Rede Ina Korter: Schule ohne sitzen bleiben

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Anrede,
was würden Sie sagen, wenn ich jetzt alle Landtagsabgeordneten, die in der Schule einmal sitzen geblieben sind, bitten würde aufzustehen.
In Niedersachsen bleiben ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit sitzen. Und das, meine Damen und Herren, ist keine so lockere Erfahrung einer so genannten Ehrenrunde, wie uns das immer wieder versichert wird.
Sitzen bleiben bedeutet auch heute Stigmatisierung, meist ein beschämendes Erlebnis mit manchmal schlimmsten Folgen.
In einem Kommentar der Braunschweiger-Zeitung vom 23.09.2005 heißt es:
"Das Verstoßen aus der Klassengemeinschaft ist eine rüde Sanktion. Das Stigma des Sitzenbleibers hat sich bis in unsere Sprache geschlichen: Er gilt gemeinhin als Versager."
Anrede,
aus den OECD –Studien haben wir gelernt, über unsere Grenzen hinaus zu schauen.
Wir können feststellen, dass Länder wie Schweden und Finnland seit langem ohne das Sitzenbleiben bleiben auskommen und trotzdem viel erfolgreicher sind.
Dort lernen die Schülerinnen und Schüler sehr gut auch ohne die ständige Drohung, sonst sitzen zu bleiben.
Die ernst zu nehmende Wissenschaft hat schon seit langem darauf hingewiesen, dass die Klassenwiederholung ein fragwürdiges Instrument ist.
Studien zeigen, dass Sitzenbleiber in vielen Fällen spätestens nach zwei Jahren wieder zu den leistungsschwächsten Schülern ihrer Klasse zählen.
Sie müssen nämlich zunächst nur Stoff wiederholen, den sie schon kennen und der sie nicht mehr herausfordert.
Die individuellen Probleme, die zum Leistungsrückstand geführt haben - und das sind oft psychosoziale Entwicklungsprobleme - werden durch das einfache Wiederholen einer Klasse nicht angegangen.

Anrede,
das Sitzenbleiben bleiben ist schlicht ein pädagogisches Holzhammerinstrument, das nicht nur wenig nutzt, sondern im Gegenteil erheblich schadet.
Einer der Leitsätze der skandinavischen Schulen lautet: Schule darf Kinder nicht beschämen, aber genau das geschieht mit dem Sitzenbleiben bleiben.
Der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann hat in biografischen Analysen gezeigt, dass Misserfolge und Schulversagen bei Jugendlichen häufig jahrelang Spuren hinterlassen und dass diese Jugendlichen auch beim Übergang ins Berufsleben oftmals nur schwer Tritt fassen.
Auch die europäische Studie des Informationsnetzes EURYDICE, in der eine Reihe von Forschungsberichten zusammengefasst ist, kommt deshalb zu dem Schluss:
"Die Wiederholung ist in der Mehrzahl der Fälle für die Entwicklung des Kindes nachteilig".
Es ist also schlicht ein Irrtum, dass die so genannte Ehrenrunde noch keinem geschadet hat.
Notwendig ist dagegen eine frühzeitige, gezielte Förderung der Schülerinnen mit Lern- und Leistungsproblemen.
Dafür müssen zunächst die Diagnosekompetenzen der Lehrkräfte verbessert werden, um Probleme überhaupt rechtzeitig zu erkennen.
Und es müssen gezielte Förderkonzepte entwickelt werden.
Solche gibt es zum Beispiel am Albert-Magnus-Gymnasium in Köln-Neuehrenfeld.
Dort gibt es eine Lernberatung und Förderkurse.
Lehrkräfte begleiten einzelne Schüler und vermitteln fachliche Unterstützung. Auch ältere Schülerinnen und Schüler bieten dort als Tutoren gezielte Hilfe an und profitieren selbst dabei.
Anrede,
zum Nulltarif sind gute Förderkonzepte natürlich nicht zu haben.
Herr Busemann, bei vielen unserer Anträge haben Sie sich immer wieder mit dem Argument, es sei kein Geld da, herausgeredet.
Das können Sie hier nicht, hier müssen Sie in der Sache Position beziehen.
Im Gegenteil: Wenn das Sitzenbleiben bleiben abgeschafft wird, können in Niedersachsen jährlich schätzungsweise 80 Millionen € eingespart werden.
Was lässt sich damit nicht alles sinnvoller und effizienter anfangen, als Schülerinnen und Schüler noch einmal ein Jahr länger in die Schule zu schicken:
Echte Förderkonzepte zur Vermeidung von Leistungsschwächen oder Behebung von Defiziten, Lernberatung und Fortbildung;
eine Verbesserung der frühen Sprachförderung in den Kindertagesstätten;
oder Personalbudgets für jede Ihrer 180 "Fielmann"- Ganztagsschulen, damit dort Förderangebote und Hausaufgabenbetreuung stattfinden können.
Anrede,
differenzierte und qualifizierte Förderkonzepte können nicht in allen Schulen von heute auf morgen eingeführt werden. Wir wollen deshalb zunächst einen Modellversuch starten, für den interessierte Schulen sich bewerben können.
Diesen Schulen müssen nicht nur Personalkapazitäten für die Förderung zur Verfügung gestellt werden, sondern auch Fortbildungs- und Beratungsangebote, die aus den eingesparten Mitteln finanziert werden.
Anrede,
Das Sitzenbleiben ist tief in der deutschen pädagogischen Tradition verwurzelt.
Man findet immer wieder die Aussage, die Schülerinnen und Schüler bräuchten dieses Druckmittel, sonst würden sie nicht lernen.
Aber es ist doch eigentlich ein pädagogisches Armutszeugnis, wenn man es nur mit diesem Druckmittel schafft, Kinder für etwas zu interessieren!
Und oft heißt es auch: Eine Ehrenrunde hat noch niemandem geschadet. Das wurde bis vor wenigen Jahren auch über die Ohrfeige gesagt.
Herr Busemann, Sie hätten mit der Abschaffung des Sitzenbleibens nicht nur die Chance, sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen, sondern auch die Gewissheit, dass die zukünftigen Schülergenerationen es Ihnen danken werden.

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