Rede Anja Piel: Regierungserklärung zur Integration von Flüchtlingen

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- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,

versuchen wir uns vorzustellen, wie unsere Gesellschaft in 20 bis 30 Jahren aussehen wird. Und versuchen wir dabei, die Angstreflexe einer Erika Steinbach zu vermeiden. 

Das Bild davon, wie es bei uns in 20 oder 30 Jahren aussehen kann, wird sich vermutlich nicht wesentlich von dem unterscheiden, das wir schon heute kennen. Denn: Spätestens seit den 60er Jahren kennen wir in Deutschland Migration.

Und wir haben Integration erlebt: Menschen aus Italien, aus Griechenland, der Türkei, Polen und Jugoslawien haben in Deutschland und Niedersachsen ein Zuhause gefunden und gehören zu unserer Gesellschaft.

Ich bitte Sie, bei allen berechtigten Sorgen: Nehmen Sie mal ein bisschen Abstand von der aktuellen Aufregung und denken Sie daran, wie verlässlich sich die deutsche Gesellschaft dabei erwiesen hat, mit Migration umzugehen. Deutschland ist längst eine Migrationsgesellschaft.

Anrede,

natürlich gibt es einiges zu tun, damit uns dieser Erfolg gelingt. Wir brauchen jetzt konkrete politische Maßnahmen.

Aber ein bisschen Gelassenheit steht uns dabei gut zu Gesicht, weil es eben keine Sache von ein paar Wochen ist, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die so ganz anders ist als das, was man bisher kannte.

Es war für die Geflüchteten kein Spaziergang, bis sie bei uns waren, sondern eine lange und aufreibende Odyssee. Und es wird auch weiter einen langen Atem brauchen, bis sich Menschen hier zu Hause fühlen. Umso wichtiger, dass wir Hindernisse beiseite räumen!

Anrede,

ich danke unserem Ministerpräsidenten Stefan Weil für seine klaren Sätze. Wie Sie sehen: die Niedersächsische Landesregierung ergeht sich nicht in Träumereien, sie analysiert die Situation. Sie tut das nicht allein, sondern gemeinsam mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen. Und sie setzt umsichtig konkrete Schritte um. Das ist genau das, was wir jetzt brauchen.

Anrede,

was nun aber die Debatte angeht, die der Regierungserklärung Stephan Weils gefolgt ist, so bin ich mir nicht sicher, ob Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wirklich wissen, wohin Sie die Gesellschaft eigentlich bringen wollen.

Ein bisschen Weitblick, ein bisschen Gelassenheit täte Ihnen, täte uns allen gut.

Anrede,

ich hatte in den letzten Wochen immer wieder den Eindruck, dass die Erwartung an die Flüchtlinge inzwischen darin besteht, dass sie sich am besten schon integriert haben sollen, noch bevor sie überhaupt hier angekommen sind.

Um das ganz klar zu sagen: Ich habe überhaupt nichts gegen die vielbeschworene schnelle Integration. Aber wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie auch: das funktioniert nicht so einfach.

Sich in einem Land zu orientieren, die Sprache zu lernen, die Gepflogenheiten einschätzen zu lernen, die Politik zu verstehen und Arbeit zu finden – all das dauert. Es braucht Zeit, es braucht Ausdauer, bis ein belastbares Gemeinschaftsgefühl wächst. Ausdauer und Geduld sind dabei nicht nur von den Flüchtlingen gefordert, sondern auch von uns, die wir schon länger hier leben.

Anrede,

und glauben Sie mir: die Menschen, die bei uns ankommen, sind dazu auch in der Lage. Wer einen so langen und schwierigen Weg hinter sich gebracht hat, um hierher zu kommen, der ist normalerweise auch bereit und willens, den langen und schwierigen Weg zu beschreiten, bis er sich hier wirklich zuhause fühlt. Wir sollten die Menschen dabei unterstützen.

Und das macht man nicht mit dem Zeigefinger der einen und dem Strafgesetzbuch in der anderen Hand, meine Damen und Herren.

