Evrim Camuz: Rede zur psychosozialen Prozessbegleitung in Gewaltschutzverfahren

Rede Evrim Camuz© Plenar TV

TOP 11: Situation von häuslicher Gewalt Betroffener verbessern – Modellprojekt „Psychosoziale Prozessbegleitung in Gewaltschutzverfahren“ fördern und umsetzen (Antr. SPD/Grüne)

- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,

"Das Private ist politisch." Die Worte der US-amerikanischen Aktivistin Carol Hanisch erinnern uns daran, dass häusliche Gewalt kein ausschließlich privates Problem ist. Gewalt, die hinter verschlossenen Türen stattfindet, betrifft uns alle. Sie ist ein Ausdruck struktureller Gewalt gegen Frauen und ein Spiegelbild tief verwurzelter Ungleichheiten in unserer Gesellschaft, die es zu überwinden gilt. Auch Femizide sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck bestehender patriarchaler Strukturen in unserer Gesellschaft.

Ein wesentlicher Aspekt der Gleichstellung von Frauen und Männern ist die Prävention von Gewalt gegen Frauen. Die Istanbul-Konvention verpflichtet uns dazu, aktiv zu werden, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Doch wie stellt sich die Situation in Niedersachsen dar?

Im Jahr 2022 wurden knapp 27.000 Fälle von häuslicher Gewalt bei der niedersächsischen Polizei registriert. Dies entspricht einem Durchschnitt von 74 Fällen pro Tag. Es ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer noch höher liegt. Diese Zahlen sind besorgniserregend und weisen im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von 11 % auf. Die Botschaft, die wir aus diesen Zahlen ziehen können oder vielmehr sollten, ist, dass wir noch mehr tun müssen in Niedersachsen.

Ein wesentlicher Aspekt ist die Berücksichtigung der Rechte von Opfern im Strafverfahren. In Niedersachsen besteht seit mehreren Jahren die Möglichkeit der psychosozialen Prozessbegleitung im Strafverfahren. Diese besondere Form der Unterstützung kann den Opfern dabei helfen, mit der möglichen Retraumatisierung im Zuge des Strafverfahrens umzugehen. Die Begleiterinnen und Begleiter informieren über den Ablauf des Verfahrens, sind darauf bedacht, die Belastungen für die Verletzten zu minimieren, und bieten im Bedarfsfall wichtige Hilfestellungen im Alltag.

Diese Form der psychosozialen Prozessbegleitung steht allen Verletzten offen, die durch eine Straftat besonders belastet sind. Insbesondere Kindern und Jugendlichen, aber auch Personen, die Opfer von Gewalt- oder Sexualdelikten geworden sind, kann dadurch geholfen werden. Der Abschlussbericht des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen lässt erkennen, dass diese Begleitung durchaus positive Auswirkungen auf die Stabilität und Zuverlässigkeit betroffener Zeug*innen hat. Sie hilft also nicht nur den Gewaltbetroffenen selbst, sondern trägt auch zum Ziel der Wahrheitsfindung im Strafverfahren bei.

Sollten wir also hier aufhören? Nein, vielmehr sollten wir die psychosoziale Prozessbegleitung auch beim präventiven Gewaltschutz berücksichtigen. Die Istanbul-Konvention beinhaltet nicht nur die Verpflichtung, geschlechtsspezifische Gewalt zu ahnden, sondern auch einen effektiven Schutz davor zu gewährleisten. Gewaltschutzverfahren können dazu beitragen.

Das Gewaltschutzverfahren steht im Lichte des Grundsatzes „Wer schlägt, muss gehen!“. So kann der Täter aus der Wohnung verwiesen werden, Annäherungs- und Kontaktverbote können erlassen werden.

Allerdings ist dieser Weg für Gewaltbetroffene häufig kein leichter. Auch das Gewaltschutzverfahren birgt das Risiko einer erneuten Traumatisierung der Opfer. Die Betroffenen werden durch die Schilderung des Geschehenen erneut mit den Erinnerungen daran konfrontiert. Die Konfrontation mit dem Täter in sog. Erörterungsterminen, die unbekannte Situation im Gerichtssaal, die Offenlegung intimer Details gegenüber dem als „fremd“ wahrgenommenen Gericht – all dies kann für die Betroffenen mit einer Belastung und möglicherweise auch Retraumatisierung verbunden sein.

Der von den jeweiligen Verfahrensordnungen vorgegebene Prozessablauf ist nicht in der Lage die Interessen der Opfer allseits zu wahren. Von Opfern wird häufig eine „Distanziertheit“ des Gerichts oder ein gewisses Misstrauen wahrgenommen, wenn Geschehensabläufe hinterfragt werden. Gewaltbetroffene haben die berechtigte Erwartung eines empathischen, vielleicht auch eher therapeutischen Umgangs mit ihnen im Gerichtssaal. Diese Erwartungshaltung kann das Gericht nur in Maßen erfüllen.

Damit der Grundsatz „Wer schlägt, muss gehen!“ nicht bloß ein leeres Versprechen bleibt, sondern mit Leben gefüllt wird, braucht es hier also Unterstützung der Betroffenen.

In diesem Zusammenhang kann die psychosoziale Prozessbegleitung einen wichtigen Beitrag leisten. Sie bietet den Opfern Stabilität, unterstützt sie umfassend und nimmt ihnen so das Gefühl des Ausgeliefertseins. Dies kann auch dazu beitragen, die Zuverlässigkeit ihrer Aussage zu stärken, was wiederum die Urteilsfindung der Justiz erleichtern kann.

Schließlich müssen wir uns auch an die Verpflichtungen erinnern, die Deutschland mit der Ratifizierung der Instanbul Konvention eingegangen ist. Danach sind Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen zu ergreifen, um eine sekundäre Viktimisierung Gewaltbetroffener zu verhindern. Das gilt auch für mögliche Retraumatisierungen im Gewaltschutzverfahren. Wir sind völkerrechtlich verpflichtet, Betroffenen geeignete Unterstützungsdienste zur Verfügung zu stellen, damit ihre Rechte im Gerichtsverfahren in gebührender Weise berücksichtigt werden. Dazu gehört eben auch, dass Betroffene nur dann effektiv von ihren Verfahrensrechten Gebrauch machen können, wenn sie sich in einem Zustand ausreichend psychischer Stabilität befinden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

füllen wir auch dieses völkerrechtliche Versprechen endlich mit Leben.

Ja, psychosoziale Prozessbegleitung ist ein Mittel des Strafverfahrens. Ja, beide Verfahrensordnungen, das Strafverfahren und das Gewaltschutzverfahren, haben unterschiedliche Funktionen und unterscheiden sich stark in ihrem Ablauf. Ist das ein Grund Gewaltbetroffenen den ihnen nach der Istanbul Konvention gebotenen Schutz zu verwehren? Nein.

Deshalb ist es sinnvoll, zunächst eine Projektgruppe einzusetzen, um konkrete Umsetzungsfragen zu klären. Doch sollten wir uns auch nicht hinter organisatorischen Fragen verstecken. Jetzt müssen wir das Signal aussenden, dass wir das Thema ernst nehmen und die Einführung einer psychosozialen Prozessbegleitung im Gewaltschutzverfahren kommen wird. Auch wir tragen hier Verantwortung für Gewaltbetroffene.

Effektiver Gewaltschutz im Kontext häuslicher Gewalt ist Landesaufgabe. Die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung im Gewaltschutzverfahren in Niedersachsen ist ein wichtiger Schritt, um den Schutz der Betroffenen zu verbessern und einen entscheidenden Beitrag zur Verhütung weiterer Gewalt zu leisten.

 

 

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