Gesetz zur Ergänzung des Europabezugs und zur Stärkung des Schutzes vor Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens in der Niedersächsischen Verfassung
Fraktion der SPD
Fraktion der CDU
Fraktion Bündnis90/Die Grünen
Der Landtag wolle das folgende Gesetz beschließen:
Artikel 1
Änderung der Niedersächsischen Verfassung
Die Niedersächsische Verfassung vom 19. Mai 1993 (Nds. GVBl. S. 107), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. November 2023 (Nds. GVBl. S. 258), wird wie folgt geändert:
- Artikel 1 Abs. 2 wird wie folgt geändert:
- Der bisherige Wortlaut wird Satz 1 und wie folgt geändert:
Die Worte „und Teil der europäischen Völkergemeinschaft“ werden durch die Worte „sowie der Europäischen Union“ ergänzt.
- Es werden die folgenden Sätze 2 und 3 angefügt:
„²Das Land Niedersachsen trägt zur Verwirklichung und Entwicklung eines geeinten Europas bei, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an Entscheidungen der Europäischen Union sichert. ³Das Land arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt die grenzüberschreitende Kooperation.“
- Es wird ein neuer Artikel 6d eingefügt.
„Artikel 6d
Schutz jüdischen Lebens
1Das Land schützt das friedliche Zusammenleben der Menschen und tritt Antisemitismus entgegen. ²Das Land fördert das jüdische Leben und die jüdische Kultur.“
- In Artikel 25 Abs. 1 Satz 2 wird das Wort „Gemeinschaft“ durch das Wort „Union“ ersetzt.
- In Artikel 55 Abs. 3 Satz 1 wird das Wort „Gemeinschaft“ durch das Wort „Union“ ersetzt.
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner Verkündigung in Kraft.
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Begründung
A. Allgemeiner Teil
I. Anlass und Ziel des Gesetzes
Auf Bundesebene hat der verfassungsändernde Gesetzgeber insbesondere durch die Änderung von Artikel 23 Grundgesetz (GG) im Jahr 1992 auf die europäische Integration reagiert. Seitdem ordnet Artikel 23 GG auch die Länder in das europäische Mehrebenensystem ein, indem er ihre Mitwirkung in europäischen Angelegenheiten postuliert. Die Landesverfassung hat diese Änderung bisher im Wesentlichen nicht nachvollzogen. Anders als etwa Artikel 23 Abs. 1 GG berücksichtigt die Landes-verfassung nicht die veränderte Stellung des Landes als solches in der europäischen Integration. Nach Artikel 23 Abs. 2 GG wirken die Länder durch den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Auch die dadurch entstandene Rolle der Länder in europäischen Angelegenheiten wird derzeit nicht in der Landesverfassung widergespiegelt. Gleiches gilt für die umfangreiche grenz-überschreitende Zusammenarbeit des Landes Niedersachsen sowie für die Rolle des Landes im Ausschuss der Regionen der Europäischen Union.
Der Großteil der Bundesländer hat mittlerweile ein Bekenntnis zur europäischen Integration in ihre Landesverfassung aufgenommen. Im Zentrum der Europäischen Union gelegen, ist das Land Niedersachsen nicht nur besonders durch das geeinte Europa geprägt, sondern hat sich - unabhängig von der jeweiligen Regierungsmehrheit - auch stets für eine Vertiefung der europäischen Integration eingesetzt. Niedersachsen profitiert nicht nur vom europäischen Binnenmarkt und den europäischen Grundfreiheiten, sondern auch von den Chancen, die die offenen Grenzen und der wechselseitige Austausch jedem Einzelnen für seine persönliche Entwicklung bieten. Der seit Februar 2022 anhaltende Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine verdeutlicht, dass das Friedensprojekt „Europäische Union“ wichtiger denn je ist. Innerhalb der EU geraten deren Grundwerte wie z. B. Rechtstaatlichkeit, Demokratie oder die Wahrung der Rechte von Minderheiten immer stärker unter Druck. Vor diesem Hintergrund stellt ein Bekenntnis zu den Grundwerten in der Landesverfassung ein wichtiges Signal zur Verteidigung der Europäischen Werte und der Europäischen Union dar. Dar-über hinaus ist Niedersachsen insbesondere über den intensiven grenzüberschreitenden Verkehr mit seinem europäischen Nachbarn, den Niederlanden, geprägt. Der Europagedanke ist bei den Bürge-rinnen und Bürgern des Landes tief verwurzelt. Dieser Prägung des Landes wird eine Bezugnahme in der Landesverfassung gerecht.
Neben der Stärkung des Europabezugs soll in die Niedersächsische Verfassung der Schutz jüdischen Lebens und der Kampf gegen Antisemitismus aufgenommen werden.
