Antrag: Queeres Leben in Niedersachsen sichtbar machen, Akzeptanz schaffen, Diskriminierung abbauen - Maßnahmen zur Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90 Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Niedersachsen ist so divers wie die Menschen, die darin gemeinsam leben. Sowohl in den Städten als auch im ländlichen Raum gibt es lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und nicht-binäre Menschen in allen Generationen, ebenso wie heterosexuelle Menschen. Sie alle repräsentieren die Vielfalt unserer Gesellschaft.

Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesell-
schaft teilhaben. Der Alltag von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*- und intergeschlechtlichen sowie queeren Menschen (LSBTIQ*) ist jedoch noch immer nicht frei von Vorurteilen, Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt. Beratungs- und Unterstützungsangebote für sie und ihre Angehörigen sind ebenso wie Aufklärungs- und Sensibilisierungsangebote und -projekte noch nicht flächendeckend in Niedersachsen verfügbar.

In den letzten Jahrzehnten ist es nach und nach möglich geworden, mit weniger Stigma- und Tabubelegung über die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen zu sprechen. Sich selbst als queer zu outen, bedeutet heute keine unmittelbaren Strafen mehr – ist aber dennoch viel zu oft noch von Unverständnis und Diskriminierung durch das Umfeld begleitet, manchmal auch von Gewalt. Die Zahl der Straftaten im Bereich queerfeindlicher Hasskriminalität steigt seit Jahren an.

Mit dem Aktionsplan „Queer leben“ für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt der Bundesregierung wurde die Grundlage für eine aktive Politik geschaffen, die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu stärken und Queerfeindlichkeit entgegenzuwirken. Er enthält Empfehlungen für Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern (rechtliche Anerkennung, Teilhabe, Sicherheit, Gesundheit, Stärkung von Beratungs- und Communitystrukturen, Internationales).

Auch das Land Niedersachsen ist gefragt, eigene Maßnahmen in einem Landesaktionsplan zu implementieren, um den Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt im Alltag vieler queerer Personen entgegen zu wirken. Eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von LSBTIQ* bedingt außerdem die Auseinandersetzung mit LSBTIQ*-Feindlichkeit und überschneidender Diskriminierung. Dafür braucht es verstärkte Aufklärungs- und Akzeptanzarbeit.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der Landtag:

  • den erfolgreichen Auf- und Ausbau queerer Strukturen in der Fläche durch die Kampagne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt* in Niedersachen von 2014,
  • die Einführung des Aktionsplans „Queer Leben“ durch die Bundesregierung,
  • die Absicht der Bundesregierung, das Transsexuellengesetz durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen sowie
  • die geplanten Anpassungen des Abstammungs- und Familienrechts an unterschiedliche Familienkonstellationen.

Der Landtag bittet die Landesregierung:

