Rede Andreas Meihsies: Unabhängige Sicherheitsüberprüfung niedersächsischer Atomkraftwerke nach dem schweren Störfall in Forsmark, Schweden

Landtagssitzung am 14.09.2006, TOP 14

Anrede

Sind Atomkraftwerke nun sicher oder nicht?
Nach dem Fast-GAU im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark, Ende Juli, beeilten sich die Umweltminister der Länder, in vorderster Linie Atomminister Sander, die Beteuerungen der Kraftwerksbetreiber zu wiederholen: In Deutschland könne sich ein solcher Vorfall nicht ereignen.

Bundesumweltminister Sigmar Gabriel war immerhin vorsichtiger. Zwar hätten seine Länderkollegen Recht, wenn man es wörtlich nimmt, erklärte er auf einer Pressekonferenz in Berlin. Die Wechselrichter, die in Schweden die Notaggregate steuern sollen und die versagt haben, würden hierzulande nicht verwendet.

Inzwischen hat sich allerdings, hier wie in Schweden, die Debatte um Sicherheit und Zukunft der Atomenergienutzung neu entzündet.

Was war passiert?

Nach einem Kurzschluss in einem Umspannwerk musste am 25. Juli der Reaktor Forsmark 1 durch eine Schnellabschaltung heruntergefahren werden. Die Leistung der Kraftwerksturbinen muss dazu auf ein Minimum reduziert werden, das noch für den Betriebsstrom benötigt wird. Dieses misslang jedoch, so dass automatisch das aus vier Dieselaggregaten bestehende Notstromsystem anspringen sollte. Das System ist in der Theorie so angelegt, dass zwei Elemente versagen können, während die beiden anderen immer noch genügend Strom liefern.

Es versagten tatsächlich 2 Notstromdiesel, obwohl sie unabhängig voneinander geschaltet sind. Da die Dieselmotoren eine gewisse Zeit brauchen, bis sie volle Leistung liefern, gibt es zusätzlich Batterien, die bei Spannungsabfall Strom für eine ununterbrochene Versorgung liefern. Der Batterie-Gleichstrom muss mit Wechselrichtern in Wechselstrom umgewandelt werden. Zwei dieser Bauteile haben in Forsmark in Folge des Netzkurzschlusses versagt, wodurch zwei Dieselmotoren nicht automatisch starteten, wie es der Fall hätte sein müssen. Und noch schlimmer:
die beiden verbliebenen Notstromdiesel reichten nicht aus, um die Reaktorkühlung sicherzustellen.

Es verging dann noch einige Zeit, bis das Kraftwerkspersonal das alles bemerkte und sich überhaupt der Folgen bewusst wurde. Wegen des Stromausfalls funktionierten die Messsysteme nicht mehr richtig. Die Mannschaft in der Leitzentrale tappte im Dunkeln. Die Computerbildschirme und Lautsprecher fielen aus.

Im Klartext: Die Bedienungsmannschaft hatte keinen Überblick mehr, was im Reaktorkern vorging. Bereits nach 20 Minuten hatte sich der Wasserstand im Reaktor um zwei Meter abgesenkt. Wäre der Wasserspiegel weiter abgesackt, hätten sich die Brennstäbe so stark erhitzt, dass schließlich die Kernschmelze eingetreten wäre.

Nach 23 Minuten gelang es dann einem herbeigerufenen Ingenieur des Nachbarblockes jedoch, die zwei ausgefallenen Dieselgeneratoren von Hand zu starten.

Zum Glück! Der langjährige Chef der Konstruktionsabteilung des Energiekonzerns Vattenfall erklärte später, dass der Prozess nach nur sieben weiteren Minuten außer Kontrolle geraten wäre.

Angesichts dessen ist es schon mehr als bedenklich, dass Umweltminister Sander bereits am 4. August verkündete, ein solcher Störfall könne hier ausgeschlossen werden. Kurze Zeit später teilt Herr Sander das Ergebnis seiner Überprüfungen mit: In niedersächsischen Atomkraftwerken ist ein Vorfall wie in Forsmark ausgeschlossen. Und weiter: "Es ist nicht notwendig, in Niedersachsen noch weitere Überprüfungen vorzunehmen." Diese Abwiegelung kam zu einer Zeit, als nur völlig unzureichende Informationen vorlagen!

In Schweden dagegen wurden als Konsequenz aus dem Vorfall der betroffene Reaktorblock in Forsmark und der baugleiche Block 2 bis auf weiteres abgeschaltet und ebenfalls zwei baugleiche Reaktorblöcke im Kernkraftwerk Oskarshamn.

