Julia Hamburg: Erwiderung auf die Regierungserklärung "Niedersachsen in der dritten Welle"

- Es gilt das gesprochene Wort -

Frau Präsidentin liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich habe wirklich lange überlegt was ich heute sage und wie ich es heute sage. Die Entwicklungen der letzten Wochen und die Kehrtwende rund um die Osterruhe haben unser Land erschüttert und viele Menschen in eine Sinnkrise gestürzt. Herr Ministerpräsident, Ihre Rede hat mich fassungslos gemacht und ich glaube, wenn Sie jetzt in den Spiegel schauen und sich ernsthaft fragen würden, ob Sie die richtigen Worte in dieser schwierigen Lage gefunden haben, müssten auch Sie das mit Nein beantworten. Ihre Rede, Herr Ministerpräsident initiiert nichts, sie enthält nichts, um die Menschen die sich jetzt einmal mehr abfinden oder erschüttert sind, zurück zu gewinnen. Die Geschehnisse der letzten Wochen - das wissen wir doch alle - bringen vor allem diejenigen zum Verzweifeln, die seit mehr als einem Jahr die Regeln befolgen und auf deren Kooperation wir doch im Kampf gegen dieses Virus besonders angewiesen sind. Viele können nicht mehr und man muss ja sagen: selbst uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, fällt es doch schwer am Ende des Tunnels noch Licht zu sehen.

Ihre Rede, Herr Ministerpräsident lässt nicht im Ansatz erkennen, dass Sie aus dieser Situation gelernt haben und jetzt vorangehen wollen. Ihre Rede enthält nichts: keine Vision oder Perspektive, keinen Optimismus, keine Tatkraft. Aber das brauchen die Menschen doch gerade. Danach suchen sie seit Wochen bei Ihnen und auch bei der Bundesregierung. Die Umfragen zeigen: die Unzufriedenheit mit den Regierungen in Bund und Ländern wächst. Die Unzufriedenen, das sind längst nicht alles Coronaleugner, es geht auch nicht in erster Linie darum, endlich wieder shoppen zu gehen zu können.

Sondern: viele sind schockiert, dass der Staat es in den letzten Monaten nicht geschafft hat konsequent einzuschreiten. Die zweite Welle wuchs an und wurde viel zu zaghaft angegangen. Über viele Monate haben wir Einschränkungen gehabt und die Zahlen sind trotzdem nicht signifikant gesunken, weil die Maßnahmen schlichtweg nicht ausgereicht haben. Und dann hat die vorletzte Ministerpräsidentenkonferenz entschieden, in diese zweite Welle hinein zu lockern - aus dem Gefühl, dass die Leute es satthätten. Aber es fehlten die Begleitmaßnahmen, die Runde aus dem Kanzleramt hat ihre Hausaufgaben nicht erledigt. Die Konsequenz war, dass wir aus der zweiten Welle heraus in eine direkt steil ansteigende dritte Welle geraten. Und jetzt müssen wir feststellen: er herrscht wieder Planlosigkeit. Die Osterruhe ist zurückgenommen und Sie haben keine Antworten. Es ist nicht die Osterruhe, für die Sie sich entschuldigen müssen, Herr Ministerpräsident.

Dieser übereilte Beschluss zur Osterruhe kam doch nur zustande, weil Sie, Herr Ministerpräsident – so wie andere auch – mit leeren Händen in die Runde gegangen sind. Und genauso stehen Sie nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin wieder da: mit leeren Händen. Sie fahren eben nicht auf Sicht, Sie stochern im Nebel. Staatstragende Appelle und das Prinzip Hoffnung senken keine Zahlen. Die Menschen können und wollen es nicht mehr hören.

Und als hätten Sie das immer noch nicht gelernt, verkünden Sie nun, Sie wollen die dritte Welle brechen. Die Osterruhe scheidet jetzt ja aus und da fragt man sich doch als erstes: warum hatten Sie Konzepte, um die Industrie und die Wirtschaft runter zu fahren, nicht schon längst in der Schublade. Seit Monaten reden wir darüber, dass es notwendig ist, Kontakt zu reduzieren. Auch und gerade im Arbeitsleben, aber warum haben Sie nicht schon längst mit der Industrie und der Wirtschaft darüber gesprochen, wie auch sie bei steigenden Zahlen intervenieren können, um die Infektionen auch im Erwerbsleben signifikant zu senken?

