Antrag: Rote Karte für Raser: Keine Aufweichung der Straßenverkehrsordnungs-Novelle durch die Hintertür!

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Bei der juristischen Umsetzung der beschlossenen Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) einen Formfehler gemacht. Die 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, die am 28. April 2020 in Kraft getreten war, sah unter Artikel 3 Änderungen an der Bundeskatalogverordnung (BKatV) vor – und zwar die Erhöhung von Bußgeldern und Fahrverbote bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts ab 21 km/h und außerorts ab 26 km/h. Weil es sich bei dieser Änderungsverordnung um eine Rechtsverordnung handelte, hätte das Bundesverkehrsministerium entsprechend dem Artikel 80 Abs. 1 Satz 3 des Grundgesetzes die Rechtsgrundlage für die verhängten Sanktionen zitieren müssen. Bei den Fahrverboten hat das BMVI dies aber unterlassen, § 26 a Abs.1 Nr. 3 StVG wurde nicht genannt. Das Versäumnis hat zur Folge, dass sämtliche Änderungen an der BKatV im Rahmen der 54. Änderungsverordnung der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften nicht mehr gelten. Das BMVI könnte jetzt unmittelbar seinen Fehler beheben und die Novelle mit einer rechtskonformen Präambel versehen und sie ohne weitere Änderungen und Abstimmungsprozesse zeitnah auf den Weg bringen. Dies geschieht jedoch nicht. Stattdessen benutzt Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) nunmehr seit Wochen den Formfehler, um die Bundesländer mit dem Ziel unter Druck zu setzen, die bereits beschlossenen verschärften Regelungen in der BKatV wieder aufzuweichen.

Der Landtag bittet die Landesregierung,

  1. im Rahmen einer Bundesratsinitiative die Bundesregierung aufzufordern, zeitnah den selbst verursachten Formfehler zu beheben und das Zitiergebot in der Präambel analog zu den anderen Änderungen der BKatV auch auf die verschärften Regelungen zu den Fahrverboten anzuwenden und damit die bereits geeinte und beschlossene 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ohne weitere Änderungen schnellstmöglich wieder in Kraft treten zu lassen
  2. oder eine Bundesratsinitiative, die dasselbe Ziel verfolgt, zu unterstützen.

Begründung

Der Bundesrat hatte den neuen Bußgeldkatalog nach einer langwierigen Kompromissfindung mit großer Mehrheit beschlossen, so dass die neue StVO, die neue BKatV und weitere Verordnungen im vergangenen April in Kraft treten konnten. Ziel der Novellen war es, die Sicherheit für ungeschützte Teilnehmer*innen im Verkehr zu verbessern. Aus diesem Grund waren Bußgelder erhöht und Sanktionen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen verschärft worden. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer war mit den verschärften Regelungen allerdings, wie sich mehrere Wochen nach der Verkündung durch die Bundesregierung herausstellte, nicht einverstanden: Er kritisierte sie als „unverhältnismäßig“ – insbesondere die Fahrverbote bei Tempoverstößen. Kurz nach Inkrafttreten der neuen Regelungen setzte sich der Bundesminister dafür ein, diese wieder rückgängig zu machen. Wenig später wurde bekannt, dass die Novelle wegen eines im BMVI verursachten Formfehlers nicht rechtskonform ist. Ausgerechnet die von Bundesverkehrsminister Scheuer kritisierten verschärften Sanktionen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen sind unwirksam, weil hier das Zitiergebot nicht angewendet worden war. Dies hat zur Folge, dass seit Juli Teile der neuen und strengeren StVO außer Vollzug gesetzt worden sind. Praktisch bedeutet dies, dass die neu festgeschriebenen Tempoverstöße nicht geahndet werden können. Ersten Schätzungen zufolge mussten mehrere Tausend bereits eingezogene Führerscheine an Temposünder zurückgegeben werden. Darüber hinaus haben die Bundesländer auf Anraten des Verkehrsministeriums vereinbart, die gesamten Änderungen im Rahmen der BKatV-Novelle nicht anzuwenden.