  1. auf Grundlage des vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung bereits initiierten Beteiligungsprozesses gemeinsam mit den queeren Verbänden und Selbstorganisationen einen ressortübergreifenden Landesaktionsplan für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nach dem Vorbild der Kampagne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt* in Niedersachsen aufzulegen, um die Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen zu erhöhen und Diskriminierungen abzubauen,
  2. in diesem Zuge auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Dritten Option konsequent in allen Bereichen der unmittelbaren und mittelbaren Landesverwaltung weiter umzusetzen,
  3. eine Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen, die den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung darin verankert,
  4. das auf Bundesebene geplante Selbstbestimmungsgesetz sowie die Änderungen des Abstammungs- und Familienrechts konstruktiv zu begleiten und in Niedersachsen umzusetzen,
  5. zu prüfen, inwiefern das Beratungsangebot für LSBTIQ* ausgebaut werden kann und dabei insbesondere im ländlichen Raum Netzwerke von Unterstützungs- und Vernetzungsstrukturen für queere Menschen gefördert und zielgruppenspezifische Zugänge genutzt werden können (z.B. für Kinder und Jugendliche, Geflüchtete, Migrant*innen, behinderte oder ältere Menschen). Im Rahmen des ressortübergreifenden Beteiligungsprozesses ist der Aufbau einer zivilgesellschaftlichen Anlauf- und Koordinierungsstelle für Opfer queerfeindlicher Gewalt durch die einschlägigen Fachverbände zu prüfen,
  6. das Beratungsangebot für sexuelle Gesundheit zu sichern und Aufklärungsangebote zu geschlechtlicher Vielfalt im Gesundheitssystem voranzubringen. Insbesondere sollen die bestehenden Präventions- und Prophylaxeangebote weiter gefördert werden.
  7. Für im Bildungsbereich beteiligte Personengruppen bedarfsgerechte Beratungs-, Vernetzungs- und Aufklärungsangebote zum Umgang mit LSBTIQ* zu schaffen und die Arbeit von Peer-To-Peer-Angeboten zu sichern,
  8. angemessene Fort-, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Bildungseinrichtungen in Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt vorzuhalten,
  9. schulrechtliche Vorgaben zum sensiblen Umgang mit trans*, inter* und nicht-binären Schüler*innen im Sinne einer selbstbestimmten geschlechtlichen Identitätsentwicklung zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen sowie einen entsprechenden Leitfaden für Schulleitungen, Lehrkräfte etc. zu entwickeln,
  10. Kommunen bei der Schaffung von Beratungsangeboten und -maßnahmen zu unterstützen, die die Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen erhöhen und Diskriminierungen abbauen,
  11. Kommunen bei der Erstellung eigener Schutzkonzepte für Einrichtungen zur Unterbringung von geflüchteten Menschen weiter zu unterstützen. Die Schutzkonzepte sollten dabei an den „Mindeststandards zur Unterbringung geflüchteter Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ des BMFSFJ und UNICEF orientiert sein. Als Vorbild soll hier auch das Konzept vom Sozial- und Innenministerium zum Schutz geflüchteter Menschen in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes Niedersachsen dienen und insbesondere die Bedürfnisse queerer Geflüchteter berücksichtigen.
  12. eine Umsetzung des „Konzeptes zum Schutz geflüchteter Menschen in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes Niedersachsen“ in allen Einrichtungen des Landes sicherzustellen und die Bedarfe queerer Geflüchteter weiterhin zu berücksichtigen.

 

Begründung

Seit 2014 führt das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung gemeinsam mit Kooperierenden aus der LSBTIQ*-Community eine landesweite Kampagne „Für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt" durch. Trotzdem erfahren weiterhin viele Menschen im Alltag noch immer auch Ablehnung. Dies führt oft zu fehlender Sichtbarkeit, was sich in der Rechtssituation und der fehlenden Berücksichtigung in den verschiedensten Kontexten niederschlägt. Das reicht von Themen der körperlichen und psychischen Gesundheit über Bildung, Arbeitswelt und (Wahl-)Familie bis zum Schutz vor Gewalt.

14 der 16 Bundesländer haben aus diesem Grund in den letzten Jahren bereits mit landesweiten Aktionsplänen reagiert und fördern Maßnahmen, die die Vielfalt der sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten berücksichtigen, Sichtbarkeit und Akzeptanz schaffen sowie Diskriminierung abbauen. Der Bundesaktionsplan „Queer leben“ enthält Empfehlungen für Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern (rechtliche Anerkennung, Teilhabe, Sicherheit, Gesundheit, Stärkung von Beratungs- und Communitystrukturen, Internationales) mit dem Ziel, Queerfeindlichkeit entgegenzuwirken.

Mit einem eigenen landesweiten Aktionsplan sowie der Stärkung der Beratungsstrukturen entwickelt das Land Niedersachsen seine bisherigen Bemühungen zum Schutz und zur Akzeptanz der queeren Community zeitgemäß und bedarfsgerecht weiter und geht gemeinsam mit dem Bund die notwendigen Schritte hin zu einer queerfreundlichen Politik und Gesellschaft.