Der Schutz jüdischer Kultur und Gemeinschaften ist untrennbar mit den Grundwerten unserer offenen, demokratischen Gesellschaft verknüpft und damit eine unverzichtbare Aufgabe der wehrhaften Demokratie in Niedersachsen. Gerade Deutschland und damit auch das Land Niedersachsen tragen aufgrund der historischen Verantwortung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur eine besondere Verpflichtung, jüdisches Leben zu schützen und entschieden gegen Antisemitismus vorzugehen. Antisemitismus stellt nicht nur eine Bedrohung für jüdische Bürgerinnen und Bürger dar, sondern auch für die demokratische Grundordnung insgesamt. Mit der Änderung des Artikel 3 bekräftigt das Land Niedersachsen ausdrücklich seine Verantwortung, jüdisches Leben zu schützen und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten, um einen Beitrag zur Stärkung unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Werte zu leisten.
II. Voraussichtliche Kosten und haushaltsmäßige Auswirkungen
Keine
B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1 (Änderung der Niedersächsischen Verfassung):
zu Nummer 1 (Artikel 1 der Niedersächsischen Verfassung):
Die Ergänzung der Sätze 1, 2 und 3 spiegelt die unterschiedlichen Dimensionen des geeinten Europas wider, welches einerseits aus supranationalen und multilateralen Institutionen und andererseits aus bilateraler Kooperation auf staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene besteht.
Die Änderung in Satz 1 verdeutlicht Niedersachsens Stellung als Teil der Europäischen Union. Gleichzeitig werden die europäischen Staaten außerhalb der Europäischen Union durch die Ergänzung in Satz 2 zusätzlich angesprochen.
Die Bezugnahme auf das „geeinte Europa“ in Satz 2 vermeidet bewusst eine Reduzierung allein auf die Europäische Union. Diese ist ohne Zweifel der wichtigste Teil des europäischen Einigungsprozesses und fällt damit unter diesen Begriff. Hinzu kommen jedoch weitere europäische Institutionen wie etwa der Europarat.
Die Formulierung enthält mehr als nur ein Bekenntnis zum geeinten Europa, sondern verpflichtet das Land dazu, aktiv an der Verwirklichung und Entwicklung desselben mitzuwirken. Dies entspricht in-sofern der gleichlautenden Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland in der Staatszielbestimmung des Artikels 23 Abs. 1 GG, die zugleich Ausdruck des Prinzips der offenen Staatlichkeit ist. Durch den Beitrag des Landes zur Verwirklichung und Entwicklung des geeinten Europas entspricht es zugleich dem Friedensbekenntnis in Artikel 3 der Landesverfassung.
Der Begriff der „Verwirklichung“ knüpft an das Ziel der „Verwirklichung einer immer engeren Union“ in Artikel 1 des EU-Vertrages an. Er umfasst nicht nur das Unterstützen einer abstrakten Idee der europäischen Integration, sondern verpflichtet das Land auch dazu, zum Funktionieren der europäischen Institutionen beizutragen. Dazu gehört in erster Linie die Umsetzung europäischen Rechts sowie - soweit für ein Land möglich - die politische Mitwirkung an Entscheidungen der Europäischen Union bzw. anderer europäischer Institutionen. Der Begriff der „Entwicklung“ enthält - ähnlich wie Artikel 23 Abs. 1 GG - die Pflicht, dazu beizutragen, die europäische Integration an die jeweils aktuellen Bedürfnisse anzupassen und damit zukunftsfähig zu machen.
Ebenfalls in Anlehnung an Artikel 23 Abs. 1 GG wird in einer Struktursicherungsklausel festgeschrieben, welche Mindestanforderungen das „geeinte Europa“ - also insbesondere die Europäische Union - erfüllen muss, für deren Einhaltung sich das Land einzusetzen hat. Dazu gehören die grundlegenden Strukturprinzipien des Grundgesetzes und der Landesverfassung: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatsprinzip und der Föderalismus. Gerade für ein Land hat die separate Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips, die auch Artikel 23 Abs. 1 GG vorsieht, besondere Bedeutung. Da nach Artikel 23 Abs. 1 a GG der Bundesrat die Möglichkeit hat, den Gerichtshof der Europäischen Union wegen einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips anzurufen, führt die Verpflichtung auf das Subsidiaritäts-prinzip diesbezüglich auch zu einer besonderen Verantwortung des Landes, diese Möglichkeit im Geiste der offenen Staatlichkeit, aber zugleich unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für den föderalen Aufbau zu nutzen. Anders als in Artikel 23 Abs. 1 GG erfolgt keine gesonderte Erwähnung des Grundrechtsschutzes durch die Europäische Union, da dieser Teil des Rechtsstaatsprinzips ist und zudem die Grundrechte erst in Artikel 4 der Landesverfassung geregelt werden; es wäre systematisch verfehlt, den europäischen Grundrechtsschutz vor dem Grundrechtsschutz der Landesverfassung zu nennen.
