Rede Ina Korter: Erwiderung auf die Regierungserklärung zur Schulpolitik

...

Landtagssitzung am 14.05.2003
Ina Korter, MdL
TOP 1: Regierungserklärung zur Schulpolitik

Anrede,
dass die Landesregierung jetzt 2.500 neue Lehrerstellen schafft, ist ein Kraftakt, den wir anerkennen und der auch überfällig ist.
Wir werden aber darauf achten, ob die zusätzlichen Lehrerstellen tatsächlich dort eingerichtet werden, wo sie wirklich am dringendsten gebraucht werden. Es gibt Berechnungen, dass allein die Aufteilung des 5. und 6. Jahrgangs auf drei verschiedene Schulformen 2.000 Stellen "kosten” wird. Und bis zu 2.000 Stellen wird auch das Abitur nach 12 Jahren kosten, weil dafür ab sofort die Stundentafel in der Sekundarstufe I aufgestockt werden muss, aber erst nach acht Jahren das 13. Jahr "gespart” werden kann.
Gebraucht werden die Stellen am dringendsten in den Grundschulen und den Hauptschulen, gebraucht werden sie für eine gezieltere individuelle Förderung unserer Kinder.
In ihrem Wahlprogramm hat die CDU versprochen, die Wochenstunden in der Grundschulzeit von 92 auf 100 anzuheben. Wann werden Sie dieses Versprechen einlösen?
Eine gute Unterrichtsversorgung, haben Sie, Herr Minister gesagt, ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts.
Das ist richtig: Die Unterrichtsversorgung ist wichtig, aber wirklich nicht alles, umso erstaunlicher, dass Sie heute in Ihrer Regierungserklärung alles zur Unterrichtsversorgung sagen, aber nichts zu den wichtigen anderen Punkten der Bildungspolitik.
Schließlich fand gerade vor wenigenTagen die Anhörung der Verbände zum Schulgesetzentwurf statt.
Glaubt man den Worten des Ministers, so gibt es für die schwarz-gelbe Schulpolitik überall in Niedersachsen nur Applaus.
Herr Minister, in der Presse haben Sie gesagt, man müsse bei der Anhörung der Verbände gut zuhören.
Ich habe während der zweitägigen Anhörung sehr genau hingehört:
Sie waren zwar nicht dort, aber es dürfte Ihnen trotzdem nicht entgangen sein, dass es zwar Begeisterung bei den Unternehmerverbänden gab, die ja am liebsten den freien Elternwillen gleich ganz abschaffen wollten; zugleich gab es aber eine ganze Reihe pädagogisch fundierter Stellungnahmen, die sehr kritisch mit Ihrem Schulgesetzentwurf umgingen: Von den Eltern über die SchülerInnen bis zu den kommunalen Spitzenverbänden, die ja Ihre Reform vor Ort umsetzen sollen.
Es ist richtig, Herr Minister, die Einstellung so vieler Lehrkräfte ist ein positives Zeichen und auch die Streichung der unsäglich komplizierten SPD-Förderstufe stößt auf breite Zustimmung.
Ihre grundsätzliche Entscheidung in der niedersächsischen Schulpolitik jedoch ist nicht nur rückwärtsgewandt und deshalb falsch, sondern entbehrt auch jeder fachlichen Begründung.
Sie ist einfach eine konservative Weichenstellung!
Ihr Schulgesetzentwurf ignoriert die Erkenntnisse aus TIMSS, PISA und jetzt auch IGLU.
Die Zementierung des streng gegliederten Schulsystems mit der noch strikteren Trennung schon nach Klasse 4 ist genau das Gegenteil von dem, was übereinstimmend alle seriösen Bewertungen der PISA-Studien sowie anderer internationaler Vergleichstests als Konsequenz fordern.
