Antrag: Schule darf nicht krank machen -Druck aus dem Turbo-Gymnasium nehmen

Kinderärztinnen und Kinderärzte stellen fest: Die Schulangst in Niedersachsen nimmt zu. Kopfschmerzen, diffuser Bauchschmerz und Schlafstörungen sind einige Symptome der Kinder, die mit dem Druck am Turbo-Gymnasium durch die überstürzte schwarz-gelbe Schulzeitverkürzung nicht fertig werden. In unverantwortlicher Weise hat die Landesregierung Schulen, Eltern und Kommunen unvorbereitet in das Abenteuer Schulzeitverkürzung geschickt. Der dadurch entstehende Stress und die Belastungen reichen bis weit in das Familienleben hinein. Vieles, was eine glückliche und lebendige Kindheit und Jugend ausmacht, bleibt auf der Strecke.

Statt sich einer Diskussion über die sich zuspitzenden Probleme zu stellen und die grundlegenden, unabdingbaren konzeptionellen Voraussetzungen für eine sinnvolle Schulzeitverkürzung zu schaffen, hat der für die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur verantwortliche ehemalige Kultusminister Busemann versucht, die Probleme auf die eigenverantwortlichen Schulen abzuschieben. Auch die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz vom März 2008 bringen für die niedersächsischen Gymnasien keine Lösung.

Es muss unverzüglich grundsätzlich umgesteuert werden. Wir brauchen eine Schule, die Leistung, nachhaltigen Lernerfolg und Chancengleichheit sichert und keine, die Kinder krank macht. Kinder müssen das Recht auf eine gute Bildung und eine lebendige Kindheit und Jugend haben.

Der Landtag fordert deshalb die Landesregierung auf, auch die Gymnasien pädagogisch so umzugestalten, dass die Überforderungder Schülerinnen und Schüler beendet, die Lernfreude wieder geweckt, die Lernergebnisse verbessert und eine individuelle Förderung ermöglicht wird.

  1. Statt die Schulzeit bis zum Abitur einheitlich auf 12 Jahre festzulegen, bekommen die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, je nach ihrem persönlichen Lerntempo das Abitur nach einer unterschiedlichen Zeitdauer zu erlangen. Dafür können auch die Sekundarstufen I und II in Stufen mit altersgemischten Lerngruppen gegliedert werden, die in individuell unterschiedlicher Zeit, durchlaufen werden können. Die eigenverantwortlichen Schulen können in Abstimmung mit dem Schulträger entscheiden, ob sie das Abitur in echten Ganztagsschulen nach Klasse 12, nach jeweils individueller Lernzeit oder nach Klasse 13 vergeben.
  2. Die Gymnasien werden in einem Stufenplan zu echten Ganztagsschulen mit warmem Mittagessen ausgebaut. Die Landesregierung legt dem Landtag unverzüglich einen Finanzierungsvorschlag vor, der die Finanzierungsanteile vom Land, von den Kommunen und vom Bund berücksichtigt. Das Land setzt sich beim Bund dafür ein, dass das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" fortgesetzt wird.
  3. Der Schultag an den Gymnasien wird pädagogisch rhythmisiert. Phasen der Anspannung und Entspannung, des Unterrichts, des Selbstlernens und von kulturellen, musischen und sportlichen Angeboten wechseln sich ab.
    Kurzfristig werden – als Zwischenschritt – die herkömmlichen 45-Minuten-Stunden durch ein Doppelstundenkonzept ersetzt, damit die Schülerinnen und Schüler nicht bis zu acht verschiedene Fächer pro Tag vor- und nachbereiten müssen, sondern nur noch maximal vier Fächer.
  4. Ein exemplarisches und fächerübergreifendes Lernen und der Erwerb effektiver Lernstrategien treten an die Stellen der Vermittlung großer Mengen von Detailwissen. Hierfür werden die Rahmenrichtlinien und Kerncurricula ausgelichtet.
    Auch die Vorgaben des Zentralabiturs gehören auf den Prüfstand, sie dürfen nicht zu einem neuen, heimlichen Lehrplan werden.
  5. An die Stelle der Hausaufgaben treten Phasen des selbständigen Lernens und Übens in der Schule, bei denen Lehrkräfte als Berater anwesend sind. Spätestens ab 16 Uhr haben die Schülerinnen und Schüler frei.
  6. Die Lerngruppen werden deutlich verkleinert. Kurzfristig werden die Lerngruppen wieder in den Klassen 5 bis 9 auf maximal 30 und in Klasse 10, die zur Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe geworden ist, auf maximal 24 reduziert. Zur Finanzierung sind freiwerdende Mittel aus dem Rückgang der Schülerzahlen zu nutzen.