Schließlich wird als notwendiges Strukturprinzip des geeinten Europas die Wahrung der Eigenständigkeit der Regionen und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen genannt. Im Sinne des europäischen Rechts ist das Land eine Region und wirkt insbesondere über den Ausschuss der Regionen an europäischen Entscheidungen mit. Die Struktursicherungsklausel legt fest, dass sich das Land dafür einzusetzen hat, dass dessen Rolle nicht hinter den derzeitigen Stand zurückfällt und möglichst weiter ausgebaut wird. Darüber hinaus erfolgt die Mitwirkung des Landes an der Verwirklichung des geeinten Europas insbesondere über den Bundesrat (Artikel 23 Abs. 2 GG) sowie durch Ländervertreter in Gremien der europäischen Institutionen (insbesondere gemäß Artikel 23 Abs. 6 GG). Die Mitwirkung über den Bundesrat ist ein kraft Grundgesetzes geltendes Gebot, das durch diese Regelung auch Teil der Landesverfassung wird.
Die bilaterale Seite der europäischen Integration findet in Satz 3 in zweierlei Hinsicht ihren Nieder-schlag: Zum einen nimmt der Satz Bezug auf die intensive bilaterale Kooperation des Landes mit anderen europäischen Regionen wie dem unmittelbaren Nachbarn Niederlande. Angesichts der historisch bedingten besonderen Verbindungen Niedersachsens zum Vereinigten Königreich können von der in Satz 3 normierten Zusammenarbeit auch europäische Staaten umfasst sein, die nicht zur Europäischen Union gehören.
Zum anderen nimmt Satz 3 Bezug auf die „grenzüberschreitende Kooperation“, die über den rein staatlichen Bereich hinausgeht und zivilgesellschaftlich getragen ist. Ohne Rechtsansprüche entstehen zu lassen, bringt Satz 3 die Unterstützung des Staates für grenzüberschreitende Kooperation auf zivilgesellschaftlicher Ebene zum Ausdruck. Damit ist es dem Land verwehrt, grenzüberschreitende Kooperation in der Zivilgesellschaft ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung zu verhindern. Die grenzüberschreitende Kooperation kann zudem nicht nur innerhalb der Zivilgesellschaft und auf Landesebene erfolgen, sondern auch durch verschiedene Formen der kommunalen Zusammenarbeit, zu denen insbesondere die Euregios gehören.
zu Nummer 2 (Artikel 6d der Niedersächsischen Verfassung):
Die Einfügung eines neuen Artikel 6d in die Niedersächsische Verfassung trägt der gesellschaftlichen und historischen Verantwortung des Landes Niedersachsen Rechnung, aktiv gegen Antisemitismus vorzugehen und jüdisches Leben nachhaltig zu schützen und zu fördern. Durch die Einfügung von Artikel 6d wird dieser Schutz und Förderauftrag als dauerhafte Verpflichtung des Landes ausdrücklich mit Verfassungsrang verankert.
Die Förderung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur ist ein zentraler Bestandteil einer vielfältigen Gesellschaft und würdigt die jahrhundertealte jüdische Geschichte in Niedersachsen. Durch die Aufnahme dieser Zielsetzung in die Verfassung wird sichergestellt, dass Niedersachsen seiner Verantwortung gerecht wird, jüdisches Leben langfristig zu fördern und zu schützen. Ziel des staatlichen Handelns muss es sein, jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Niedersachsen ein Leben in Freiheit, ohne Angst und in voller Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Mit dieser Regelung wird das Bekenntnis Niedersachsens zum entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus sowie zur Unterstützung jüdischer Einrichtungen und Kultur unmissverständlich bekräftigt. Die Aufnahme des neuen Artikels 6d verankert den Schutz jüdischen Lebens und die Förderung jüdischer Kultur als dauerhafte Verpflichtung des Landes mit Verfassungsrang.
Zu Nummern 3 und 4 (Artikel 25 und 55 der Niedersächsischen Verfassung):
Die Änderungen in den Artikeln 25 und 55 aktualisieren veraltete Formulierungen, die noch auf die Europäische Gemeinschaft verweisen. Seit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 ist die Europäische Union als Rechtsnachfolgerin an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft getreten.
Der Begriff „Europäische Gemeinschaft“ wird seither durch „Europäische Union“ ersetzt.
Zu Artikel 2 (Inkrafttreten):
Artikel 2 regelt das Inkrafttreten.