Adenauer, der den deutschen Arbeitsmarkt für die ersten so genannten "Gastarbeiter" geöffnet hat.

Aber es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis die Union akzeptiert hat, dass sie nicht Arbeiter waren, sondern dass Menschen kamen, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Heute sind wir ein multikulturell geprägtes Land, so wie viele andere westliche Industrieländer. Mittlerweile wird dieser Tatbestand auch von einzelnen Ministern der Union und auch von Leitartiklern der FAZ nicht mehr in Frage gestellt. Gleichwohl haben Sie versucht diesen Begriff immer mehr zu einem Kampfbegriff werden zu lassen, der die Grenzen dessen markieren soll, was Sie nicht mehr für zumutbar halten.

In Ihrer Rede verwahren Sie sich denn auch gegen eine Interpretation dieses Begriffes durch unsere Parteivorsitzende Claudia Roth. Im selben Atemzug nehmen Sie aber positiven Bezug auf einen Begriff des amerikanischen Soziologen Amitai Etzioni, der von einer "Mosaik-Gesellschaft" spricht. Etzioni hat diesen Begriff in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung folgendermaßen abgegrenzt, ich zitiere "Die Bilder der beiden konträren Positionen sind vielsagend. Auf der einen Seite ist vom 'Schmelztiegel' die Rede, in dem alle Unterschiede eingeschmolzen werden; auf der anderen Seite wird von einer 'Salatschüssel' gesprochen, in der verschiedene Zutaten bunt zusammengewürfelt werden, aber jede ihre Farbe und ihr Aroma behält."

Sie können Multikulti also auch mit Mosaik übersetzen. Damit habe ich gar kein Problem. Im Kern meinen beide Begriffe dasselbe: Sie beschreiben die bundesrepublikanische Wirklichkeit.

Anrede,

jenseits dieser gelebten bundesrepublikanischen Wirklichkeit und dieser Diskussion über Begriffe stemmen Sie sich, Herr Wulff und Herr Schünemann, aber immer wieder gegen die notwendigen Konsequenzen, die eine echte Integration dieser Einwanderer und ihrer Kinder ermöglichen.

Die Zahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die die allgemeinbildende Schulen in Niedersachsen ohne Schulabschluss verlassen, ist doppelt so hoch wie bei ihren Klassenkameraden ohne Migrationshintergrund. In den letzten Jahren ist diese Zahl sogar noch angewachsen. Das dokumentiert ein dramatisches und beschämendes Versagen unseres Bildungssystems und der verantwortlichen Landesminister.
Die Zahl der Migranten, die Zugang zum öffentlich Dienst gefunden haben, sei es bei der Polizei, als Lehrer oder Sozialarbeiter ist immer noch völlig unterdurchschnittlich.

Anrede,

Sie, Herr Minister, reden von Integration. In der Praxis sind Sie aber hauptsächlich damit beschäftigt, die Einbürgerung von einbürgerungswilligen Menschen zu erschweren und allerlei Bedingungen zu erfinden, um die Einbürgerung hinauszuzögern oder zu erschweren.

Da ist Ihr CDU-Kollege aus NRW Minister Laschet schon weiter: "Jede Einbürgerung ist ein Integrationserfolg", sagt er der "ZEIT" und er hat Recht.
Die Einbürgerung steht daher auch nicht am Ende eines Integrationsweges - quasi als Belohnung.

Nein - die Einbürgerung steht am Anfang dieses Prozesses. Eine verantwortliche Integrationspolitik begegnet diesen Menschen auf Augenhöhe und mit Wertschätzung und stellt in allen Bereichen des öffentlichen Lebens sicher, dass Demütigungen unterbleiben und Gleichberechtigung durchgesetzt wird.

Anrede,

ich möchte, dass Niedersachsen weltoffener und toleranter wird.
Menschen aus anderen Regionen, anderen Ländern und Kulturen sind hier willkommen, nicht nur zur Fußballweltmeisterschaft.
Sie sollen respektvoll und freundlich aufgenommen werden. Egal ob sie als GastprofessorIn, StudentIn oder als Flüchtling kommen - sie sind eine Bereicherung für das Leben in diesem Land.

