Antrag: Verdrängung von Haupt- und Realschülern vom Ausbildungsmarkt 2011 und 2012 verhindern - Landesprogramm für 10.000 zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Im kommenden Jahr werden in Niedersachsen wegen der Verkürzung des Abiturs auf zwölf Jahre rund 25.000 AbiturientInnen mehr und damit 100.000 SchülerInnen insgesamt die Schule verlassen. Zusätzlich wird die geplante Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes mit bisher ca. 15.000 besetzten Plätzen pro Jahr aus Niedersachsen dazu führen, dass auch von dieser Gruppe ein Großteil in 2011 ein Studium oder eine Ausbildung beginnen möchte.

Für Jugendliche mit Studienwunsch stehen im Vergleich zu 2010 im nächsten Jahr in Niedersachsen bisher rund 6.000 zusätzliche Studienanfängermöglichkeiten offen. Für Jugendliche, die eine Ausbildung suchen werden, hat die Landesregierung dagegen außer Appellen im Rahmen des Ausbildungspaktes keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, den Bedarf an zusätzlichen Lehrstellen abzudecken. Dabei ist zu befürchten, dass die zusätzlichen AbiturientInnen und nicht zur Wehrpflicht Eingezogenen in 2011 und im Nachlauf auch 2012 mangels Alternativen noch viel stärker als in den Vorjahren Druck auf den Ausbildungsmarkt ausüben und weniger qualifizierte BewerberInnen direkt oder indirekt verdrängen. Dies wiegt in Niedersachsen umso schwerer, weil im Bundesvergleich Niedersachsen nach Schleswig-Holstein schon jetzt mit 23.000 Jugendlichen anteilig die meisten jungen Frauen und Männer in Übergangssystemen hat. Trotz des demografischen Rückgangs der Schulabsolventen wird der Anteil der Jugendlichen in den oft unproduktiven Warteschleifen 2011 noch weiter erheblich ansteigen, wenn die Wirtschaft und die Landesregierung nicht entschieden mit zusätzlichen Angeboten dagegen halten.

Zugleich nehmen jedoch Bund und Land 2011 Kürzungen im Bereich Arbeit und Qualifizierung vor. Die Bundesagentur für Arbeit will 2011 die Mittel um 1,3 Milliarden Euro kürzen. Rund 130 Millionen Euro weniger wird Niedersachsen erhalten. Manche ArGen müssen im kommenden Jahr nur mit der Hälfte der bisherigen Mittel haushalten und können einen Großteil an Ausbildungsangeboten für schwächere Jugendliche nicht aufrecht erhalten, was trotz Aufschwungs zu einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit führen würde. Das Land plant im Haushalt 2011 bisher 2 Millionen Euro weniger einzusetzen – u.a. für Ausbildung, Qualifizierung und Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Zugleich ist der aktuellen Übersicht der von Niedersachsen bisher bewilligten EU Fördermittel z.B. in den Bereichen "Integration in den Arbeitsmarkt", "Ausbildungsplatzaquisiteure" oder "Ausbildungsplätze 2000x2500" eine weit unterdurchschnittliche Ausnutzung der Töpfe zu entnehmen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

Folgende Maßnahmen sollen dazu beitragen, den absehbaren Mangel auf dem Ausbildungsmarkt 2011 und 2012 zu mindern, und über die freiwilligen Vereinbarungen im Ausbildungspakt hinaus mindestens 7.000 zusätzliche Ausbildungsplätze 2011 und noch einmal 3.000 zusätzliche Ausbildungsplätze 2012 primär im Dualen System zu schaffen:

  1. Die Landesregierung streicht 2011 keine Mittel im Bereich Arbeit und Qualifizierung und bündelt vorhandene ESF-, EFRE- und GRW-Mittel für die folgenden Punkte mit dem Ziel, in den Jahren 2011 und 2012 für Jugendliche in Niedersachsen zusätzlich zu den Vereinbarungen im Ausbildungspakt insgesamt 10.000 neue Ausbildungsplätze anzubieten.
  2. Die Landesregierung legt ein Landesprogramm "Ausbildung statt arbeitslos", aus BA- und ESF-Mitteln von 2011 bis 2014 für lern- und sozial beeinträchtigte NeubewerberInnen auf. Das Programm beinhaltet eine grundlegende Weiterentwicklung des alten Programms "2000 mal 2500": Neben der neuen Zielgruppe erhalten die Betriebe statt einmalig 2.500 Euro pro Ausbildung jährlich zu jedem Ende eines Ausbildungsjahres bis zu 2.000 Euro.
  3. Die künftige Vergabe von den übrigen EFRE- und GRW-Wirtschaftsfördermitteln erfolgt in der aktuellen Förderperiode im Rahmen ihrer inhaltlichen Zweckbindung ausschließlich an Betriebe, die 2011 und 2012 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.
  4. Die Landesregierung unterstützt und baut systematisch die modulare Ausbildung nach dem Vorbild der Kooperation von Jobcenter Hannover und IHK Hannover (hier z.B. für die Ausbildung zu FachlageristIn und VerkäuferIn) auch für geeignete andere Berufe auf.
  5. Die Landesregierung setzt sich für die Weiterführung und, bei überzeugenden Konzepten in Ausbildungsplatz-Mangelregionen, auch für den Ausbau von überbetrieblichen Ausbildungsmaßnahmen mit Kammerprüfung in Jugendwerkstätten und bei anderen Trägern ein.
  6. Die Landesregierung setzt sich über den Bundesrat dafür ein, dass die Bundesagentur für Arbeit die bisher vorgesehene Kürzung ihrer Arbeitsförderungsmittel um 1,3 Mrd € für 2011 nicht umsetzt, um unter anderem das bundesweite Programm "Ausbildungsbonus" für lern- und sozial benachteiligte AltbewerberInnen weiter zu entwickeln und über den 31.12.2010 hinaus weiter zu führen. Am Ende eines jeden Ausbildungsjahres erhalten Betriebe mit zusätzlichem Ausbildungsangebot dabei 2.000 Euro, also insgesamt 6.000 Euro. Außerdem wird das aufwendige Antragsverfahren vereinfacht: Eine Selbsterklärung des Betriebes zum Durchschnittswert seiner Ausbildungsplätze soll künftig genügen.