 Die Betriebserlaubnis dieser vier Siedewasserreaktoren mit gleicher Technik ist zurückgezogen und muss vor einer Wiederinbetriebnahme erneuert werden.

Vier Wochen nach dem Störfall musste der Vorsitzende des Reaktorsicherheitsausschusses der schwedischen Strahlensicherheitsbehörde SKI Björn Karlsson eingestehen, dass sich "durch die Klärung von Einzelheiten das Bild deutlich verschlechtert" habe.

In Schweden ist man sich daher darüber klar, dass nur ein glücklicher Zufall eine Katastrophe verhindert hat.

Komplexe Systeme haben immer Fehler, und je länger sie laufen, desto sicherer tritt der Fehler auf.

Anrede,Herr Minister Sander, in Forsmark war nicht etwa ein russischer Schrottreaktor am Netz. Nein, dort befand sich West-Europäische Spitzentechnologie im Einsatz.Schauen wir nach Deutschland: Seit Jahren fordern Experten vergeblich die Anpassung der mangelhaften Notstromversorgung des Atomkraftwerks Brunsbüttel an moderne Standards. Aus Protokollen und Sachverständigen-Gutachten geht hervor, dass die deutschen Aufsichtsbehören die Brunsbüttel-Betreiber Vattenfall und Eon seit 2002 vergeblich zu einer grundlegenden Modernisierung der Notstromversorgung des Reaktors gedrängt haben.Ein Störfall vor zwei Jahren im AKW Brunsbüttel war bereits ähnlich wie der in Forsmark. "Der äußere Ablauf war nahezu identisch", sagte der Sprecher des Brunsbüttel Mitbetreibers Vattenfall, Ivo Banek.Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) stellt in einer unveröffentlichten Analyse fest, "dass die in Brunsbüttel gefundenen Fehler sowohl bei Störfällen innerhalb der Auslegung als auch bei auslegungsüberschreitenden Ereignissen und bei weiteren zusätzlich zu unterstellenden Fehlern teilweise zu hohen Unverfügbarkeiten im Sicherheitssystem hätten führen können und so die Beherrschung der Ereignisse gefährdet hätten. Es hat sich zudem herausgestellt, dass die zum Teil vor über 20 Jahren vorgenommenen Inbetriebnahmeprüfungen verborgene Fehler in den komplexen Systemen nicht immer aufgezeigt hatten."Die Behauptung der Betreiber, ein Störfall wie in Schweden sei in deutschen Reaktoren nicht möglich, ist also definitiv falsch. Vermutlich würde ein Störfall im Detail anders ablaufen, aber auf kritische Situationen ist der Brunsbüttel-Reaktor erkennbar deutlich schlechter vorbereitet als der in Forsmark.Anrede:Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, Herr Sander:

Wer kann garantieren, dass Brunsbüttel ein Einzellfall ist? Wer kann garantieren, dass alle anderen deutschen AKW keinerlei Schwachstellen oder bis heute unerkannte Fehler aufweisen? Wer weiß mit Sicherheit, dass deutsche AKW keinerlei Planungsfehler oder sonstige schwerwiegende Mängel aufweisen, die in kritischen, bisher nie da gewesenen Situationen einen Reaktor außer Kontrolle geraten lassen können?

Weitere Untersuchungen sind aus unserer Sicht  dringend notwendig.
Die in unserem Antrag geforderte Überprüfung der Notstromsysteme aller AKW durch Gutachter, die nicht in die Regelprüfungen eingebunden sind, ist überfällig. Alle Konsequenzen aus Forsmark müssen geprüft werden.

Der Vorfall in Schweden hat erneut gezeigt, dass viele Atomkraftwerke nicht auf dem neuesten Stand der Technik sind. Vor allem die alten Reaktoren müssen daher als erste vom Netz.
In den nächsten Monaten wird auf AKW-Betreiber und Aufsichtsbehörden einiges an Arbeit zukommen. Der Bundesumweltminister erwartet von ihnen einen umfassenden Bericht zu der Fragestellung: "Kann Kurzschluss oder Blitzeinschlag dazu führen, dass die Sicherheitseinrichtungen ganz oder teilweise ausfallen."

Im Rahmen dieser Untersuchungen sollen die Aufsichtsbehörden dann auch die Genehmigungsunterlagen mit dem Ist-Zustand der jeweiligen Anlagen vergleichen, da es teilweise erhebliche Abweichungen gäbe.

Anrede

In den letzten Wochen haben wir viel über politische Lebenslügen aus den Reihen der CDU erfahren.

Verabschieden Sie sich am besten gleich heute von einer weiteren Lebenslüge – der atompolitischen Lebenslüge, dass Atomkraft in der Anwendung und im Betrieb sicher ist.

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