Anrede,

und kommen Sie mir bitte nicht mit ökonomischen Bedenken oder dem alten Lied über den Missbrauch von Sozialleistungen. Nur ein Hinweis: Die Bundesstatistiken über die Einzahlungen und Leistungen in und aus den Sozialkassen belegen, dass Einwanderer mehr zahlen als sie bekommen; also unser Sozialsystem entlasten und nicht belasten.
Viele Flüchtlinge beziehen nur deshalb Sozialleistungen, weil man ihnen das Arbeiten verboten und damit dumpfe Vorurteile bestätigt hat. Wer als Einwanderer oder Flüchtling anerkannt wird, ist im Zuwanderungsrecht geregelt. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Spielräumen, die Bund, Länder und Kommunen nutzen können.

Anrede,

mittlerweile hat auch die wirtschaftswissenschaftliche Debatte eine völlig neue Richtung genommen. Der Leiter des Berlin-Instituts Rainer Klingholz macht in neuen Untersuchungen deutlich, dass die demografische Entwicklung eine bislang völlig unterschätzte Bedeutung bei der wirtschaftichen Entwicklung hat. Bereits heute müssen wir erkennen, dass wir einerseits eine sehr hohe Arbeitslosigkeit von Menschen ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung haben und gleichzeitig einen sich verstärkenden Mangel an Fachkräften.

Auch deshalb ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir Zuwanderern und Kindern von Einwanderern die bestmöglichen Bildungschancen eröffnen. Neue Untersuchungen aus den USA, von DB Research und der OECD zeigen, dass die Länder künftig die Nase vorn haben werden, die in der Lage sind, Menschen aus anderen Ländern und Kulturen bestmöglich zu integrieren, ihre Ideen aufzunehmen und ihnen Chancen und Wege für erfolgreiche Bildungs- und Ausbildungsprozesse aufzuzeigen.

Anrede,

diese Prozesse werden von Ihnen, Herr Minister Schünemann, nach wie vor konterkariert. Bei Ihnen steht immer noch Abschreckung und Abschiebung im Vordergrund.

Anrede,

das halten wir für einen falschen Ansatz.
Wir wollen der Integrationspolitik unseres Landes eine neue Perspektive geben:
Wir halten es für notwendig, Zuwanderinnen und Zuwanderer von Beginn an als künftige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger anzuerkennen. Unser Ziel ist, dass sich mehr Zugewanderte für eine Einbürgerung entscheiden, weil sie sich mit dieser Gesellschaft und diesem Staat identifizieren. Eine solche Politik der Anerkennung ist endlich notwendig. Schließlich kann es sich keine demokratische Gesellschaft auf Dauer leisten, Teile ihrer Bevölkerung von der rechtlichen und politischen Teilhabe auszuschließen.

Anrede,

wir stellen die Integrationspolitik in Deutschland auf eine neue Grundlage:

Wir schlagen einen gesellschaftlichen Integrationsvertrag vor, der sich an alle am Integrationsprozess Beteiligten richtet: Ein umfassendes Angebot aufeinander abgestimmter Integrationsmaßnahmen soll die Teilhabechancen für Zugewanderte verbessern und ihnen ermöglichen, sich unserer Gesellschaftsordnung zu öffnen und ihren Teil zur Entwicklung des Landes beizutragen.

Anrede,

hierfür präsentieren wir in dem Beschluss unserer Bundestagsfraktion vom Mai 2006 einen so genannten Integrations-Fahrplan. Für die aus unserer Sicht 15 wichtigsten integrationspolitischen Handlungsfelder legen wir erstmals für alle am Integrationsprozess Beteiligten offen und transparent dar, welche Aufgabe ihnen zukommt:

  • So soll die aufnehmende Gesellschaft z. B. gesellschaftliche Mobilität und sozialen Aufstieg auch für Zuwanderinnen und Zuwanderer ermöglichen und fördern - und so Teilhabegerechtigkeit gewährleisten. Unsere Gesellschaft muss es sich zur ureigensten Aufgabe machen, alles zu tun, damit die künftigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger so bald wie möglich die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen.
  • Und von den hier dauerhaft lebenden Migrantinnen und Migranten erwarten wir, dass sie bereit sind, sich für unsere Gesellschaftsordnung zu öffnen und ihren Teil zur Entwicklung dieses Landes beizutragen: Hierzu gehört nicht nur der Erwerb der deutschen Sprache. Sie sollen auch das individuell Mögliche tun, um die Voraussetzungen für eine Einbürgerung selbstständig zu erfüllen. Wer selbstbestimmt hier leben will, muss auch anderen Menschen das Grundrecht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit zugestehen und darf sie z. B. nicht daran hindern, sich sozial, politisch, religiös oder kulturell weiter zu entwickeln und sich gegebenenfalls auch aus dem Zusammenhang der eigenen sozialen beziehungsweise kulturellen Gruppe zu lösen.

