Rede Gabriele Heinen-Kljajic: Herausforderung für Niedersachsens Hochschulen ? steigende Schulabsolventenzahlen und "doppelter" Abiturjahrgang 2011
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Anrede,
durch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre wird es in Niedersachsen 2011 zwei Abiturjahrgänge geben. Die ohnehin kontinuierlich steigenden Schulabsolventenzahlen werden im Jahr 2011 regelrecht explodieren: derzeit rechnet die Landesregierung mit 68.400 hochschulberechtigten Schulabgängern statt 43.900 im Vorjahr.
Alle diese Schülerinnen und Schüler wollen selbstverständlich eine Ausbildung, viele von ihnen werden an einer Hochschule studieren wollen. Doch nach jetzigem Stand der Dinge werden sie eine herbe Enttäuschung erleben müssen, Tausende von ihnen werden auf der Strecke bleiben.
Sie, Herr Minister Stratmann, erwecken den Eindruck, als bestehe kein Handlungsbedarf, als ließe sich dieser sprunghafte Anstieg von Studienberechtigten problemlos bewältigen.
Anrede,
müsste ich die Antwort der Landesregierung auf unsere Anfrage mit einem Motto belegen, dann fiele mir nur eines ein: "Nach uns die Sintflut". Nicht anders kann ich es deuten, wenn die zentralen Botschaften auf unsere Anfrage lauten: Die Hochschulen haben Planungssicherheit bis 2010 und, ich zitiere: "Die Niedersächsische Landesregierung wird im Übrigen rechtzeitig Vorkehrungen treffen, um den doppelten Abiturjahrgang bewältigen zu können."
Anrede,
diese lapidare Antwort ist angesichts des bildungspolitischen Sprengstoffs, der sich hinter der Diskrepanz zwischen sinkenden Studienplätzen und steigender Anzahl von Studienberechtigten verbirgt, an vorgetäuschter Arglosigkeit kaum zu überbieten.
Noch nicht einmal die wichtigsten Plandaten kann das Ministerium liefern.
Länderspezifische Schätzungen über die Entwicklung der Studierendenzahlen können Sie nicht liefern, die kommen im Oktober von der KMK, sagen Sie. Die KMK wird aber auch nichts anderes machen, als auf der Grundlage bisheriger Wanderungssalden zu prognostizieren. Warum kann das MWK diese Zahlen nicht selbst vorlegen?
Auch zur Entwicklung der Anzahl der Studienplätze bleiben Sie die Antwort schuldig. Da heißt es schlicht: "Die Entwicklung der Anzahl der Studienplätze wird sich aus dem Finanzrahmen ergeben, den der ”šZukunftsvertrag’ für die Hochschulen bereitstellt."
Anrede,
einen Vorgeschmack auf die Konsequenzen dieser Aussage bieten die Erfahrungen mit dem Hochschuloptimierungskonzept (HOK). Mit Ihrer so genannten Optimierung haben Sie es geschafft, Niedersachsen neben Berlin zum Spitzenreiter in Sachen Rückgang von Studienanfängern zu machen - minus 12 Prozent im WS 04/05 und ausweislich ihrer eigenen Zahlen wird dieser Trend anhalten. Seit 2003 ist die Zahl der Studienanfängerplätze in Niedersachsen um fast 3900 gesunken und das ist angesichts der bildungspolitischen Herausforderungen ein Skandal.
Anrede,
dass man mit dieser Situation auch anders umgehen kann, zeigt Baden-Württemberg, wo 2012 ebenfalls zwei Jahrgänge Abitur machen werden. Dort ist eine Arbeitsgruppe beauftragt, Problemlösungen zu erstellen. Dort steht fest, dass man die Nachfrage ohne befristeten Kapazitätsausbau nicht wird bewältigen können. Und Baden-Württemberg zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, schon heute Plandaten vorzulegen, wenn auch unter der Annahme von gleich bleibenden Studierquoten. Folgerichtig sollen in Baden-Württemberg die Maßnahmen zum notwendigen Ausbau an Studienplätzen noch in diesem Jahr vorgestellt werden.
Sie, Herr Minister Stratmann, sehen das wesentlich gelassener. Bei Ihnen heißt es lapidar: "Unabhängig von Detaillösungen für den doppelten Abiturjahrgang sind Schwankungen in der studentischen Nachfrage nach Studienplätzen nicht neu und wurden in der Vergangenheit stets bewältigt, ohne dass das Gesamtsystem Schaden nahm ..."
Das, meine Damen und Herren, ist nun eine Aussage, von der ich gedacht hätte, dass sich kein Wissenschaftsminister mehr traut, sie irgendwo schriftlich niederzulegen. Ich darf Sie mal daran erinnern: Schon einmal standen die Hochschulen vor der Aufgabe, "den Studentenberg zu untertunneln" (Zitat Prof. Gaethgens, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz). An diesen Folgen kranken unsere Hochschulen noch heute. Und was tun Sie?
Sie vertrauen darauf, dass Nachfrageschwankungen über die Kapazitätsverordnung (KapVo) ausgeglichen werden, so als gäbe es kein Überlastproblem mit den Folgewirkungen zu hoher Abbrecherquoten, zu langer Studiendauer und zu geringer Absolventenzahlen. Das heißt aber nichts anderes, als noch mehr Studierende in die ohnehin schon überfüllten Vorlesungen und Seminare zu stopfen.
