Rede Filiz Polat: Streik in der Härtefallkommission – Humanität statt Abschiebung

Landtagssitzung am 20.06.2012

Filiz Polat, MdL

Sehr geehrte Frau/Herr Präsident/in, meine Damen und Herren,

die Entscheidung über das Schicksal von Menschen bedeutet eine sehr große Verantwortung.

Der Rücktritt von Dr. Johann Weusmann als Vertreter der evangelischen Kirche und die Entscheidungen von Caritasdirektor Dr. Hans-Jürgen Marcus (Diözesan-Caritasverband Hildesheim) und Superintendent Philipp Meyer, ihre Mitarbeit in der Härtefallkommission vorerst ruhen zu lassen, sollten uns allen ein Warnsignal sein.

Mit Herrn Dr. Weusmann verliert die Kommission zum wiederholten Male einen engagierten Experten in Flüchtlingsfragen.

Uns hat zu diesem Thema auch eine Petition des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz erreicht.

Er fordert der Menschlichkeit in Niedersachen und der Einzelfallgerechtigkeit den gebührenden Raum zu verschaffen.

Anrede-

So kann es nicht weitergehen. 

Wir brauchen keine Härtfallkommission, die den Geist von Minister Schünemann widerspiegelt.

Wir brauchen eine echte Härtfallkommission, die humanitären Gründen den Vorrang geben.

Wenn Dr. Weusmann mit den Worten seinen Rücktritt erklärt:

Anrede,

"Ich muss als Kirchenvertreter darauf achten, dass humanitäre Gründe den Vorrang haben",

dann erwarten wir, dass Sie endlich erkennen, dass dieser Innenminister zum wiederholten Male versucht, ihnen eine Härtefallkommissionsverordnung unterzujubeln, die eben nicht der Humanität den Vorrang gibt. 

Und es ist ja nicht das erste Mal, dass die Kommission in der Krise steckt und Mitglieder aus Protest die Kommission verlassen oder die Arbeit unter den Schünemannschen Bedingungen verweigern. Ende 2007 sind die beiden Kommissionsmitglieder Jochen Flitta (AWO) und Günter Famulla (Paritätischer Niedersachsen) zurück getreten. Hinzu kommen zwölf weitere ausgeschiedene Mitglieder und drei Mitglieder, deren Amtszeit zum 31. Dezember 2009 endete und die ihre Arbeit nicht fortgesetzt haben.

Umso dringender appellieren wir heute als Parlament an die Landesregierung, eine grundlegende Reform vorzunehmen.

Für viele Menschen ist die Härtfallkommission die letzte Chance, ein Aufenthaltsrecht zu erhalten und damit ein Leben, eine dauerhafte Perspektive in ihrer Heimat - Niedersachsen.

Die Härtefallkommissionsverordnung des Landes wird mit dem vorgelegten Änderungsentwurf nicht besser. Das haben die Reaktionen der angehörten Verbände mit ihrem Streik und ihren kritischen Stellungnahmen gezeigt.

Und sie konterkariert die Intention des Bundesgesetzgebers.

In § 23a AufenthG ist klar formuliert:

  • die Person muss vollziehbar ausreisepflichtig sein und
  • es müssen dringende humanitäre oder persönliche Gründe vorliegen.

Mehr nicht !

Nur ein einziger regelmäßiger Ausschlussgrund wird dort genannt:

Die Annahme eines Härtefalls ist "in der Regel" ausgeschlossen, wenn die betroffene Person Straftaten von erheblichem Gewicht begangen hat.

In Niedersachsen sind wir von der Klarheit und Übersichtlichkeit des Aufenthaltsgesetzes weit entfernt.

Nein - noch schlimmer: Der von Ihnen vorgelegte Verordnungsentwurf, der sich zurzeit im Anhörungsverfahren befindet, ist mal wieder eine  Mogelpackung:

Zehn Nichtannahmegründe, vier Ausschlussgründe.

Die Aufnahme von Jugendstrafen als absoluten Nichtannahmegrund stellt nicht die vom Innenminister behauptete Klarstellung dar, sondern ist eine Verschärfung, weil sie vorher entgegen der Auffassung von Herrn Schünemann nicht erfasst waren.

Weitere Verschärfungen bedeuten die neuen Regelnichtannahmegründe eines Voraufenthaltes von weniger als drei Jahren und der offensichtlichen Erfolglosigkeit (ein unbestimmter Rechtsbegriff zudem!).

Auch die Erhöhung der für die Beschlussfähigkeit erforderlichen Mindestanzahl der Anwesenden in Verbindung mit einer zeitlichen Befristung kann fatale Folgen haben, denn die Mitglieder müssen eine hohe Sitzungsfrequenz mit der Anwesenheit von 7 Mitgliedern einhalten, um zu vermeiden, dass sich die Fälle ansonsten von selber erledigen, und zwar zu Lasten der Betroffenen.

Wo ist hier bitteschön die Unabhängigkeit der Kommission gewährleistet, wenn das Innenministerium eine Verordnung erlässt, die vorsortiert, aussortiert und blockiert?

Wir brauchen eine handlungsfähige Härtefallkommission, die den Vorgaben von Artikel 1 Grundgesetz gerecht wird und die Handlungsspielräume von § 23 a Aufenthaltsgesetz ausschöpft.

Umso mehr ein fataler Fehler – dass sich die Koalitionsfraktionen zum wiederholten Male einer grundlegenden Reform der Kommission verweigern.

Derzeit sind ca. 11.000 Personen in Niedersachsen geduldet.

Die Zahl der Härtefälle wird zwangsläufig weiter steigen. Denn gerade diejenigen, die bisher vom Bleiberecht ausgeschlossen wurden und auch in Minister Schünemanns neuem Vorschlag zum Bleiberecht unberücksichtigt bleiben, also Kranke, Familien mit mehreren Kindern, Menschen mit Behinderung, konnten und werden die hohen Hürden nicht überwinden können. Sie werden auf der Strecke bleiben. Sie bleiben im menschenunwürdigen Zustand der Duldung oder ihnen droht eine Abschiebung in eine ungewisse Zukunft. Vielen Roma-Familien aus dem Kosovo droht die humanitäre Katastrophe. Knapp 60 Prozent sind unter 25 Jahre alt. Ein Großteil wurde hier geboren. Wollen sie das hier im Parlament verantworten oder vor Ort tatenlos zusehen wie eine Familie, die seit 20 Jahren in ihrer Gemeinde lebt, deren Kinder hier geboren sind, von heute auf morgen weg ist – abgeschoben wird?

Wir nicht, meine Damen und Herren!

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