Antrag: Prävention und Intervention gegen Diskriminierung, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Ideologien der Ungleichwertigkeit – ein Landesprogramm gegen Rechtsextremismus

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Niedersächsische Landtag stellt fest:

Extrem rechte Strukturen und Ideologien sind in der Bundesrepublik nicht nur eine Gefährdung für das demokratische Gemeinwesen, sondern durch rechtsmotivierte und rassistische Bedrohungen, Handlungen und Gewalttaten eine konkrete und reale Gefahr im Alltag für die Betroffenen. Die menschenfeindliche Politik der extremen Rechten mündet zwangsläufig in aggressives Vorgehen gegen diejenigen, gegen die sich ihr Hass und ihre Abwertung richtet: Geflüchtete Menschen, Menschen anderer Staatsangehörigkeit, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Wohnungslose, LSBTI-Menschen, Menschen mit Behinderung, Menschen die sich gegen rechte Ideologien engagieren und viele andere.

Diese Bedrohung wird sichtbar in steigenden Zahlen rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt. Spätestens seit der Offenbarung der rechtsextremen Terrororganisation des sogenannten NSU wurde der demokratischen Gesellschaft vor Augen geführt, dass Neonazis und andere Rechte nicht nur eine menschenfeindliche Ideologie propagieren, sondern diese auch bereit sind mit Gewalt gegen die Betroffenen umzusetzen.

Diese Gefährdung geht auch an Niedersachsen nicht vorbei. Mit einem Angeklagten im Münchener NSU-Prozess führt die Spur eines Unterstützers auch nach Niedersachsen und in den im Haus gefundenen Unterlagen finden sich auch Hinweise auf potentielle Anschlagsziele z.B. in Göttingen oder Peine. Auch rassistische Angriffe auf geflüchtete Menschen finden in Niedersachsen statt, so z.B. bei dem Brandanschlag in Salzhemmendorf in der Nähe von Hameln.

Niedersachsen ist kein weißer Fleck auf der Landkarte der extremen Rechten. Neonazis und andere extreme Rechte organisieren sich in unserem Land in Freien Kameradschaften, in losen Netzwerken von neurechten Strömungen, in völkischen Vereinen und Zusammenschlüssen und in extrem rechten Parteien. In Bad Nenndorf sucht sich eine bundesweite, völkische Neonaziszene seit Jahren eine Bühne für ihre geschichtsrevisionistische Propaganda.

Solche extrem rechten Strukturen tauchen dabei nicht aus dem Nichts auf. Grundlage ihrer Entstehung und Nährboden ihrer Entwicklung sind gesellschaftliche Ideologien der Ungleichwertigkeit und daraus resultierende, verbreitete Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Seit Jahren weisen sozialwissenschaftliche Untersuchungen die erschreckend hohe Verbreitung solcher Einstellungsmuster in der Gesellschaft nach, auch für Niedersachsen.

Wenn extrem rechte Strukturen und rechte Ideologien in unserer demokratischen Gesellschaft und ihrem Gemeinwesen entstehen, dann muss eine Strategie zur Bekämpfung der extremen Rechten auch vor allem auf die Ursachen in den sozialen Kontexten der Zivilgesellschaft zielen. Das Problem ist mit den Mitteln der staatlichen Rechts- und Sicherheitsstrukturen nicht zu lösen, also kein ordnungspolitisches Problem. Gerade bei der Unterstützung der Opfer rechter Diskriminierung und rechtsmotivierter Gewalt befinden sich staatliche Institutionen zu oft in einer ambivalenten Situation. Die Neutralitätspflicht formeller Institutionen erschwert zudem ein effektives Vorgehen staatlicher Organisationen gegen die Wurzeln der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, solange noch nicht die Grenzen zur Volksverhetzung überschritten sind.

