Gesetzentwurf: Gesetz zur Verwirklichung des Rechtes auf Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonder-pädagogischem Förderbedarf in der Schule

Der Landtag wolle das folgende Gesetz beschließen:

Gesetz

zur Verwirklichung des Rechtes auf Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Schule

Artikel 1

Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes

Das Niedersächsische Schulgesetz in der Fassung vom 3. März 1998 (Nds. GVB. S. 137), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 8.10.2008 (Nds.GVBl. Nr.20/2008 S.317), wird wie folgt geändert:

1.

§ 4 erhält folgende Fassung:

"§ 4Inklusion

Schülerinnen und Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen (§ 68 Abs. 1), sollen an allen Schulen gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern erzogen und unterrichtet werden, wenn auf diese Weise dem individuellen Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler entsprochen werden kann."

2.

§ 14 (1) erhält folgende Fassung:

(1) In der Förderschule können Schülerinnen und Schüler unterrichtet und erzogen werden, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen und Hören festgestellt worden ist. An der Förderschule können Abschlüsse der allgemein bildenden Schulen erworben werden.

3.

§ 59a (1) wird folgender Satz angefügt:

Die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Ganztagsschulen und Gesamtschulen darf nicht beschränkt werden.

4.

§ 68 erhält folgende Fassung:

"§ 68Schulpflicht bei sonderpädagogischem Förderbedarf

(1) Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, emotionale und soziale Entwicklung oder Sprache besuchen eine gemeinsame Schule mit anderen Schülerinnen und Schülern. Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören besuchen eine gemeinsame Schule mit anderen Schülerinnen und Schülern oder eine für sie geeigneten Förderschule.

(2) Die Erziehungsberechtigten entscheiden, ob ihre Kinder, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören festgestellt worden ist, eine gemeinsame Schule mit anderen Schülerinnen und Schülern oder eine für sie geeignete Förderschule besuchen.

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt zum 01.08.2010 in Kraft.

Für Schülerinnen und Schüler, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens am 01.08.2009 bereits eine Förderschule besuchen, gelten die bisherigen gesetzlichen Regelungen.

Begründung

  1. Allgemeiner Teil
  1. Anlass und Ziel

Seit Jahrzehnten setzen sich Eltern von behinderten Kindern nachdrücklich dafür ein, dass deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft anerkannt und ihnen die volle Teilhabe ermöglicht wird. Voraussetzung und Element dieser gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist ihr voller Zugang zu den regulären Schulen (vgl. "Salamanca-Erklärung" der Unesco von 1996).

1993 wurde der Grundsatz der Integration auch in das niedersächsische Schulgesetz aufgenommen. Der gemeinsame Unterricht wurde jedoch an den Vorbehalt geknüpft, dass "die organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten" vorhanden sind. In der schulischen Realität ist die Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bis heute die Ausnahme geblieben. Eltern, die ihr behindertes Kind in eine gemeinsame Schule schicken wollen, müssen noch immer einen regelrechten Hürdenlauf absolvieren und bleiben dennoch oftmals erfolglos. Die Aussonderung in eine Förderschule ist noch immer die Regel und die Integration in eine gemeinsame Schule die Ausnahme. So besuchten im Jahr 2006 6.308 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung eine Förderschule, 3.024 eine Tagesbildungsstätte, aber nur 239, also 2,5% der betreffenden Schülerinnen und Schüler eine Integrationsklasse (Antwort der Landesregierung vom 26.02.2007 auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 05.12.2006 "Entwicklung der Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Niedersachsen", Drs. 15/3566).

Am 30. März 2007 hat die Bundesregierung die im Dezember 2006 verabschiedete "Convention on the Rights of Persons with Disabilities" paraphiert. Der Bundesrat und der Bundestag haben im November und Dezember 2008 der Convention per Gesetz zugestimmt. In dieser Convention heißt es: "Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen. ”¦ bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Unterzeichnerstaaten sicher, dass ”¦ a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden; b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen (im englischen Original: inclusive), hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben; c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden; d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern; e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden."

Mit der Unterzeichung dieser Convention verpflichtet sich die Bundesrepublik, allen Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf den Zugang zu einem inklusiven Schulunterricht zu gewährleisten. Dazu muss auch das niedersächsische Schulgesetz angepasst werden.