Seit Wochen benutzt der Bundesverkehrsminister den selbst verursachten Formfehler, um die durch den Bundesrat bereits beschlossenen Änderungen wieder zu kippen. Ende Juli habe er einen „Kompromissvorschlag“ vorgelegt, ließ Scheuer verlauten. Der vermeintliche Kompromiss beinhaltet weitgehende Ausnahmen. So soll beispielsweise die verschärfte Regelung bei innerörtlichen Tempoverstößen nur noch in einer Tempo-30-Zone vor Kindergärten und Schulen gelten. Überall sonst könnten Temposünder danach innerorts auch weiter 21 Kilometer pro Stunde schneller fahren, als erlaubt ist, und müssten nicht ihren Führerschein abgeben. Das bedeutet praktisch, dass Kinder vor den Einrichtungen, aber nicht auf ihrem Weg zur Schule oder den Kindergarten besser geschützt werden würden. Auch außerhalb geschlossener Ortschaften sollen die meisten Temposünder keine höheren Strafen zu befürchten haben, wenn es nach Bundesverkehrsminister Scheuer ginge: Hier würde nur dann ein einmonatiges Fahrverbot drohen, wenn in Baustellen auf Autobahnen die Geschwindigkeit um 26 km/h überschritten wird.

Expert*innen üben massive Kritik an der Rolle rückwärts des Bundesverkehrsministers. Denn bekannt sei doch, dass überhöhte Geschwindigkeiten zu schweren Unfällen führen können - oft auch mit tödlichem Ausgang. Die Bundesregierung antwortet auf die Grüne Anfrage des Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar, dass von 2017 bis 2019 fast 500 Menschen in Städten getötet worden sind, weil ein Kraftfahrzeug zu schnell unterwegs gewesen sei. Bei Unfällen, deren Hauptverursacher ein zu schnell fahrender Autofahrer war, kamen 2017 demnach 168 Menschen ums Leben. 2018 waren es 169, im vergangenen Jahr 140 Menschen (Quelle: Statistisches Bundesamt). Vor dem Hintergrund dieser Datenlage übt MdB Gelbhaar scharfe Kritik an dem Vorgehen des Bundesverkehrsministers. Anstatt die Menschen vor vermeidbaren Unfällen und deren tödlichen Folgen zu schützen, protegiere Bundesminister Scheuer die Raser. Er gehe sogar so weit, „einen selbst gemachten Formfehler beim Inkraftsetzen der StVO dafür zu missbrauchen, die Bundesländer zu Zugeständnissen zu nötigen“. Auch Winfried Hermann, Verkehrsminister in Baden-Württemberg, hat kein Verständnis für Scheuers Verhalten: „Wer ihn [den Bundesrats-Beschluss zur neuen BKatV] jetzt ablehnt, muss sich fragen lassen, warum er jetzt wieder Abstand von den Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit nimmt." Immerhin würde bei einer Kollision mit einem Fahrzeug bei Tempo 30 eine*r von zehn Fußgänger*innen sterben. Bei Tempo 50 wären es schon sieben von zehn. Der Strafenkatalog in Deutschland sei ohnehin viel weniger streng als in anderen Ländern. Immerhin gelte das Fahrverbot nicht für ewig, sondern lediglich für einen Monat (SZ 14.8.2020).

Auch der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius spricht sich für eine Beibehaltung der ursprünglich vorgesehenen Verschärfungen der Sanktionen bei Tempoverstößen aus. So antwortet die Landesregierung auf eine Grüne Anfrage (Drucksache 18/7252): „Bei der Frage nach angemessen[en] Sanktionen für Verkehrsverstöße ist stets eine Abwägung zwischen den Grundrechten der Betroffenen sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der einen Seite und dem Sanktions- und Präventionseffekt sowie der Schwere des Verstoßes auf der anderen Seite durchzuführen.“ Zu einer gezielten Prävention gehören auch Fahrverbote als Instrument der Abschreckung, Aufklärung alleine ist nicht ausreichend.

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