Anrede,

die Integrationspolitik unseres Landes benötigt einen neuen methodischen Ansatz.

Wir wollen gemeinsam mit den hier lebenden Migrantinnen und Migranten nach den Faktoren suchen, die Integrations- und Bildungserfolge bzw. beruflichen und sozialen Aufstieg fördern und klären, welche Hindernissen hierfür überwunden werden müssen.

Anrede,

wenn der CDU-Integrationsminister von NRW mit dem Grünen Daniel Cohn-Bendit beim Thema Integration gemeinsam Position bezieht, dann schrillen bei Ihnen die Alarmglocken. Das passt nicht in Ihr Weltbild.

Sie, Herr Minister Schünemann, führen hier im Auftrag ihres Herrn einen verdeckten Machtkampf im eigenen Lager.

Im Vorfeld des mehr als unglücklich vorbereiteten Integrationsgipfels wollen Sie Pflöcke einschlagen. Sie machen unmissverständlich klar, dass Sie keine sinnvolle Bleiberechtsregelung wollen, sondern, wie Sie schreiben "die konsequente Rückführung" von Menschen, die oft deutlich mehr als ein Jahrzehnt in Deutschland leben, von Kindern, die keine andere Heimat als Deutschland haben.

Individuelle Abschiebungshindernisse – sei es eine medizinische Indikation oder ein Bürgerkrieg im Heimatland – wollen Sie nicht mehr anerkennen. Längst haben Sie Ihren Ausländerbehörden verboten, diese Fragen zu prüfen.

Familien wollen Sie auseinander reißen, um Ihre Agenda durchzusetzen. Das Wörtchen "freiwillig" ist in diesem Zusammenhang unerträglich, weil Sie genau wissen, dass betroffene Familien sich nur unter großem Druck trennen ließen.

Dann spekulieren Sie noch über eine Begrenzung der Rechtsmittel und bedauern, dass bislang kein verfassungskonformer Weg zur Verfügung steht.

Anrede,

Herr Schünemann, wohl selten sind einem zuständigen Minister dermaßen die Leviten gelesen worden, wie es Ihnen durch Ihre eigene Ausländerbeauftragte Gabriele Erpenbeck wiederfahren ist. Und da hilft auch nicht der Versuch, Frau Erpenbeck heute durch abstrakte Lobpreisung in Ihrer Rede quasi für Ihre Politik einzuverleiben. Schärfer kann man all Ihre unseligen Vorhaben beim Bleiberecht nicht kritisieren und deshalb zitiere ich Frau Erpenbeck: "Die harten Schicksale von Einzelnen und vor allem von Familien mit Kindern, die in Deutschland seit Jahren mit einer Duldung leben, sind der Grund dafür, dass die Forderung nach einer Bleiberechtsregelung so laut und so weit verbreitet ist. ”¦ Von einer Bleiberechtsregelung sollen – so viele Innenminister – nur Geduldete profitieren, deren eigener Lebensunterhalt sichergestellt ist, die ihre Identität zu keiner Zeit verschleiert haben und die nicht straffällig geworden sind. ”¦ Eine solche Bleiberechtsregelung wäre weniger als halbherzig." (Zitatende)

Und Frau Erpenbeck schließt mit einer Forderung, der ich mich nur rückhaltlos anschließen kann: Geben Sie den 190.000 geduldeten Flüchtlingen in Deutschland ein Bleiberecht ohne Wenn und Aber! Springen Sie endlich über Ihren Schatten!

Anrede,

längst haben Sie das Feuer im eigenen Lager, weil soviel Härte alle Integrationsbemühungen konterkariert. Die Kirchen, Teile der Wirtschaft, Flüchtlingsinitiativen und Nachbarschaftsinitiativen stehen Ihnen auf den Füßen und mögen diesem Treiben nicht mehr zusehen.

Ihre erbarmungslose Abschiebepolitik mit dem Mäntelchen der Integration zu umhüllen, damit werden Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern Gott sei Dank nicht durchkommen.

Bei Zahra Kameli war es der Pilot, der Zivilcourage bewiesen hat und Sie werden wieder solche Fälle bekommen, wenn Sie so weitermachen.

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