Man bleibt inzwischen fassungslos zurück, angesichts dessen, dass Sie diese Form von Vorsorge nicht schon längst getroffen haben und wir Grüne fühlen uns darin bestätigt, dass es sinnvoll gewesen wäre, gleich zu Beginn einen Pandemierat einzurichten, dem relevante gesellschaftliche Akteure angehören. Um genau solche Maßnahmen miteinander zu planen und zu erörtern und abzuwägen, damit am Ende eben nicht ein solches Chaos entsteht.

Herr Ministerpräsident, Sie sagen, ein „Weiter So“ reicht nicht und bedienen sich jetzt aber trotzdem der gleichen Instrumente. Sie schränken die Bewegungsfreiheit im persönlichen Bereich weiter ein – zum Beispiel mit der geplanten Ausgangssperre. Aber Herr Ministerpräsident, eine Ausgangssperre ist eben kein Runterfahren der Gesellschaft, kein Schließen von Schulen und Kitas, um die Mobilität im öffentlichen Personennahverkehr und auf den Straßen wirklich einzudämmen.

Hören Sie auf, an der Stelle den Menschen Sand in die Augen zu streuen und sagen Sie uns klar und deutlich, wie Sie die dritte Welle brechen wollen.

Die Ministerpräsidenten-Konferenz hat als einzige Konsequenz nur noch das beschlossen, was vor drei Wochen schon beschlossen wurde. Herr Ministerpräsident, ich sage ihnen deutlich, das reicht nicht. Konsequent wäre es, jetzt den Arbeitsschutz endlich verbindlich vorzuschreiben und eine Testpflicht in Betrieben einzuführen, die Schulen und Kitas durch Investitionsprogramme mit mehr Infektionsschutz auszustatten und die Testung auch in Schulen und Kitas verbindlich vorzuschreiben.
Wo ist denn Ihr Mehr an Infektionsschutz? Sie begnügen sich doch lediglich mit einem „bitte-bitte“ und mit Hoffnungsrhetorik.

Und dabei sind wir doch jetzt in einer Situation, wo die landesweite Inzidenz schon bei über 100 liegt und Sie lassen es einfach laufen. Meine Kollegin Verena Schaeffer aus Nordrhein-Westfalen hat das Ergebnis Ihres letzten Treffens auf den Punkt gebracht: Wenn das Ihre Notbremse ist, möchte ich nicht in dem Zug sitzen, in dem Sie der Lokführer sind.

Womit ich bei Ihrem zweiten Baustein bin. Ihre Teststrategie kommt viel zu spät. Noch im letzten Jahr haben Sie das alles abgetan. Dafür, Herr Ministerpräsident könnten Sie sich entschuldigen, denn das ist es doch was den Menschen gerade wirklich auf den Geist geht. Sie wollen keine leeren Versprechungen mehr. Eine solche leere Versprechung war zum Beispiel die Testwoche an den niedersächsischen Schulen, die die Landesregierung auf Biegen und Brechen in dieser Woche starten wollte. Und die dann aufgrund der Lieferschwierigkeiten verschoben werden musste. Und da haben Sie eben nicht die Größe von Angela Merkel, das zuzugeben. Sie haben den Lehrkräften nicht nur unnötig Stress und Arbeit gemacht, sondern am Ende sind die Tests vielfach nicht da. Sie zerstören damit das Vertrauen in den nächsten Baustein nämlich die Testinfrastruktur in Niedersachsen. Eltern, Lehrer, Schüler - kaum einer glaubt daran, dass sie das wirklich hinkriegen und das ist bitter.

