Evrim Camuz: Rede zur Häuslicher Gewalt (Antrag SPD/GRÜNE)

Rede Evrim Camuz© Plenar TV

Rede TOP 29: Mit mehr Entschiedenheit: Häusliche Gewalt bekämpfen (Antr. SPD/Grüne)

- Es gilt das gesprochene Wort -

„Die Scham muss die Seite wechseln.“

Herr Präsident, sehr geehrte Abgeordnete,

Dieser Satz, hat mich in den vergangenen Wochen zutiefst berührt. Geprägt hat ihn Gisèle Pelicot.

Gisèle Pelicot ging einen mutigen Schritt, der eine neue feministische Bewegung in Frankreich und weltweit entfachte. Sie stimmte zu, den Prozess gegen ihre Vergewaltiger, darunter auch ihren Ehemann, die sie jahrelang sedierten und misshandelten, öffentlich zu führen.

Dieser Prozess macht deutlich: Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache, kein Beziehungsdrama und erst recht keine Tragödie – sie geht uns alle an!

Jede vierte Frau in Deutschland erlebt in ihrem Leben mindestens einmal körperliche oder sexualisierte Gewalt. Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu ermorden, an jedem dritten Tag gelingt es ihm. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik von 2023 erhält die niedersächsische Polizei täglich durchschnittlich 48 Notrufe wegen der Misshandlung von Frauen. Häusliche Gewalt hat laut der Polizei in Niedersachsen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 10,7 Prozent zugenommen.

Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein Ausdruck tief verankerter patriarchaler Strukturen in unserer Gesellschaft. Das zeigt sich auch an der durchsiebten sozialen Struktur der Täter, die jahrelang Gisèle Pelicot vergewaltigten.

Ob in Akademiker- oder Arbeiterinnenkreisen; ob im Minirock oder komplett verhüllt; ob in der Schule oder im politischen Betrieb; ob im Bordell oder im Büro; ob im Freundes- oder Familienkreis:

Frauen erleben sexualisierte Gewalt. Jenseits von Frauenhäusern, die ausschließlich dazu dienen Frauen zu schützen, gibt es keinen sicheren Ort für Frauen.

Wir alle kennen die Statistiken und verklären sie dennoch ständig zu einem Problem anderer, das weit weg von der eigenen Realität stattfindet. Rein statistisch kennen auch wir Betroffene, sind betroffen; kennen Täter oder haben auch selbst Gewalt ausgeübt.

Dieser Zahlen sind wir uns bewusst. Wir kennen Stufenmodelle, die detailliert den Weg hin zu einem Femizid darstellen: Täter, die bereits durch Stalking oder häusliche Gewalt auf sich aufmerksam machten; Trennungen, die in Todes- und Suiziddrohungen enden und das fatale Ende: der Femizid.

All das wissen wir, all diese Statistiken liegen uns vor.

Und welche Mittel stehen unserer Polizei dagegen zur Verfügung? Gefährderansprache, ein zeitlich beschränkter Verweis aus der Wohnung, Ordnungsgeld. Wenig beeindruckend. Deshalb hilft es auch nicht nachhaltig. Das zeigt sich an den 648 Verstößen dagegen in 2023 in Niedersachsen. Auch gerichtlich können Betroffene vorgehen, aber das ist schwierig, weil körperliche Verletzungen häufig in der Zwischenzeit verheilt und die erlebte psychische Gewalt vor Gericht nur schwer belegbar sind.

Hier hat der Verein „Gewaltfrei in die Zukunft“ Abhilfe geschaffen. Der Verein hat eine geschützte App entwickelt, um Frauen über Hintergründe und Dynamiken von geschlechtsspezifischer Gewalt zu informieren, ohne sich einer dritten Person anvertrauen zu müssen. Außerdem bietet die App juristische Informationen sowie als zentrale Funktion ein Gewalttagebuch zur Protokollierung von Gewaltvorfällen zwecks Erleichterung der Beweisführung vor Gericht. Die ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) hat auf Initiative von Niedersachsen und Berlin einstimmig beschlossen, dass diese App bisher als Einzige den Sicherheitsanforderungen dieser sensiblen Daten gerecht wird und ihre Einführung ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung häuslicher Gewalt wäre.

Anrede,

nun sind wir gefragt! Die App soll hier stück für stück landesweit eingeführt werden. Dazu soll ein niedersächsisches Projektbüro eingerichtet werden, damit sichere Kommunikationswege gewährleistet und lokale Beratungsstrukturen berücksichtigt werden können. Niedersachsen ist als Flächenland besonders geeignet, weil gerade im ländlichen Raum, wo Hilfsangebote im Allgemeinen weniger verbreitet sind als in der Stadt, die App ihre Vorteile ausspielen kann.

Der zweite wichtige Teil unseres Antrags befasst sich mit der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung (umgangssprachlich „Elektronische Fußfessel). Kontakt- und Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz erweisen sich als zahnloser Tiger, wenn Täter ständig gegen diese verstoßen. Daher setzt Spanien bereits seit 2009 bei der Überwachung von Kontakt- und Annäherungsverboten auf ihren Einsatz. In den ersten zehn Jahren wurde im Rahmen des Programms keine Frau getötet, entweder weil das Kontaktverbot beachtet wurde oder die Polizei rechtzeitig eingreifen konnte.

In mehreren Bundesländern ist der Einsatz einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung im Kontext häuslicher Gewalt möglich.

In Niedersachsen besteht diese Möglichkeit im NPOG bisher nur im Kontext der Führungsaufsicht oder terroristischer bzw. schwerer organisierter Straftaten. Wir wollen aber mit unserem Antrag erreichen, dass die EAÜ bundesweit eingeführt wird, weil eine Lösung auf Landesebene die schlechtere und kürzer greifende Lösung wäre.

Ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Länderregelungen muss vermieden werden. Deshalb streben wir eine Änderung des Gewaltschutzgesetzes durch den Bund an.

Die Justizminister*innenkonferenz (JuMiKo) hat den ehemaligen Bundesjustizminister schon 2023 gebeten, die Aufnahme der elektronischen Fußfessel in das Gewaltschutzgesetz aufzunehmen. Bisher leider ohne Erfolg.

Für den Fall, dass sich auf Bundesebene wenig bewegt, werden wir hilfsweise eine niedersächsische gesetzliche Regelung für die elektronische Fußfessel bei häuslicher Gewalt vorlegen.

Ich bitte hierfür um Ihre wohlwollende Prüfung in den Ausschüssen und freue mich auf die Beratungen.

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