Begründung

Mit der Schulgesetznovelle von 2003 hat der niedersächsische Landtag mit den Stimmen der CDU- und der FDP-Fraktion die Schulzeit bis zum Abitur ohne Vorlauf- und Erprobungszeit und ohne die notwendigen pädagogischen und organisatorischen Voraussetzungen an den Gymnasien zu schaffen, auf 12 Jahre verkürzt. Dies hat, wie damals bereits zu befürchten war, zu einer unverantwortlichen Überlastung der Schülerinnen und Schüler an den Gymnasien geführt. (Vgl. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 11.02.2004 "Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre aussetzen", Drs. 15/802)

I. "Kinderarbeit" dank Schulzeitverkürzung

Als Folge der Schulzeitverkürzung am Gymnasium mussten die von der Kultusministerkonferenz - als Grundvoraussetzung für die gegenseitige Anerkennung des Abiturs durch die einzelnen Bundesländer - vorgeschriebenen 265 Jahrgangswochenstunden von neun auf acht Schuljahre verteilt werden. In der Umsetzung durch die schwarz-gelbe Landesregierung bedeutet dies, dass bereits in der siebten Klasse einschließlich des verpflichtenden Wahlunterrichtes bis zu 34 Wochenstunden unterrichtet werden; in der achten Klasse erhöhen sich die Wochenstunden gar auf 35 und ab der neunten Klasse auf 36. Damit sind die Schülerinnen und Schüler an den Gymnasien faktisch ganztags in der Schule.

Zu der täglichen Aneinanderreihung von sieben oder acht Unterrichtsstunden muss der gleiche Stoff wie vor der Schulzeitverkürzung, allerdings in kürzerer Zeit, "gepaukt" werden. Dazu kommen die Hausaufgaben. Eine Folge ist, dass die Schülerinnen und Schüler um die Zeit für Freundinnen und Freunde, Hobbys, um notwendige Entspannung und Muße, ja in großem Maße auch um ihre Kindheit gebracht werden. Lehrerinnen und Lehrer berichten zudem, dass weniger Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit wahrnehmen können, an Arbeitsgemeinschaften wie Theater-Workshops u.ä. teilzunehmen. Sportvereine beklagen, dass die Kinder und Jugendlichen nachmittags nicht mehr zum Training kommen können. Schulorchester müssen mangels Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgeben.

II. "Kahler Ganztag" an den Gymnasien

Mit der Schulzeitverkürzung ist eine de-facto-Ganztagsschule ohne jede Vorbereitung über die Gymnasien und Kommunen gekommen. Es fehlen deshalb Küchen und Mensen und damit die Gelegenheit, in entspannter Atmosphäre ein gesundes, warmes Mittagessen zu sich zu nehmen. Es fehlen aber auch vernünftige Pausenregelungen und Räumlichkeiten, um dem schulischen Alltag eine andere Struktur zu geben, in der sich Unterricht und andere Aktivitäten wie Sport, Stunden zu Entspannung oder auch Angebote in Kooperation mit außerschulischen Partnern abwechseln. Und nicht zu vergessen: Es fehlen auch die Lehrkräfte für eine wirkliche Ganztagsschule.