Nüchtern betrachtet hat doch die Ministerpräsidenten-Konferenz beim letzten Mal den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht, indem sie munter Lockerung versprochen hat, die dann am Ende nicht zu halten waren, weil die notwendige Testkapazität noch gar nicht vorhanden war. Das zerstört nicht nur Hoffnungen, sondern gefährdet am Ende auch genau den Erfolg. Modelle, die man am besten bei niedriger Inzidenz einführt und nicht in Kommunen mit hoher Inzidenz. Das, lieber Herr Ministerpräsident, sorgt am Ende für Frust und deshalb jetzt Ihre neueste Idee „Shoppen in Hochinzidenz-Kommunen“ mehr als unausgegoren. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: die Grüne Landtagsfraktion findet es richtig, Öffnungen und Tests miteinander zu kombinieren und wir fordern das seit Monaten von Ihnen ein. Aber warum senken Sie denn nicht erst durch Testen die Inzidenz in den Kommunen? Denn nur, wenn das erfolgreich ist, können weitere Öffnungen von Läden oder Kultureinrichtungen mit konsequenten Testungen geöffnet werden.

Warum hat Bildung angeblich für Ihre Landesregierung Priorität, wird aber dann bei den Tests und Öffnungen nicht mitbedacht? Herr Ministerpräsident, wie absurd ist das denn bitte, dass meine Tochter mit einem Schnelltest in die Shopping Mall gehen kann, aber immer noch nicht in ihre Schule gehen darf. Das müssen Sie doch bitte mal den Menschen draußen erklären, das versteht doch kein Mensch.

Und warum erforschen Sie nicht schon seit Wochen gezielt Infektionsbewegungen, gerade in den Kommunen, die Modellprojekte auf den Weg bringen wollen. Aus den Infektionsbewegungen könnten Lehren gezogen werden. Warum sind wir da noch nicht soweit, warum wird nicht erhoben, welcher Beruf welche Infektion nach sich zieht, welche sozialräumlichen Besonderheiten es gibt? Warum ziehen Sie aus all diesen Fragen nach einem Jahr Pandemie noch immer keine Konsequenzen.

Und vor allem, was ist denn Ihr Plan B für den Fall, dass das Testen in hoch in Hochinzidenz- Kommunen nicht funktioniert und die Zahlen nach oben knallen. Dann würde das doch diese Kommunen um Wochen, wenn nicht gar Monate zurückwerfen. Denken Sie doch mal an die Auswüchse die es in Sachsen gab. Herr Ministerpräsident, einen solchen Plan B konnte uns keiner ihrer Mitarbeiter gestern im Ausschuss erklären und das ist fahrlässig.

Und wie bereiten Sie sich eigentlich auf die Mutationen vor? Dazu hätte ich heute wirklich gerne etwas gehört, Herr Ministerpräsident. Denn das ist doch eine entscheidende Frage von Vorsorge und Weitsicht beim Krisenmanagement. Es gibt mittlerweile Viren, die sich durch die Nase nicht testen lassen.  Das heißt, dass Ihre Teststrategie womöglich in den nächsten Wochen und Monaten ein Rohrkrepierer wird, weil Sie vor allem auf diese Nasenschnelltests setzen.

Wo wir gerade bei Rohrkrepierer sind, möchte ich Ihnen noch etwas zur Abwasseruntersuchung sagen: Seit Januar fordern wir, dass Sie mit Blick auf die Mutationen in Niedersachsen auf Abwasseruntersuchungen setzen. Gestern also fast drei Monate später, hatten wir eine Unterrichtung im Sozialausschuss dazu, wo uns erzählt werden sollte, wie weit Niedersachsen da ist: Außer Allgemeinplätzen und man wisse nicht und in den Ländern mache das jeder anders, war nichts zu hören. Auch hier haben Sie eine Chance verpasst, in die Vorhand zu kommen und sich das Ausmaß und die Verbreitung von Infektionen in Niedersachsen anzuschauen. Die Universität Darmstadt hat hierzu ein Forschungsvorhaben laufen, das sehr erfolgreich ist und unabhängig von der Testbereitschaft der einzelnen Menschen funktioniert. Aber auch hier haben sie es verpasst, vor die Lage zu kommen.