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass sich ein gemeinsamer Unterricht deutlich positiv auf die Leistungs- und Intelligenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auswirkt. Auch die Leistungsentwicklung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler wird in integrativen Klassen zumindest nicht beeinträchtigt, sondern in vielen Fällen ebenfalls gefördert. Voraussetzung für einen erfolgreichen gemeinsamen Unterricht ist jedoch, dass in den allgemeinen Schulen die erforderlichen Bedingungen geschaffen werden (vgl. hierzu Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Inklusive Schule verwirklichen - sonderpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen").

Es soll deshalb nicht nur allen Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Zugang zu einem integrativen Unterrichtsangebot geöffnet, sondern die Förderschulen für die Bereiche Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache jahrgangsweise in die allgemeinen Schulen überführt werden. Für die Bereiche geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören soll ein Unterricht in Förderschulen noch angeboten werden, solange dies von einem Teil der Eltern gewünscht wird.

  1. Auswirkungen auf den Haushalt

Modellrechnungen belegen, dass ein integratives Schulangebot nicht teurer sein muss als das gegenwärtige Angebot der sonderpädagogischen Förderung (vgl. hierzu ebenfalls Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Inklusive Schule verwirklichen - sonderpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen"). Besonders teuer ist im Gegenteil das Parallelangebot von integrativem und separierendem Unterricht (vgl. dazu K. Klemm, U. Preuss-Lausitz, Gutachten zum Stand und zu den Perspektiven der sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Stadtgemeinde Bremen, Essen und Berlin, Juli 2008).

Für den Landeshaushalt sind die geplanten Änderungen kostenneutral. Bei den Schulträgern entstehen Mehrkosten durch die notwendige Ausstattung der allgemeinen Schulen. Demgegenüber sind deutliche Einsparungen möglich beim Betrieb der Förderschulen und bei den Schülertransportkosten.

  1. Zu den Gesetzesänderungen im Einzelnen:

Artikel 1

Zu  Nummer 1 (§ 4)

Der bisherige Vorbehalt im Niedersächsischen Schulgesetz, § 4, der gemeinsamen Unterricht vom Vorhandensein der erforderlichen organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten abhängig macht, ist mit dem in der Conventions on the Rights of Persons with Disabilities anerkannten Recht auf Bildung ohne Diskriminierung nicht zu vereinbaren. Er wird deshalb gestrichen.

Zu Nummer 2 (§ 14)

Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache können in einem gemeinsamen Unterricht mit anderen Schülerinnen und Schülern besser gefördert werden. Die hierfür erforderlichen Bedingungen sollen in den gemeinsamen Schulen geschaffen werden (vgl. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Inklusive Schule verwirklichen - sonderpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen"). Die Förderschulen für diese Schülerinnen und Schüler sollen in die allgemeinen Schulen integriert werden. Förderschulen soll es künftig nur noch für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen und Hören geben, solange ein Bedarf durch die Eltern in ausreichendem Maße besteht.

Zu Nummer 3 (§ 59a)

§ 59a (1) NSchG sieht vor, dass die Aufnahme in Ganztagsschulen und Gesamtschulen beschränkt werden kann, soweit die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität der Schule überschreitet. Der Landesbehindertenbeauftragte hat darauf hingewiesen, dass durch das Losverfahren die Rechte behinderter Schülerinnen und Schüler nicht eingeschränkt werden dürfen und eine Änderung dieser Regelung erforderlich ist. Keine Schule soll ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf ablehnen.

Zu Nummer 4 (§ 68)

Die Entscheidung, ob Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören eine gemeinsame Schule oder eine Förderschule besuchen, soll künftig auf ihre Erziehungsberechtigten übertragen werden. Eine Überweisung an eine Förderschule gegen den Willen der Erziehungsberechtigten ist mit dem Rechtsanspruch auf gemeinsamen Unterricht gemäß der UN-Convention nicht vereinbar.

Artikel 2

Die Änderungen sollen zum Schuljahr 2010/11 in Kraft treten. Bis dahin sollen die Lehrkräfte intensiv auf die neuen Aufgaben vorbereitet werden. (vgl. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Inklusive Schule verwirklichen - sonderpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen"). Die Förderschulen für die Bereiche Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache sollen jahrgangsweise in die allgemeinen Schulen integriert werden und als eigener Förderort auslaufen.

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