Pascal Mennen: Rede zu Legasthenie und Dyskalkulie (Antrag SPD/GRÜNE)

Rede Pascal Mennen© Plenar TV

TOP 29 – Antrag SPD/GRÜNE: Bildungsgerechtigkeit stärken: Nachteilsausgleich und Notenschutz für Schülerinnen und Schüler mit Legasthenie und Dyskalkulie ausbauen und weiterentwickeln

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
Sehr geehrte Abgeordnete,

in jeder Reihe des Plenums sitzen statistisch etwa zwei Personen mit Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) und zwei mit Rechenschwächen. Kennen Sie jemanden?

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erfahrung beginnen: Ich erinnere mich während meiner Zeit als Lehrer an eine Schülerin meiner Klasse, die in vielen Fächern große Stärken zeigte. Sie war engagiert, klug und ehrgeizig. Doch als in der Oberstufe der Notenschutz für ihre Rechtschreibung wegfiel, stand sie plötzlich vor einem unüberwindbaren Hindernis, ihre Rechtschreibung zählte auf Schlag in sämtlichen Fächern. Ihre Leistungen wurden nicht mehr an ihren fachlichen Kompetenzen, sondern an einer Schwäche gemessen, trotz Diagnose und zuvor gewährtem Nachteilsausgleich. Am Ende scheiterte sie an einer Hürde, die wir mit diesem Antrag endlich abschaffen wollen.

Dieses Beispiel steht für viele betroffene Kinder und Jugendliche. In Niedersachsen gibt es etwa 1,2 Millionen Schüler*innen. Schätzungen zufolge haben zwischen drei und acht Prozent von ihnen eine Legasthenie, bei Dyskalkulie sind es drei bis sieben Prozent. Das bedeutet, dass mindestens 100.000 junge Menschen in Niedersachsen von diesen Lernstörungen betroffen sind. 100.000 Kinder und Jugendliche, deren Potenzial wir vielleicht nicht voll zur Entfaltung bringen.

Wir haben uns zu diesem Thema mit dem Landesverband für Legasthenie und Dyskalkulie ausgetauscht, und auch auf dem großen Kongress des Landesschülerrates wurden der fehlende Notenschutz und Nachteilsausgleich und die unterschiedliche Handhabung thematisiert. Die LRS ist nach dem internationalen Klassifikationsschema ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine anerkannte Entwicklungsstörung schulischer Fähigkeiten mit den Behandlungsziffern F81.0 und F81.1

Sie bedarf einer qualifizierten Therapie, die andere Konzepte und Methoden als die Schule bedient. Aber sie darf die Betroffenen nicht von der Schule ausschließen.

Im schwarz-grünen Baden-Württemberg beispielsweise ist der Nachteilsausgleich in allen Klassenstufen – auch in Abschlussklassen und Prüfungen! – möglich und wird nicht im Zeugnis vermerkt.

 

Wir fordern deshalb unter anderem:

  • Eine Aktualisierung des seit 2012 ausgelaufenen Erlasses, um den Bedarfen von Schüler*innen mit Legasthenie und Dyskalkulie gerecht zu werden. Dabei möchten wir, dass auch moderne, zum Beispiel IT-gestützte Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs mitgedacht werden
  • Die Möglichkeit des Notenschutzes für Betroffene in der Oberstufe, damit sie faire Bildungschancen erhalten
  • Eine Ausweitung des Nachteilsausgleichs auf die Berufsbildenden Schulen
  • Eine enge Einbindung der Fachverbände, die mit ihrer Expertise sicherstellen, dass die Maßnahmen wirksam und praxisnah sind sowie
  • eine umfassende Informations- und Fortbildungsstrategie für Lehrkräfte, um Unsicherheiten im Umgang mit den betroffenen Schüler*innen abzubauen.

Sehr geehrte Abgeordnete,

es gibt Legastheniker*innen, die als Autor*innen, Journalist*innen oder Rechtsanwält*innen tätig sind – Berufe also, in denen viel verschriftlicht werden muss. Wurde ein Mensch mit einer Dyskalkulie gut gefördert, findet man ihn auch in mathematisch geprägten Berufen. Albert Einstein, Walt Disney, Bill Gates, Richard Branson, Jamie Oliver, Prinz Harry, Steve Jobs und Tom Cruise sind gute Beispiele. Helfen wir den Menschen, ihre Potenziale zu entfalten, und werfen ihnen nicht weitere Steine in den Weg.

Mit diesem Antrag schaffen wir mehr Gerechtigkeit. Es muss uns gelingen, Kinder und Jugendliche nicht mehr aufgrund einer Entwicklungsstörung von gleichen Chancen auszuschließen, sie nicht mehr ihrer Bildungsabschlüsse und Möglichkeiten zu berauben und sie nicht mehr dem Arbeitsmarkt zu entziehen. Ich freue mich auch im Sinne meiner ehemaligen Schüler*innen, die ich zu häufig scheitern sehen musste, dass wir mit unserem Antrag diese Gerechtigkeitslücke schließen werden.

Vielen Dank

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