III. Das Turbo-Gymnasium verschärft die soziale Spaltung und macht Kinder krank

Der Druck durch lange Unterrichtstage und Stoffverdichtung kommt unvermittelt in den Familien an. Eltern berichten, dass die Notwendigkeit, bei Hausaufgaben zu helfen, enorm gestiegen ist. Der kommerzielle Nachhilfemarkt boomt wie nie. Die unüberlegte Schulzeitverkürzung führt unweigerlich zu einer zusätzlichen Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern, deren Eltern ihre Kinder nicht selbst unterstützen und die sich keine professionelle Nachhilfe für ihre Kinder leisten können. Kinderärztinnen und –ärzte sowie Jugendpsychologinnen und -psychologen berichten von einem enormen Zuwachs junger Patientinnen und Patienten mit Schulangst und anderen, durch den Druck in der Schule ausgelösten psychischen Problemen.

Die CDU/FDP-Landesregierung hat mit der Novellierung des Schulgesetzes ein Modell der Schulzeitverkürzung eingeführt, das die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen in der Sekundarstufe I faktisch unmöglich macht. Das Gymnasium wurde einfach von den anderen Schulformen abgekoppelt. Damit werden Lern- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen unnötig beschnitten.

IV. Anforderungen an eine gelingende Schulzeitverkürzung

Die Schulen brauchen ein Organisationsmodell der Schulzeitverkürzung, das den unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten und Entwicklungsschritten der Kinder und Jugendlichen Rechnung trägt und eine Flexibilisierung der Lernzeiten ermöglicht. In einem solchen Modell kann der zwölfjährige Weg zum Abitur der Regelfall sein, Schülerinnen und Schüler, die mehr Zeit brauchten, können jedoch weiterhin nach 13 Schuljahren zum Abitur geführt werden.

Bei einer Schulzeitverkürzung muss sichergestellt sein, dass kein Druck auf die Kinder und Jugendlichen entsteht, der eine ernste Gefahr für ein gelingendes Aufwachsen, eine glückliche Kindheit und letztlich auch für ein erfolgreiches Lernen in der Schule bedeutet. Es bedarf einer breit getragenen Verständigung darüber, was heute notwendige Inhalte einer zukunftsgerichteten Allgemeinbildung sind.

Wir brauchen eine Schule, die jedes Kind und jeden Jugendlichen mit seinen jeweiligen Begabungen optimal fördert. Diesen Anforderungen müssen auch die Gymnasien gerecht werden. Auch die Gymnasien müssen umgestaltet werden, um die Überforderung der Kinder zu beenden und die Lernergebnisse zu verbessern. Sie müssen zügig – ebenso wie mittelfristig alle Schulen – zu echten Ganztagsschulen ausgebaut werden.

Der Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen ist nicht zum Nulltarif möglich. Es ist ein gemeinsames Investitionsprogramm notwendig, bei dem das Land die Kommunen mit eigenen Mitteln unterstützt. Darüber hinaus muss das Land sich dafür einsetzen, dass der Bund das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" fortsetzt, mit dem bereits sehr erfolgreich der Ausbau des Ganztagsschulangebotes gefördert worden ist. Zweitens müssen die Schulen mit einem ausreichenden Personalbudget ausgestattet werden, um als Ganztagsschulen pädagogisch erfolgreich arbeiten zu können. Für den Ausbau aller 248 Gymnasien zu echten Ganztagsschulen entstehen zusätzliche Personalkosten in Höhe von jährlich ca. 80 Mio. €, wobei der Anstieg bei einem stufenweisen Ausbau über mehrere Jahre gestaffelt werden kann. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hatte deshalb in ihrem Änderungsantrag zum Haushaltsplan EP 07 für das Haushaltsjahr 2008 beantragt, im Kapitel 0710 TGr 63 ("Budget der Eigenverantwortlichen Schule") 32,5 Mio € zusätzlich einzustellen, die auch für den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen verwendet werden sollten.

Fraktionsvorsitzender

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