Rede Rebecca Harms: Konsequenzen aus internationalen Bildungsvergleichen ziehen ? längere gemeinsame Schulzeit und bessere individuelle Förderung

...

Die Unternehmensberatungs-Gesellschaft McKinsey, die ja gewöhnlich nicht unbedingt uns Grünen zugeordnet wird, hat die PISA-Daten noch einmal selber analysiert und festgestellt:
"Einer der wichtigsten Einflussfaktoren für den Bildungserfolg ist die späte institutionelle Differenzierung in Schultypen. Gerade hier hat Deutschland im Ländervergleich nach unseren Erkenntnissen den größten Reformbedarf."
Auch McKinsey fordert, dass die Schüler möglichst lange gemeinsam lernen und zugleich stärker individuell gefördert werden sollen.
Aber die CDU-Schulpolitik ist offenbar lernunfähig. Wenn die CDU an die Regierungsmacht kommen sollte, wäre sie eine ernsthafte Gefahr auch für Niedersachsen als Wirtschaftsstandort.
Ausgerechnet in Baden-Württemberg, dem Vorzeigeland der CDU-Schulpolitik, hat im vorigen Jahr der Handwerkstag in einem Positionspapier das gegliederte Schulwesen, dass von der CDU noch immer befürwortet wird, vernichtend kritisiert: Es heißt dort:
"In keinem anderen Land sind die Lerngruppen so homogen wie in Deutschland und trotzdem bringen sie weder Topleistungen noch ein Gesamtergebnis auf hohem Niveau (...) hervor; selbst die besten Bundesländer verharren allenfalls auf Durchschnittsniveau [eine Ohrfeige für Frau Schavan]. Im Gegenteil: Die starke Homogenität produziert Schwierigkeiten im Umgang mit Unterschieden und Abweichungen. Das selektive Schulsystem entlässt die Schulen aus der Verantwortung, sich um schwierige und abweichende Schüler zu kümmern."
Und an Stelle des alten dreigliedrigen Schulsystems fordert der Handwerkstag in Baden-Württemberg die neunjährige Grundschule. Bemerkenswert ist dafür auch die Begründung. In dem Papier heißt es:
"Kinder brauchen Lernanreize. Es ist mehr als fragwürdig, ob Selektion hierzu einen positiven Beitrag leistet. Beispiele anderer Länder zeigen, welche hohe Lernmotivation Kinder haben, wenn sie in Gruppen lernen, in denen es verschiedene Talente und Begabungen gibt, Gruppen, in denen die einen die anderen unterstützten und umgekehrt."
Wenn man die Schulpolitik der CDU ansieht, weiß man nicht, ob man über die Schlichtheit dieser Politik lachen oder weinen soll. Die CDU ist offenkundig tief verhaftet im vorigen Jahrhundert. Sie will zurück in die vermeintlich heile und einfache Welt der 50er Jahre.
In keinem anderen Land in Europa ist das Schulsystem noch so sehr geprägt von einem alten Kastendenken. Die Kinder werden frühzeitig sortiert nach anscheinend gottgegebenen Begabungstypen.
Bei PISA ist dieses Schulsystem eindeutig gescheitert, weil es die Bildungschancen der Kinder verbaut. In Bayern hat ein Facharbeiterkind bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten nur ein sechstel der Chance, das Gymnasium zu besuchen, wie ein Kind aus den obersten Sozialschichten. Mit unserem Schulsystem wird soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zementiert wie in keinem anderen Land.
Aber unser Schulsystem verbaut nicht nur die Chancen der benachteiligten Kinder. Sondern auch die leistungsstärkeren Kinder erreichen in diesem System weniger als in den integrativeren Schulsystemen Skandinaviens.
Wenn die CDU die Chance bekäme, die Schulpolitik in Niedersachsen zu bestimmen, würden die notwendigen Reformen unseres Schulwesens auf Jahre hinaus verbaut.
Aber die CDU ist – wie auch auf anderen Politikfeldern - mit ihrer reform- und lernunfähigen Schulpolitik dabei, sich auch innerhalb ihres eigenen "Milieus" ins Abseits zu begeben.

Wir müssen und wir werden die Schulpolitik wieder auf Kurs bringen.
Wir hoffen dabei auf die Lernfähigkeit der SPD. Wir nehmen mit Interesse zur Kenntnis, dass die SPD in der Stadt Hannover sich bereits mit unserem Gedanken anfreundet, dass die 5. und 6. Klasse an die Grundschule angebunden werden müssen. Nach der Wahl wird die SPD diesem richtigen Konzept auch für das ganze Land zustimmen.
Was ist in den Ländern anders, die bei PISA erfolgreicher abgeschnitten haben als Deutschland?
1. Die Kinder gehen länger gemeinsam zur Schule. Eine Auslese nach Klasse vier gibt es in keinem bei PISA erfolgreicheren Land. Die Regel ist eine neunjährige gemeinsame Schulzeit. Das sollte auf längere Sicht auch unser Ziel sein.
2.
3. Die SchülerInnen werden gezielt individuell gefördert. Dafür steht den Schulen erhebliches zusätzliches Personal zur Verfügung. In Finnland z.B. haben die Schulen nicht nur SpeziallehrerInnen genannte SonderpädagogInnen und SchulassistentInnen, sondern auch Schul-PsychologInnen, KuratorInnen genannte SozialpädagogInnen und eine Schulschwester. Nur mit diesem Personal können sie ihren Leitsatz verwirklichen, dass kein Kind verloren gehen darf.
4.
5. Das Lernen wird früh, schon im Kindergarten gefördert. Hier scheint es auch bei uns inzwischen einen Grundkonsens zu geben. Aber jetzt muss auch etwas getan werden.
6.
7. Die Ziele der Schulen und die Erwartungen an die SchülerInnen werden klar definiert. Hier hatten auch wir Grünen etwas dazu zu lernen. Wir setzen uns für die Festlegung nationaler Bildungsstandards ein.
8.
9. Zugleich gilt in diesen Ländern aber auch der Grundsatz: Ein Kind darf nicht beschämt werden. In Skandinavien erleben wir einen ganz anderen Respekt vor der Persönlichkeit der Schüler und umgekehrt dann auch einen größeren Respekt der SchülerInnen vor der Schule.
10.
11. Die Schulen haben eine größere Selbstständigkeit und ein effektiveres Qualitätsmanagement.
12.
13. Bei der Selbstständigkeit der Schulen darf es aber nicht vorrangig um größere betriebswirtschaftliche Effektivität gehen.
14.
15. Sondern es geht vor allem um einen größeren pädagogischen Entwicklungsspielraum.
16.
17. Es gibt in Niedersachsen eine Reihe von Schulen, die bereits ihre pädagogische Arbeit sehr positiv weiterentwickelt haben. Aber sie mussten dies in der Regel gegen sehr große bürokratische Widerstände tun.
18.
Wir werden nur Anschluss an die bei PISA erfolgreicheren Länder gewinnen können, wenn wir auf allen diesen Feldern von ihnen lernen, wenn wir keinen Bereich tabuisieren.
Die Wahl am 2. Februar wird deshalb auch darüber entscheiden, ob wir ein modernes, zukunftsfähiges Schulsystem entwickeln können, oder ob wir die Rückkehr in die 50er Jahre miterleben müssen.

Zurück zum Pressearchiv