Lassen Sie mich auf noch weitere Mutationen zu sprechen kommen, nämlich die brasilianische und die indische Variante, die nahelegen, dass diese irgendwann vielleicht gar nicht mehr durch Impfungen zu bekämpfen sind. Herr Ministerpräsident, ich stimme Ihnen vollkommen zu. Wir brauchen beim Impfen mehr Tempo, aber vor allem dürfen wir nicht durch das Risiko hoher Inzidenzen dazu beitragen, dass unsere eigenen Erfolge gefährdet werden: Denn es gibt einen entscheidenden Zusammenhang zwischen hohen Inzidenzen und Impfungen. Je mehr Ansteckungen wir haben, während wir viel impfen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich die Viren so weiterentwickeln, dass sie die Impfungen umgehen können. Und das müssen wir dringend verhindern.

Was aber können wir beim Thema Impfen tun? Da möchte ich beginnen mit dem Erwartungsmanagement. Auch heute erzählen Sie uns wieder, wie toll das sein wird, dass sie bis zum Sommer alle Menschen, die geimpft sein wollen, auch impfen können Das ist ein Versprechen, das bei vielen Menschen große Hoffnungen auslöst. Aber ich frage Sie: Womit sind diese Hoffnungen hinterlegt? Gestern im Ausschuss konnten wir hören, dass Johnson & Johnson der Impfstoff, auf den sie besonders viel Hoffnung legen, erst Ende Juni das erste Mal Lieferungen nach Deutschland vornehmen wird. Gleichzeitig erzählen Sie uns heute, dass auch die Liefermengen der anderen Impfstoffe wieder weit hinter den Erwartungen zurückliegen werden.

Da möchte ich Sie doch bitten, Herr Ministerpräsident: Lassen Sie uns vorsorgen und lassen Sie uns bei den Menschen nicht zu viele Erwartungen wecken. Denn es ist richtig: Wir müssen impfen, impfen, impfen: 24 Stunden sieben Tage die Woche! Wir müssen die Betriebs- und die Hausärzte mit einbeziehen. Und wir müssen uns vor allem möglichst keine Pannen mehr erlauben. Auch wenn Sie sagen, dass es bei den über 70-jährigen schon deutlich besser gelaufen ist, kann ich Ihnen sagen, dass auch hier noch deutlich Luft nach oben ist.

Aber am Ende wissen wir beide, dass wir auf die Menge der Impfstoffe, die wir erhalten, eigentlich keinen Einfluss haben. Umso wichtiger ist es doch, dass wir hier in Niedersachsen unsere eigenen Hausaufgaben machen und die bedeuten: Den Menschen eine realistische Perspektive geben, endlich den Stufenplan in Kraft setzen und gleichzeitig umsichtig bleiben, um die Zahlen niedrig zu halten, um die Erfolge unseres Impffortschritts am Ende nicht selber zu zerstören und uns auf den letzten Metern selbst ein Bein zu stellen. Deswegen ist doch die Perspektive: Niedrige Zahlen, testen, Abstand halten, weiterhin Investitionen in Hygienemaßnahmen tätigen und nicht allein auf den Impffortschritt zu schielen. Das muss in dieser Phase das A und O sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir alle sind gereizt und wir alle neigen deshalb dazu, schnell die Geduld zu verlieren. Und es geht allen Menschen in Niedersachsen so. Wenn wir so gereizt sind, dann neigen wir dazu, dafür ein Ventil zu suchen. Und man muss nüchtern feststellen: Politik bietet gerade viele Möglichkeiten, ein Ventil zu finden. Aber ich muss Ihnen sagen: Meine Fraktion hält wenig davon, jetzt in einen Übermittlungswettbewerb der Superlative und der Erregung einzusteigen, und auch nichts davon, jetzt aufgeregte und wilde Rücktrittsforderungen zu äußern. Denn gerade jetzt ist unsere Aufgabe als Politik, dass wir uns zusammenreißen und miteinander Lösungen präsentieren. Gerade jetzt in dieser Phase geht es um so viel mehr als nur um die Corona Krise.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir laufen zusammen einen Marathon und man muss feststellen: Die Politik hat sich gerade verlaufen. Aber aufgeben und nach Hause gehen ist gerade überhaupt keine Alternative. Deshalb noch einmal: Lassen Sie uns durchatmen, lassen Sie uns besinnen und das Ziel wieder in Sicht nehmen und dann besonnen weiterlaufen: Das sind wir den Menschen in Niedersachsen schuldig.

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