Anrede,
es kommt noch besser: "Wenn die Maßnahmen der KapVo nicht ausreichen, sind die Hochschulen in der Lage, im Rahmen ihrer Globalhaushalte zugunsten stärker nachgefragter Bereiche Ressourcen intern umzuschichten." Ein toller Tipp: Schon heute sind in Niedersachsen 58% aller Universitätsplätze und 89% aller Fachhochschulplätze zulassungsbeschränkt, Tendenz steigend. Nur die wenigsten Studiengänge sind nicht ausgelastet: Studiengänge können außerdem nicht von heute auf morgen geschlossen werden. Hinzu kommt: Im Jahr 2011 werden doppelt so viele Studienbewerber vor den Hochschulen stehen wie 2005. Die Umschichtungsmasse wird es also an den Hochschulen nicht mehr geben. Zuletzt verweisen Sie noch auf die Mittel zur Bewältigung vorübergehender Überlasten. 2006 sind hierfür exakt 431.000 Euro veranschlagt. Diese Summe ist aber doch lächerlich angesichts der anstehenden Probleme.
Das ist kein Maßnahmenplan Herr Minister Stratmann, das ist Phantasterei.
Anrede,
den Hochschulen werden immer mehr Aufgaben aufgebürdet, während die Etats gekürzt werden. Der "Zukunftsvertrag" bedeutet für die Hochschulen nichts anderes als die weitere Kürzung öffentlicher Mittel. Gleichzeitig sollen sie aber aufwändige Zulassungsverfahren einführen, und die Umstellung aller Studiengänge auf Bachelor und Master sicherstellen. Beides ist aber nur dann umsetzbar, wenn die Personalkapazitäten gesteigert werden.
Sie, Herr Minister Stratmann, verkaufen uns die Umstellung auf Bachelor- und Masterstrukturen noch immer als Sparmodell. Dabei hat das Plenum der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) erst kürzlich erklärt, dass das nicht kostenneutral umgesetzt werden kann. Bei gleich bleibenden Ressourcen müsse die Einführung der neuen Studiengänge zu einer Reduktion der Zulassungskapazitäten führen, warnt die HRK. Also im Zweifel noch weniger Studienplätze.
Ebenso wollen Sie, Herr Minister Stratmann, den Studierenden immer noch weismachen, Studiengebühren würden einen Beitrag zur Verbesserung der Studienbedingungen leisten. Die Fahrlässigkeit, mir der Sie das Problem steigender Studierendenzahlen angehen, macht dagegen deutlich: Die Studenten werden Gebühren zahlen und dennoch schlechtere Bedingungen an den Hochschulen vorfinden. Welcher Ausweg wird den Hochschulen bleiben? Sie werden an der Gebührenschraube drehen und mehrere Tausend Euro Studiengebühren sind bald nicht mehr nur ein Schreckgespenst, sondern Realität.
Die Gelassenheit, mit der Sie dem doppelten Abiturjahrgang entgegensehen, wird Ihrer Verantwortung als Fachminister in keiner Weise gerecht. Den Preis werden die Schülerinnen und Schüler zu zahlen haben, die voraussichtlich 2011 Abitur machen. Viele von ihnen werden keinen Studienplatz erhalten. Und auch ein Ausweichen auf andere Bundesländer wird nicht möglich sein, denn überall wird auf das 8jährige Abitur umgestellt, in den meisten Ländern zwischen 2011 und 2013.
Anrede,
was hat das für Konsequenzen? Etliche eigentlich Studierwillige werden auf den dualen Ausbildungsmarkt ausweichen, wodurch ein zusätzlicher Verdrängungswettbewerb ausgelöst wird. Hauptschul- oder Realschulabsolventen werden dann noch schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben.
Halten die Schüler und Schülerinnen aber an ihrem Studienwunsch fest, dann sind Sie gezwungen, mindestens das Jahr zu verplempern, das Ihnen zuvor der Kultusminister mit dem Abi nach Klasse 12 abgenommen hat. Aber für viele wird selbst das keine Lösung sein, denn da sich Schulabgänger ohne Studienplatz oder Ausbildungsplatz nicht in Luft auflösen, werden wir dieses Überlastproblem noch einige Jahre vor uns herschieben.
Wenn Sie nicht rechtzeitig gegensteuern, Herr Stratmann, wird der absehbare Anstieg der Studentenzahlen zum Kollaps führen. Oder setzen Sie darauf, dass die realen Studiengebühren zukünftig noch mehr vom Studium abhalten als schon heute allein deren Ankündigung?
Anrede,
wir brauchen jetzt eine Strategie, die aufzeigt, wie wir für 2011 und die Folgejahre zusätzliche Studienplatzkapazitäten aufbauen können. Die Landesregierung darf sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen. Ihre Antworten auf unsere Anfrage lässt aber nur einen Schluss zu, Herr Minister: Sie gehen davon aus, dass Sie dann nicht mehr der zuständige Minister sind.
Denn Sie, Herr Minister Stratmann, Sie tun so, als müssten die Mensen nur ein bisschen die Suppe strecken und dann ruckelt sich die Sache schon zurecht.