Sie haben sich sogar geweigert den PISA-Experten Prof. Jürgen Baumert als Sachverständigen einzuladen, und auch die Erkenntnisse der IGLU-Forscher wollen Sie entgegen unserm Antrag nicht vor dem Beschluss über das neue Schulgesetz zur Kenntnis nehmen.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie nämlich nicht hören wollen:
Ich zitiere:
”Als Konsequenz müssen wir [”¦] die innere Schulreform konsequenter durchführen, wir müssen viel individualisierter in den Klassen arbeiten, hier können wir von Schweden, aber auch von den Niederlanden viel lernen. Wir müssen gleichzeitig aber auch an der Schulstruktur arbeiten, damit sie der inneren Form nicht entgegen läuft. Denkbar wäre hier, außer der Verlängerung der Grundschulzeit zumindest das Zusammenlegen von Haupt- und Realschule, wie es ja schon in den neuen Bundesländern geschieht.” (Prof. Hans Günter Rolff, Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklung)
In kaum einem anderen Land, meine Damen und Herren, entscheidet die soziale Herkunft derart über den weiteren Bildungsweg wie in Deutschland.
Genau das alles aber wird mit der neuen Schulpolitik und dem Schulgesetz weiter festgeschrieben und verschärft.
Es schafft ein Schulsystem, welches die Schwächen des vorhergehenden Systems verfestigt, und sich im internationalen Vergleich als Verlierermodell erwiesen hat.
Zur Erinnerung: Auch Bayern ist nur PISA-Mittelmaß, PISA-Sieger sind andere.
Die Koalitionsfraktionen aber wollen von all dem nichts wissen. Sie haben sich bis jetzt standhaft der fachlichen Diskussion verweigert. Sie haben keine überzeugenden pädagogischen Argumente anführen können, weshalb die Dreigliedrigkeit, die frühe Trennung und das Lernen in angeblich homogenen Gruppen zu besseren Schulerfolgen für alle Kinder führen sollen, während IGLU das Gegenteil beweist.
Ihr Schulgesetzentwurf entspricht in zentralen Punkten nicht den Anforderungen einer modernen demokratischen Gesellschaft.
Lassen Sie mich dies an einigen wenigen Punkten verdeutlichen:
Der Gesetzentwurf beschwört immer wieder den Begriff der Durchlässigkeit, verhindert diese jedoch durch seine strukturellen Vorgaben. Wann und wie Förderung stattfinden soll, bleibt nebulös.
Abgesichert ist die Durchlässigkeit bisher nur nach unten, nämlich, wenn die Kinder bereits am Ende der Klasse 5 wieder abgestuft werden können. Sie schaffen in der 5. Klasse eine verschärfte Auslesestufe, der angeblich freie Elternwille wird bereits nach Klasse 5 massiv eingeschränkt. Wir haben das im letzten Plenum bereits thematisiert und die Anhörung der Verbände hat uns in diesem Punkt ausdrücklich bestätigt.
Frühe Selektion verhindert nicht nur, dass Leistungspotenziale von sich später entwickelnden Kindern ausgeschöpft werden. Sondern das geringere Anregungspotenzial der Hauptschule verhindert überhaupt - wie die PISA-ForscherInnen deutlich gemacht haben, dass die HauptschülerInnen optimal gefördert werden können.
Mit Ihrer Definition unterschiedlicher Bildungsaufträge von Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen bewirken Sie eine klare Benachteiligung von Hauptschulen und besonders von Gesamtschulen. Unterschiedliche Bildungsaufträge konterkarieren die angeblich beabsichtigte Durchlässigkeit, von der die Koalition so gern spricht. Dasselbe gilt für schulformbezogene Bildungsstandards.
Anstatt mit verbundenen Systemen flexible Reaktionsmöglichkeiten auf veränderte SchülerInnenzahlen zu schaffen und dem Restschulcharakter der Hauptschulen entgegenzuwirken, wie es auch die Kommunen als Schulträger fordern, wird die Kooperative Haupt- und Realschule kurzerhand aus dem Gesetz gestrichen.