Um Ideologien der Ungleichwertigkeit und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als Ursachen der extremen Rechten nachhaltig zu begegnen, bedarf es daher einer Strategie, die der Entstehung dieser Wurzeln in ihren sozialen Kontexten begegnet und eine starke demokratische Kultur in einer lebendigen Zivilgesellschaft gegen die extreme Rechte unterstützt. In Niedersachsen gibt es eine Vielzahl engagierter Initiativen, zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen, die gegen die extreme Rechte aufstehen und sich mit den Betroffenen solidarisieren. Sie zu stärken ist der beste Weg, dem Problem der Gefährdung durch die extreme Rechte zu begegnen. Sie verdienen die ganze Unterstützung des Landes Niedersachsen, des Niedersächsischen Landtages und der Landesregierung.

Der Niedersächsische Landtag begrüßt:

  1. dass die Landesregierung in einem interministeriellen Arbeitskreis dem Problem der extremen Rechten und der verbreiteten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Niedersachsen offensiv mit der Erarbeitung eines Landesprogramms gegen Rechtsextremismus begegnet. Als Folge daraus werden konkrete Schritte zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in der Begegnung mit der extremen Rechten und in der Unterstützung und Stärkung der Betroffenen rechtsmotivierter Gewalt folgen.
  2. dass die Landesregierung angekündigt hat, mit einem solchen Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, die Aktivitäten gegen Rechtsextremismus sowie die Unterstützung der Zivilgesellschaft zur Förderung einer demokratischen Kultur und gegen Rechtsextremismus zu bündeln und die benötigten Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
  3. das zivilgesellschaftliche Engagement zahlreicher Initiativen, Verbände und lokaler Bündnisse in Niedersachsen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und extrem rechte Bedrohungen wie z.B. bei der ARUG, der Amadeu Antonio Stiftung oder dem lokalen Bündnis Bad Nenndorf ist bunt.

Der Niedersächsische Landtag fordert die Landesregierung auf, folgende Aspekte in einer Gesamtstrategie zu berücksichtigen:

  1. eine dezentrale, aufsuchende Beratung für Opfer rechter und rassistischer Gewalt in unabhängiger und fachlich qualifizierter Trägerschaft. Die fachlichen Qualitätsstandards der Beratung und Betreuung von Betroffenen rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt wären dabei zu berücksichtigen.
  2. ein Vergabesystem zur niedrigschwellig antragsbasierten Förderung von kurzfristigen zivilgesellschaftlichen Projekten für demokratische Kultur und politische Bildung gegen Rechtsextremismus von freien, nicht-staatlichen Trägern.
  3. eine Vernetzung und engen Austausch zwischen den staatlichen Akteuren und Akteuren der Zivilgesellschaft zu organisieren, um Bedarfe und neue Entwicklungen zu ermitteln und Gegenstrategien abzustimmen sowie Doppelstrukturen und ineffektive Maßnahmen zu vermeiden. Eine Weiterentwicklung der guten Vernetzungsarbeit des Landespräventionsrates ist an dieser Stelle zu prüfen.
  4. die allgemeinbildenden und weiterführenden Schulen in Niedersachsen bei der Einführung eines Landesprogramms einzubeziehen. Bereits in den Schulen muss schon sehr früh die Prävention gegen antidemokratisches Gedankengut beginnen. Erprobte Projekte, wie die Schulen ohne Rassismus - Schulen ohne Courage, haben bewiesen, dass die Bedeutung von Sensibilisiering bereits im Vorfeld nicht gering zu schätzen ist. Dort jedoch, wo es bereits rechtsextreme Vorfälle und rechtsaffine Stimmungen gibt, müssen die Schulen in Fragen der Intervention und Konfliktbearbeitung gestärkt und beraten werden. Über die Institution Schule können alle jungen Menschen in Niedersachsen erreicht werden und bereits hier kann sehr frühzeitig und nachhaltig mit der Erziehung zur Demokratie, Teilhabe und Mündigkeit begonnen werden. Der gesamtgesellschaftliche Auftrag eines Landesprogramms wird gerade im Schulbereich somit unterstrichen.
  5. nötigenfalls spezifische Förderung von offener Jugend(bildungs-)arbeit zur Radikalisierungsprävention bei rechtsaffinen Jugendlichen bei den kommunalen Trägern, sowie eine Einbindung des Landesjugendamtes und weiteren Trägern der niedersächsischen Jugendbildungsarbeit zu prüfen.
  6. Eine Berücksichtigung der neueinzurichtenden Landeszentrale für politische Bildung als wichtigen Partner und Akteur im Rahmen einer Strategie des Landesprogramms gegen Rechtsextremismus.
  7. außerdem eine Kooperation mit einer einzurichtenden wissenschaftlichen Dokumentationsstelle, die  unter anderem die Aktivitäten und Potentiale des Rechtsextremismus auf der Grundlage wissenschaftlicher Standards analysiert. Hier könnte auch die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der anderen Programmhandlungsfelder angesiedelt werden.