Begründung

Ein Fehlstart nach dem Schulabschluss in das Berufsleben demotiviert und schwächt die Lern- und Integrationsbereitschaft aller Betroffenen. Dies führt oft nicht nur zu einem verzögerten Start mit individuellem Zeitverlust und kollektivem Verlust in den Sozialkassen: Je mehr betroffen sind und je länger das Warten auf eine echte Einstiegschance in Ausbildung und qualifizierte Beschäftigung dauert, desto mehr junge Menschen weichen in ungelernte Arbeit aus. Laut aktueller Prognos-Studie werden bundesweit bereits 2015 rund 3 Millionen qualifizierte Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt fehlen, 2030 sollen es dann sogar 5,2 Millionen sein. Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt betont: "Wir brauchen daher eine nachhaltige Qualifizierungs- und Weiterbildungsinitiative." Es ist eine gemeinsame Pflichtaufgabe von Arbeitgebern und Politik, dem doppeltem Abiturjahrgang und Wegfall der Wehrpflicht bzw. dem Zivildienst im kommenden Jahr in Niedersachsen konstruktiv zu begegnen und durch mehr Ausbildungsangebote im Rahmen des Ausbildungspaktes und zusätzliche öffentliche Förderung das duale Ausbildungsangebot bedarfsgerecht auszuweiten.     

Laut einer Vorlage der Bundesagentur für Arbeit (BA) haben bislang bis zu knapp 30 Prozent der AbiturientInnen eines Jahrgangs eine duale Ausbildung begonnen. Die Kultusministerkonferenz rechnet für Niedersachsen in 2011 mit einem Plus von gut 25.000 Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr. Unter Berücksichtigung des derzeit noch moderaten Rückgangs an Absolventen von Haupt- und Realschulen ergibt sich laut BA allein daraus ein Zusatzbedarf von 6.500 Ausbildungsplätzen im nächsten Jahr. Dies gilt nur, wenn in allen anderen Feldern der Zukunftsplanung der AbiturientInnen 2011 von Studium über Freiwilligendienste bis Auslandsaufenthalt ebenfalls das Angebot deutlich ausgeweitet wird, um einen noch höheren Andrang zur Ausbildung zu vermeiden.

Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt wird sich nämlich durch das Aussetzen der Wehrpflicht und des Zivildienstes noch erheblich verschärfen: Rund 7.000 Jugendliche traten 2009 in Niedersachsen den Wehrdienst und 8.000 den Zivildienst an. Ein wesentlicher Teil dieser in den Vorjahren gebundenen Gruppe wird in 2011 ebenfalls zusätzlich nach einer Lehrstelle suchen. Der zusätzliche Bedarf an Ausbildungsplätzen in Niedersachsen liegt damit in 2011 bei mindestens 10 bis 15.000, mit einem Nachlauf in 2012 von wiederum mehreren tausend Plätzen. Der Bedarf von mehr als 20 % zusätzlichen Lehrstellen wird nach bisheriger Erfahrung durch die freiwilligen Leistungen der Wirtschaft im Rahmen des Paktes nicht gedeckt werden können.  