Sie reden von einer Stärkung der Hauptschulen, Ihr Handeln bewirkt aber gerade das Gegenteil. Den Erhalt der SozialpädagogInnenstellen an den Hauptschulen, den auch die SPD nicht über das Jahr 2003 hinaus abgesichert hat, können Sie auch nicht versprechen. Dazu, Herr Minister, habe ich deutlichere Worte von Ihnen erwartet.
Wenn Sie in Ihrer Fraktion und bei der FDP zu diesem so wichtigen Punkt keine ausreichende Unterstützung finden sollten, kann ich Ihnen sagen, bei uns finden Sie die. Da können Sie auf uns zählen!
Großen Widerstand dagegen gibt es bei der Streichung der Gesamtschulen als Regelschulen aus dem Gesetz. Diese Entscheidung und der von Ihnen verhängte Ausbaustopp engen die Vielfalt der Bildungslandschaft ein, sie lassen eine Schulform ausbluten, die von vielen SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern gewünscht und erfolgreich betrieben wird. Das alles ist ideologisch motiviert. Der Elternwille scheint bei Ihnen für Gesamtschulen ebenso wenig zu gelten wie bei den Kooperativen Haupt- und Realschulen!
Gemeinsam mit zahlreichen Verbänden, u.a. den kommunalen Spitzenverbänden, fordern wir den Erhalt der Gesamtschulen als Regelschulangebot im Gesetz mit der Möglichkeit der Weiterentwicklung und der Einrichtung neuer Verbundsysteme und Gesamtschulen, wo dies von den Eltern gewünscht wird. Besonders in nicht so stark besiedelten Gebieten wird es überhaupt nur mit Gesamtschulen möglich sein, ein vernünftiges wohnortnahes Angebot von gymnasialen Bildungsgängen zu schaffen.
An dieser Stelle, Herr Minister und meine Damen und Herren von der Koalition, werden Sie sich bewegen müssen!
Noch etwas ganz Wesentliches zum Thema Durchlässigkeit in der CDU/FDP-Schulpolitik:
Das generelle Abitur nach 12 Jahren wird dazu führen, dass weniger Jugendliche das Abitur erreichen und Leistungspotentiale nicht ausgeschöpft werden. Die Abiturquote ist bei uns schon jetzt im internationalen Vergleich viel zu niedrig. Mit dem Abi nach 12 Jahren wird sie noch weiter absinken.
Angesichts der so verdichteten Stundentafel im Gymnasium wird es für SchülerInnen aus Gesamtschulen und aus der Realschule, die in das Gymnasium wechseln wollen, fast unmöglich den Anschluss zu schaffen. Das nennen Sie Durchlässigkeit? Das ist für mich im besten Fall unüberlegt, schlechtestenfalls so gewollt!
Richtiger wäre, wie wir es in unserem Entschließungsantrag vorschlagen, das Abitur nicht generell nach 12 Jahren vorzuschreiben, sondern individuelle Möglichkeiten der Schulzeitverkürzung vorzusehen: Eine gute Ausstattung der flexiblen Eingangsstufe an den Grundschulen mit Fachpersonal, damit die 1. und 2. Klasse in ein, zwei oder drei Jahren durchlaufen werden kann, sowie Förderangebote in der 10. Klasse, damit das individuelle Überspringen der 11. Klasse erleichtert wird. Damit wäre auch das schwierige Problem der Übergänge von den Realschulen und Gesamtschulen auf die gymnasiale Oberstufe vom Tisch.
Man muss sich doch einmal klar machen: Es wird hier generell ein Abi nach Klasse 12 gefordert, wohl wissend, dass ca. 30 % der AbiturientInnen zur Zeit 14 Jahre bis zum Abi benötigen, weil sie irgendwann eine "Ehrenrunde” eingelegt haben.
Anrede,
momentan fehlen organisatorische und konzeptionelle Strukturen für Ganztagsunterricht an den Gymnasien.
