Antrag: Vernehmungen im Strafverfahren kindgerechter gestalten

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90/Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

In Deutschland kommen Tausende Kinder jedes Jahr in Berührung mit dem Justiz-und Verwaltungssystem. Besonders als Opfer und Zeug*innen in Strafprozessen können sie in gleichem Maße wie Erwachsene betroffen sein. Die Vernehmung von Zeug*innen ist ein essentieller Bestandteil eines Strafprozesses. Aufgrund des Mündlichkeitsgrundsatzes des Strafprozesses können grundsätzlich keine Vernehmungsprotokolle verlesen werden. Nur der mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff darf dem Urteil zugrunde gelegt werden. Gerade für Opfer sexueller Gewalt kann die Begegnung mit den Angeklagten sehr belastend und unter Umständen auch retraumatisierend wirken. Daher ist es wichtig, sie bestmöglich zu schützen und altersentsprechend zu behandeln. Um den Schutz von Zeug*innen und Opfern zu gewährleisten, gibt es Vorschriften, die Zeug*innen vor den Angeklagten schützen sollen, während deren Interesse an vollständiger und wahrheitsgemäßer Aufklärung des Sachverhalts gewahrt wird.[1] In §  247 StPO werden Ausnahmen normiert, in denen die/der Angeklagte während der Vernehmung von Zeug*innen nicht anwesend sein darf, also den Raum verlassen muss. In diesen Fällen wird das Recht der/des Angeklagten auf rechtliches Gehör jedoch eingeschränkt, muss er/sie sich auf die anschließende Unterrichtung des Richters verlassen. Auch wenn die Verfolgung der Vernehmung über Bild-Ton-Übertragungen möglich ist, können technische Fehler auftreten, für die allein der/die Richter*in haftet. In der Praxis wird häufig das Verfahren gerügt, da sich der Zeitraum der Abwesenheit der/des Angeklagten nur auf die Vernehmung an sich beschränkt, mögliche Vereidigungen oder Inaugenscheinnahmen in Abwesenheit der/des Angeklagten ihr/sein Recht verletzen.

Im Gegensatz dazu ermöglicht der § 247a StPO die Vernehmung von Zeug*innen über audiovisuelle Methoden. Diese Videovernehmung kann die/der Angeklagte im Sitzungssaal mitverfolgen und braucht sich nicht auf die Wiedergabe der Aussage durch die/den Richter*in verlassen. Dabei fehlt die in § 247 StPO angelegte Differenzierung zwischen minderjährigen und volljährigen Zeug*innen in dem neueren § 247a StPO vollständig.

Zahlreiche Studien zeigen, dass der Kinder- und Jugendschutz im deutschen Justizapparat nicht den internationalen menschenrechtlichen Anforderungen oder den Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz entspricht. Die Enquetekommission der Landesregierung zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Verhinderung von Missbrauch und sexueller Gewalt an Kindern kam in ihrem Abschlussbericht 2022 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Senkung der Hürden für die Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung in § 247a StPO zur Förderung einer kindgerechten Justiz beiträgt.

Vor diesem Hintergrund fordert der Landtag die Landesregierung auf,

sich im Rahmen einer Bundesratsinitiative für eine Änderung des § 247a StPO dahingehend einzusetzen, dass die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeug*innen bereits dann zulässig ist, wenn ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Zeug*innen zu befürchten ist.

Begründung

Bisher besteht eine Diskrepanz zwischen dem Zeugenschutz in § 247 StPO und § 247a StPO. Gem. § 247 Satz 2 StPO ist die Entfernung eine*r Angeklagten bei der Vernehmung von minderjährigen Zeug*innen bereits dann zulässig, wenn ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Zeug*innen zu befürchten ist. Dagegen ist für die audiovisuelle Vernehmung gem. § 247a Abs. 1 Satz 1 StPO das Bestehen einer dringenden Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl de*r Zeug*innen erforderlich. Es wird zudem bei der audiovisuellen Vernehmung nicht zwischen minderjährigen und volljährigen Zeug*innen unterschieden. Die Anforderungen für die audiovisuelle Vernehmung sind folglich höher als die Anforderungen für die Entfernung der/des Angeklagten aus dem Sitzungssaal. Dabei kommt nicht nur der Schutz Minderjähriger zu kurz, sondern auch das Anwesenheitsrecht der/des Angeklagten wird in Folge des vermehrten Rückgriffs auf § 247 StPO häufiger eingeschränkt.

Da die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ein absoluter Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 5 StPO ist, birgt die Anwendung des § 247 StPO die Gefahr der Aufhebung des Urteils, wenn die/der Angeklagte für einen längeren Zeitraum als die bloße Vernehmung der/des Zeug*in aus dem Sitzungssaal entfernt wurde. Bereits die Verhandlung über die Entlassung einer/eines Zeugin/Zeugen ist nicht mehr von § 247 StPO umfasst und führt zu einer unzulässigen Verhandlung in Abwesenheit der/des Angeklagten, in dessen Folge das Urteil aufgehoben wird.[2] Auch die Inaugenscheinnahme von Beweismitteln im Rahmen der Zeug*innenvernehmung ist bereits unzulässig.[3] Dem steht auch nicht entgegen, dass die/der Angeklagte in einem Nebenzimmer die Zeug*innenaussagen über Bild-Ton-Übertragung verfolgen kann.

In der Folge kann bereits nicht sichergestellt werden, dass sich die/der minderjährige Zeug*in und die/der Angeklagte begegnen. Die audiovisuelle Vernehmung geschieht dagegen in Anwesenheit der/des Angeklagten, jedoch ohne die Gefahr, dass sich Opfer und Täter begegnen könnten. Der Schutz der minderjährigen Zeug*innen kann mithin besser gewährleistet werden. Ferner sinkt das Risiko von Verfahrensfehlern, wenn die/der Angeklagte der Vernehmung auf diesem Wege beiwohnen kann.


[1] Diemer, KK-StPO, 9. Auflage, 2023, StPO § 247, Rn. 1.

[2] BGH, Beschluss vom 05.12.2013, 2 StR 387/13.

[3] BGH, Beschluss vom 19.11.2013, 2 StR 379/13.

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