Begründung

Täglich kommt es in Deutschland zu rechtsextremen und rassistischen Übergriffen. In der breiten Öffentlichkeit werden davon nur wenige Vorfälle bekannt, beispielsweise der Angriff auf das Haus einer Bürgerin, die sich in der Initiative „Bad Nenndorf ist bunt“ engagiert.

Nach Aufdeckung der NSU-Mordserie wurden von den Landeskriminalämtern 3.000 unaufgeklärte vollendete und versuchte Tötungsdelikte überprüft. Die Überprüfung ergab 746 Fälle mit 849 Opfern, bei denen der Verdacht auf eine rechtsmotivierte Tötung vorliegt. Die Dimension rechtsmotivierter Gewalt ist daher vermutlich noch größer, als in Teilen der Zivilgesellschaft ohnehin schon befürchtet.

Tatsächlich finden rechtsmotivierte Bedrohungen gegen verschiedene Personen und Gruppen statt, zudem kommt es immer wieder zu tätlichen Angriffen. Besonders stark betroffen sind u.a. MigrantInnen und Flüchtlinge, Schwarze, Wohnungslose, Menschen mit Behinderungen, Sinti und Roma, Menschen mit LGBT-Hintergrund, Jüdinnen und Juden, Muslime und Muslima, sowie Menschen, die sich gegen rechte Gewalt und Rassismus engagieren. Auch demokratische PolitikerInnen und Parteien werden regelmäßig bedrängt, beleidigt und angegriffen.

Der Niedersächsische Landtag hat sich in der Vergangenheit mehrfach deutlich gegen die Bedrohung durch rechtsmotivierte und rassistischer Gewalt positioniert und wird auch zukünftig für eine offene, demokratische und vielfältige Gesellschaft streiten, in der Menschen ohne Angst leben können.

Überall werden über Bundes- und Landesprogramme Strategien und Aktivitäten gegen Rechtsextremismus und zur Radikalisierungsprävention angeboten, entwickelt und finanziert. Oftmals entstehen hier nach dem Gießkannenprinzip Strukturen, die sich gegenseitig nicht ergänzen, sondern teilweise nebeneinander her arbeiten oder Doppelstrukturen darstellen. Darüber hinaus ist die Wirksamkeit von Maßnahmen nicht immer gewährleistet oder der Bedarf icht ausreichend festgestellt. Um eine abgestimmte Struktur zu gewährleisten, die auch dort Wirksamkeit entfaltet, wo sie benötigt wird, ist eine Vernetzung und ein Austausch der handelnden Akteurinnen und Akteure von zentraler Bedeutung. Nur durch diesen intensiven Austausch und das Know-How aus den betroffenen Regionen können Bedarfe erkannt und Strukturen auf ihre Wirksamkeit analysiert werden. Passgenaue Strategien, die an den Problemen ansetzen, sind Voraussetzung für ein gutes Landesprogramm gegen Rechtsextremismus. Der Landespräventionsrat arbeitet bereits vernetzend mit staatlichen Akteuren sowie Akteuren der Zivilgesellschaft; diese Vernetzung trägt bereits zu einer guten Abstimmung in Niedersachsen bei. Diese Struktur kann hier eine gute Grundlage darstellen, diesen Anspruch des Landesprogramms gegen Rechtsextremismus zu gewährleisten und sowohl innerhalb der staatlichen Akteure aber auch mit den Akteuren der Zivilgesellschaft in einen solchen, kontinuierlichen Austausch und eine gemeinsame konzeptionelle Arbeit einzutreten.