Herr Busemann, Ihre bayerische Kollegin Frau Hohlmeier hat gesagt: "Ein achtjähriges Gymnasium muss als Ganztagsschule angelegt sein. Neue Arbeitsformen und eine veränderte Rhythmisierung der Unterrichtszeit werden zentrale Elemente dieses neuen Schultyps sein.” Solche Konzepte vermissen wir von der niedersächsischen CDU-Regierung noch völlig. Aber sie wären die notwendige Voraussetzung, um über eine generelle Verkürzung der Schulzeit überhaupt ernsthaft reden zu können.
Ich will nicht noch stärker ins Detail gehen, an welchen Stellen in der Anhörung abenteuerliche Ungereimtheiten zu Tage getreten sind: Ich sage nur noch ein Beispiel: Die 10. Klasse als Gelenkfunktion!
Völlig unklar geblieben ist nämlich, wann in welcher Schulform welcher Abschluss vergeben werden soll.
Meine Damen und Herren,
die CDU hat in den vergangenen Jahren - zu Recht - der Kultusministerin und dem Ministerpräsidenten in der Schulpolitik immer wieder Übereifer und blinden Aktionismus vorgeworfen.
Was CDU und FDP hier allerdings vorführen, ist leider kein Deut besser.
Zu keinem der wesentlichen Punkte im Gesetzentwurf gibt es bisher Durchführungsverordnungen oder Erlasse, niemand konnte die Frage beantworten, wie denn die neue Oberstufe inhaltlich aussehen soll, eine Auswertung der Anhörung sei in der Kürze der Zeit nicht zu schaffen, heißt es, von den bisher aufgeworfenen juristischen Fragen zum Gesetzestext konnte bis gestern noch nicht eine geklärt werden.
Meine Damen und Herren, das ist Dalli-Dalli auf Kosten der Bildungschancen unserer Kinder. Wir sollen im Juni ein Gesetz beschließen, das mit heißer Nadel gestrickt ist und fachlich und pädagogisch einen Rückschritt in die 50er Jahre darstellt.
Das ist keine moderne Schulpolitik , sondern Flickwerk aus der schwarz-gelben Ideologiekiste.
Ein modernes Schulsystem, das die Ergebnisse neuerer Bildungsforschung auswertet und umsetzt, muss sich am Leitmotiv der Finnen orientieren:
Jedes Kind ist wichtig - wir können auf keinen verzichten - wir brauchen alle!
Es müssen nicht die Kinder den Schulformen angepasst werden, sondern wir müssen die richtige Schule mit gut ausgebildeten PädagogInnen für alle Kinder entwickeln. Davon ist die Schulpolitik der CDU und FDP weit entfernt!
Es wäre wohl zu viel, von der schwarz-gelben Koalition zu erwarten, dass sie ihre falsche Grundsatzentscheidung für ein verschärft gegliedertes Schulwesen noch einmal überdenkt.
Aber wenn Sie schon bei dieser falschen Grundsatzentscheidung bleiben, sollten Sie wenigstens die gröbsten Fehler korrigieren:
Sie sollten den Kindern auf den weiterführenden Schulen wenigstens zwei Jahre Zeit geben und sie in dieser Zeit individuell fördern, statt schon nach der 5. Klasse mit Abschulung zu drohen.
Sie sollten wenigstens Kooperationen zwischen allen verschiedenen Schulformen - auch mit den Gymnasien - zulassen, damit überhaupt überall ein vollständiges Bildungsangebot geschaffen werden kann.
Sie sollten zumindest dort, wo dies von den Eltern ausdrücklich gewünscht wird, auch in Zukunft die Einrichtung von Gesamtschulen zulassen. Sie sagen ja sonst selbst, dass der Markt entscheiden sollte.
Sie sollten die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen erhöhen, statt sie durch eine verschärfte Profilierung noch weiter zu verringern.

Zurück zum Pressearchiv