Die Landesregierung hat die Herausforderung auf dem niedersächsischen Ausbildungsmarkt in den kommenden beiden Jahren bisher leider nur publizistisch bearbeitet: In der Broschüre "Meine Chance 2011" heißt es: "Kein Abschluss ohne Anschluss" und dass "alle eine Perspektive für ihre berufliche Perspektive erhalten. Uns ist wichtig, dass jeder einzelne Schulabsolvent bestmöglich für den Berufsstart [”¦] vorbereitet ist." In einem anderen Informationsblatt "Ein starker Jahrgang" rühmt sich die Landesregierung, "bereits frühzeitig alle Anstrengungen gebündelt [zu haben], um für alle Jugendlichen unabhängig von der Schulform [”¦] genügend [”¦] Ausbildungsplätze anbieten zu können". Im "Niedersächsischen Aktionsplan zur Verbesserung von Studien- und Ausbildungschancen 2011 und 2012" schränkt die Landesregierung ihr Engagement dann wieder auf "ausbildungsfähige sowie –willige" SchulabsolventInnen ein – eine Bezeichnung, die objektiv kaum zu verifizieren ist, aber viel Spielraum bei der Bewertung lässt.

Tatsächlich hat die Landesregierung im Vergleich zu 2010 bisher aber nur rund 6.000 zusätzlichen Studienanfängermöglichkeiten für 2011 für AbiturientInnen in Aussicht gestellt. Keine aktiven und eigenen Anstrengungen unternahm die Landesregierung bislang jedoch für Absolventinnen aller Schulformen, die einen Ausbildungsplatz suchen werden. Zwar erkennen auch CDU und FDP an, dass zusätzliche Ausbildungsplätze 2011 nötig seien, an den Rahmenbedingungen für die Schaffung dieser Lehrstellen beteiligt sich die Landesregierung jedoch nicht und beschränkt sich statt dessen auf Appelle an die ausbildende Wirtschaft. Die Auswirkungen der wegfallenden Wehrpflicht und des Zivildienstes auf den Ausbildungsmarkt hat die Landesregierung bislang noch gar nicht berücksichtigt. Gleichzeitig streicht die Landesregierung in ihrem Haushaltsentwurf für 2011 rund 2 Millionen Euro im Bereich Arbeit und Qualifizierung.

Alle aktiven Akteure des Ausbildungsmarktes rechnen mit erhöhtem Konkurrenzdruck und der Verdrängung schwächerer SchülerInnen in 2011 und 2012 in Niedersachsen. In einem stufenweisen Gefälle werden AbiturientInnen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz RealschülerInnen verdrängen, diese wiederum werden die Mitkonkurrenten von den Hauptschulen verdrängen. Am unteren Ende der Ausbildungsmarktskala werden viele junge Frauen und Männer in den kommenden Jahren noch weniger Chancen auf eine Ausbildung und einen Einstieg in den Beruf haben als in den Jahren zuvor. Während sich die Wirtschaft auf die große Auswahl bestgebildeter BewerberInnen freut, ist es politisch unverzichtbar, "frühzeitig" auch für die vorzusorgen, die zu den Verlierern des doppelten Abitur-Jahrgangs gehören werden.

Das gelingt unter anderem durch eine veränderte Neuauflage des Landesprogramms "2000 mal 2500", für das ESF-Mittel in der Förderperiode 2007-2013 eingestellt sind, die bislang nur zu rund einem Siebtel abgerufen sind. Zur besseren Breitenwirkung soll die Fördersumme auf bis zu 2000 € pro Ausbildungsjahr aufgestockt und die Bewilligung unter dem Titel "Ausbildung statt Arbeitslos" auf NeubewerberInnen konzentriert und vereinfacht werden.

Ähnliches gilt für die Fortführung und Weiterentwicklung des Bundesprogramms "Ausbildungsbonus", das bisher wegen der Etatkürzungen der Bundesagentur  Ende 2010 auslaufen soll und sich an AltbewerberInnen richtet. Bislang nahmen Betriebe das Programm zögerlich an, weil das Antragsverfahren umständlich und die Unterstützung stärker nötig wäre. Dazu schlägt der Antrag entsprechende Bedarfsanpassungen des Bundesprogramms vor.

Indem ein optimiertes Landesprogramm sich auf NeubewerberInnen beziehen soll, trennt Niedersachsen die Zielgruppen des Bundes- und des Landesprogramms und hält sich damit an die EU-Vorgaben, die bislang die Fortführung des Programms "2000 mal 2500" verhindert haben.

Da Niedersachsen kurzfristig sehr viele zusätzliche Lehrstellen benötigt, sind dafür auch die Ausbildung in Teilabschnitten und in überbetrieblichen Verbünden, wie sie sich in Modellverfahren bewährt haben, für die vier Jahre ab 2011 auszubauen. Außerdem sind Fördergelder aus EFRE und GRW in der laufenden Förderperiode zukünftig grundsätzlich an die Schaffung von Ausbildungsplätzen zu koppeln, um auch diesen Hebel zur Aufstockung der Ausbildungsangebote zu nutzen.

Niedersachsens Wirtschaft braucht alle jungen Menschen, die 2011 und 2012 in deutlich höherer Zahl auf den für die geringer qualifizierten Jugendlichen bereits heute nicht ausreichenden Ausbildungsmarkt strömen. Deshalb müssen alle genannten Anstrengungen auf Seiten der Politik, der Wirtschaft und der Jugendlichen zugleich unternommen werden.

Gabriele Heinen-Kljajic

Parlamentarische Geschäftsführerin

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