In mehreren Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Sachsen-Anhalt wurden Beratungsstellen für die Betroffenen von rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt eingerichtet. Diese Beratungsstellen ergreifen Partei für die Betroffenen und unterstützen sie mit verschiedenen, der jeweilige Situation entsprechenden, mehrdimensionalen Angeboten. Besonders den Betroffenen von Straftaten wird so geholfen, ihre Rechte wahrzunehmen und die Folgen der Tat besser zu verarbeiten.

Durch die niedrigschwellige und aufsuchende Arbeit einer Beratungsstelle wird den Betroffenen unmittelbar geholfen. Ohne diese Unterstützung bleibt bei den Betroffenen oft das Gefühl, mit Gewalt und Bedrohung „alleine“ gelassen zu werden. Auch die sozialen, materiellen und psychologischen Folgen nach einem Übergriff, sind für die Betroffene sehr belastend. Durch die Arbeit der Beratungsstellen kann zudem das Dunkelfeld in diesem Bereich effektiv aufgehellt werden, da durch entsprechende Beratungsstellen viele Vorfälle erfasst werden, die sonst - oft aus Angst - nicht zur Anzeige gebracht werden. Dieser Befund wird von einer Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen aus dem Jahr 2009 untermauert. Der Untersuchung zufolge kommt es bei über 75 Prozent der Jugendlichen, die eine rassistische Straftat begehen, zu keinem Kontakt mit der Polizei. Folglich hat das Verhalten auch keine juristischen Konsequenzen.

Jahrelang wurden die Betroffenen in Niedersachsen nicht ausreichend unterstützt und beraten. Mit einem aufsuchenden Beratungsprojekt wird die Situation der Betroffenen massiv verbessert. Eine fachlich qualifizierte und unabhängige Beratungsstelle ist wichtiger Teil einer Gesamtstrategie, um den Auswirkungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit effektiv zu begegnen und weitere Vorfälle zu verhindern. In der Praxis hat sich die Unabhängigkeit einer solchen Beratungsstelle als besonders wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Arbeit erwiesen.

Über die Beratung der Betroffenen und weiterer Akteure vor Ort werden wichtige Erkenntnisse gewonnen, wo eine stärkere bzw. effektivere Intervention notwendig ist. Diese Arbeit kann von ehrenamtlicher bzw. nicht auf rechtsmotivierte und rassistische Gewalt spezialisierte Beratungsangebote nicht bewältigt werden.

Mit Einrichtung eines unabhängigen und aufsuchenden Beratungsprojektes wird gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Opfern von rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt übernommen.

Mobile Beratungsteams gegen Rechtsextremismus (MBT) wurden erstmals im Rahmen des Civitas Programms in den ostdeutschen Bundesländern eingerichtet. Mittlerweile wurde ihre Konzeption erfolgreich auch in anderen Bundesländern und Kommunen übernommen.

Sie arbeiten systemisch und aufsuchend in von rechtsextremistischen Gefährdungslagen bedrohten Kommunen. Ihre Intervention zielt auf fachliche Beratung zur Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft im Handeln gegen Rechtsextremismus. Sie wendet sich an verschiedene lokale Akteure und erarbeitet mit ihnen zusammen ausgehend von einer spezifischen Problemanalyse Handlungsstrategien gegen die jeweilige rechtsextremistische Gefährdungslage. MBT versteht sich als professionelle Unterstützung der Zivilgesellschaft in den sozialen Kontexten, in denen rechtsextremistische Gefährdungslagen entstehen. Sie will eine demokratische Kultur als starkes Gegengewicht zu im Gemeinwesen aufkommenden Ideologien der Ungleichwertigkeit und zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit stärken.

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