Wie unterstützt man Menschen dabei, sich hier einzufinden? Nun, Herr Ministerpräsident Weil hat es dargestellt, tausende von Menschen setzen es bereits um:

  • Durch Sprachkurse und Bildungsangebote, die unsere Ministerin Gabriele Heinen-Kljaji? gemeinsam mit den Trägern der Erwachsenenbildung und den Hochschulen in vorbildlicher Weise auf den Weg bringt;
  • durch Möglichkeiten in den Berufseinstieg, die Minister Olaf Lies in guter Kooperation mit zahlreichen engagierten Unternehmen in unserem Land schafft;
  • durch eine Unterbringung, die den Bedürfnissen, wie wir sie alle haben, gerecht wird. Mein Dank gilt Ministerin Cornelia Rundt für ihre verstärkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Übrigens ist das nicht nur gut für Geflüchtete, sondern auch für Ältere, für Menschen mit wenig Geld und für Studierende.
  • Was mir aber besonders wichtig ist: die Kinder, die einen nicht unerheblichen Teil derer ausmachen, die zu uns kommen, brauchen gute und schnelle Maßnahmen ganz besonders. Es sind oft Kinder, die für ihre Familien den ersten Schritt in die Deutsche Gesellschaft gehen. Darum ist die konsequente Sprachförderung in den Schulen so wichtig, für die ich der Ministerin Frauke Heiligenstadt und ganz besonders den überaus engagierten Lehrerinnen und Lehrern in unserem Land herzlich danke.

Anrede,

als Familie in einem neuen Land gemeinsam anzufangen macht vieles leichter. Und ich kann nicht nachvollziehen, dass das ausgerechnet bei der der CDU, die für sich in Anspruch nimmt, christliche Werte und auch den Zusammenhalt der Familie ernst zu nehmen, nicht so gesehen wird.

Wenn die Familie, die Keimzelle der Gesellschaft ist, warum wird nun mit dem Asylpaket II auf Drängen der Union gerade der Familiennachzug für syrische Flüchtlinge eingeschränkt? Und ich verstehe auch nicht, wie man so etwas als einen kleinen Schritt in eine bestimmte Richtung bezeichnen kann. Ja, es ist ein Schritt, aber es ist ein Schritt zurück.

Anrede,

all die Maßnahmen, die wir treffen, werden aber nichts daran ändern, dass es Zeit braucht, bis aus einem „Ihr“ ein „Wir“ wird. All diese Maßnahmen sind aber zusammen nicht so wertvoll wie eine aufgeschlossene Gesellschaft, in der Menschen mit Offenheit und viel Engagement aufeinander zu gehen. Weiterhin arbeiten Tausende in den Erstaufnahmeeinrichtungen, in Flüchtlingsinitiativen oder im direkten Austausch mit Einzelpersonen und Familien daran mit, dass Integration gelingt.

Und, meine Damen und Herren, ehrenamtliches Engagement ersetzt selbstverständlich keine Politik. Aber ohne den Einsatz der Zivilgesellschaft würden die besten Maßnahmen nur halb so viel bringen. Der allergrößte Teil der Menschen in Niedersachsen will, dass die Geflüchteten ebenso dazugehören, wie alle anderen auch.

Anrede,

in diesem Zusammenhang will ich noch mal hervorheben, wie wichtig das Aktionsbündnis „Niedersachsen packt an“ ist.

Die Botschaft ist doch klar: Es ist nicht allein die Politik, die hier handeln muss.  Wir alle sind Beteiligte, wir alle können etwas tun und dabei helfen, dass aus Geflüchteten Nachbarn werden. Und wenn Sie mir dann vorwerfen, ich sehe das zu romantisch, dann kann ich Ihnen versichern: Nachbarschaft ist nicht immer romantisch, auch nicht immer ohne Konflikte. Das gilt übrigens auch, wenn Nachbarn gleicher Nationalität sind!

Anrede,

auch ich sehe, dass es bei vielen Leuten Verunsicherung gibt. Aber ist das nicht auch normal bei den Veränderungen, wie wir sie derzeit erleben? Ich verstehe die Verunsicherung als klaren Auftrag an uns Politikerinnen und Politiker, noch mehr zu informieren, noch mehr zu kommunizieren – und das in einer sensiblen und differenzierten Art und Weise. AfD und andere rechte Kräfte profitieren von der Verunsicherung und den Ängsten der Menschen. Lassen Sie uns gemeinsam diese Verunsicherung nicht noch verstärken. Lassen Sie uns klar zusammenstehen: Hass und Hetze sind keine Alternative für Deutschland!

Anrede,

ja, es sind Herausforderungen, vor denen wir stehen. Noch größer aber ist die Herausforderung, vor der die Geflüchteten stehen. Ja, es kostet Geld; ja, es dauert auch, bis sich die Menschen bei uns zu Hause fühlen.

Aber: es lohnt sich auch, daran mitzuarbeiten. Es lohnt sich volkswirtschaftlich, es lohnt sich kulturell, vor allem aber lohnt sich Offenheit viel mehr, als jede Abwehrhaltung. Ich bin froh, dass wir in Niedersachsen eine Landesregierung und eine Gesellschaft haben, die diesen Gedanken ernst nimmt und danach handelt.

Vielen Dank.

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