Im Flächenland Niedersachsen sind viele queere Projekte, insbesondere im ländlichen Raum, auf die Förderung durch Landesmittel angewiesen. Die Beratungsstrukturen in Niedersachsen sind sehr unterschiedlich ausgestattet. Insbesondere ist die Beratung im ländlichen Raum vielfach auf ehrenamtliches Engagement angewiesen. Der bereits stark ansteigende individuelle Beratungsbedarf wird sich durch die Einführung des neuen Selbstbestimmungsgesetzes noch weiter erhöhen. Um ein flächendeckendes gleichwertiges Beratungsangebot sicherzustellen, ist die Förderung hauptamtlicher Beratungsstrukturen sinnvoll. Im Rahmen des ressortübergreifenden Beteiligungsprozesses mit dem Queeren Netzwerk Niedersachsen, weiteren queeren Verbänden und Selbstorganisationen wird geprüft werden, wie bestehende Beratungsangebote flächendeckend gleichwertig gefördert werden und voneinander profitieren können.

Die Nachfrage nach den SCHLAU-Workshops war in 2022 so hoch wie noch nie und konnte etwa 8.000 Lernende in Niedersachsen erreichen. Dennoch konnten aus bestehenden Mitteln nicht einmal 50% der Anfragen positiv beantwortet werden. Auch der Beratungs- und Fortbildungsbedarf von Bildungseinrichtungen, insbesondere im Bereich der geschlechtlichen Vielfalt, ist immens und wird derzeit durch kein Angebot gedeckt. Beispiel dafür ist das ehrenamtlich getragene Projekt ‚Schule der Vielfalt*‘ Niedersachsen, das Schulen dabei unterstützt, ihr Schulklima diskriminierungssensibler zu gestalten und sich aktiv mit dem Themenfeld sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zu beschäftigten. Für die qualitätsstandardbasierte Auszeichnung ‚Schule der Vielfalt*‘ gibt es seit seinem Start Ende 2021 bereits über 30 interessierte Schulen. Hier gilt es, Strukturen und Beratungsangebote in einer Landeskoordinierungsstelle nachhaltig aufzubauen.

Jugendliche mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung werden im öffentlichen Raum häufig nicht gesehen, kommen in Formularen beispielsweise nicht vor. Trans* Jugendliche werden bis zu ihrem Outing vielfach ignoriert, nach einem Outing sind viele Menschen überfordert, Jugendliche müssen ihre Situation erklären und über rechtliche Fragen aufklären. Zu vielen Fragen der Namensführung (in Klassenlisten, auf Zeugnissen), Toilettennutzung, Ansprache und vielem mehr herrscht keine rechtliche Klarheit. Diese Situation erzeugt Leid auf der einen Seite und viel Beratung und Unsicherheit auf der anderen Seite. Durch entsprechende zu erlassende Rahmenbedingungen werden diese Unsicherheiten und das damit verbundene Leid beendet.

Vielfach haben sich Kommunen bereits auf den Weg gemacht, die Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen zu erhöhen und Diskriminierungen abzubauen. Die Bestrebungen der Kommunen sollen im Rahmen des Landesaktionsplans unterstützt werden.

Die „Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ wurden von zahlreichen NROs in Kooperation mit dem BMFSFJ erstellt und beruhen auf einem breiten fachlichen Konsens. Die darin enthaltenen Leitlinien wurden auch als Empfehlung für die Entwicklung des Konzepts zum Schutz geflüchteter Menschen in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes Niedersachsen berücksichtigt und können ebenso der (Weiter-)Entwicklung von kommunalen Schutzkonzepten dienen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Schutz verschiedener vulnerabler Personengruppen, zu denen auch queere Menschen gehören. Diesem Beispiel folgend sollen Kommunen mittels eines Leitfadens o.ä. eine Hilfestellung erhalten, um die Schutzstandards in ihre kommunalen Schutzkonzepte für Einrichtungen zur Unterbringung von geflüchteten Menschen übernehmen zu können und dabei die Maßnahmen für besonders vulnerable Personengruppen zu etablieren.

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