Antrag: Landesaktionsplan Gute Geburt: Eine gesunde und gute Geburt für Mutter und Kinder sicherstellen
Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90 Die Grünen
Die Art und Weise, wie wir zur Welt kommen, spielt eine entscheidende Rolle. Eine Geburt hinterlässt bleibende Spuren – bei der Mutter, dem Kind und der gesamten Familie. Eine positive Geburtserfahrung kann tief berühren, stärken und die Verbindung innerhalb der Familie festigen. Sie fördert das körperliche und seelische Wohlbefinden der Mutter und ihres Umfelds. Für das Kind ist sie der erste Schritt in eine sichere Bindung. Im Gegensatz dazu kann eine schwierige oder gar traumatische Geburtserfahrung langfristige, belastende Auswirkungen haben und das Leben der Betroffenen nachhaltig prägen. Deshalb tragen wir als Gesellschaft gemeinsam die Verantwortung, jedem Menschen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Eine qualitativ hochwertige, frauenzentrierte Schwangerschaftsbegleitung und geburtshilfliche Versorgung sind dabei entscheidend – sie betreffen nicht nur medizinische, sondern auch soziale und gesellschaftliche Aspekte und sind Ausdruck von Fürsorge, Wertschätzung und Menschlichkeit.
Hebammen begleiten Frauen durch diese Lebensphase und spielen eine zentrale Rolle mit ihrer spezialisierten Ausbildung. Hebammenversorgung muss deshalb grundsätzlich allen Schwangeren, unter der Geburt und im Wochenbett verlässlich zur Verfügung stehen. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass professionelle und zugewandte Hebammenhilfe zu weniger Interventionen führt und einen wichtigen Präventionsbeitrag zur Gesundheit von Frauen und Familien beiträgt. Deshalb sollten sowohl die Arbeitsbedingungen von Hebammen als auch die finanziellen Rahmenbedingungen verbessert werden.
In den letzten Jahren haben auch in Niedersachsen Geburtsstationen temporär oder in Gänze (auch mit Sicherstellungszuschlägen) schließen müssen, mit der Folge, dass die flächendeckende Versorgung in Niedersachsen zwar gesichert ist, aber mitunter in bestimmten Regionen nur noch als ausreichend bezeichnet werden kann. Die Gründe für die Schließungen sind allgemein bekannt. Mit jeder Geburtsklinik, die wegfällt, verschwindet ein Geburtsort und eine dringend benötigte ambulante Notfallversorgung ersatzlos von der Landkarte und die Wege für viele Frauen in ländlichen Regionen zu einer klinischen Geburtshilfe verlängern sich. Eine längere Fahrzeit zum Geburtsort erhöht das Risiko von Komplikationen, ist häufig mit einem schlechteren Geburtsverlauf und negativen Geburtserfahrungen verbunden. Die Sorge, wegen Überlastung durch räumliche Engpässe und/oder einen Mangel an Personal in der Klinik abgewiesen zu werden, besorgt viele Eltern. In diese Situation sollte keine werdende Mutter kommen!
Zudem wissen wir, dass nur ca. 10% der Kaiserschnitte medizinisch indiziert sind. Laut Statistischem Bundesamt kam 2023 fast jedes dritte Kind in Niedersachsen per Kaiserschnitt zur Welt. Damit hat sich die Zahl in den letzten 30 Jahren verdoppelt.
Frauen, Neugeborene und ihre Familien müssen sich aber überall in unserem Land auf eine flächendeckende, qualitativ hochwertige Geburtshilfe und erreichbare Versorgung verlassen können. Deshalb gilt es Konzepte und Maßnahmen gebündelt in einem Landesaktionsplan auf den Weg zu bringen, der eine verlässliche, sichere, wohnortnahe schwangerschafts- und geburtshilfliche Versorgung in Niedersachsen zukünftig sicherstellt und den Hebammenberuf stärkt.
Der Landtag begrüßt daher:
- Den Runden Tisch „Hebammenversorgung in Niedersachsen“ unter Federführung des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung, der sich mit der Sicherstellung und Verbesserung der geburtshilflichen Versorgung in Niedersachsen beschäftigt.
- Die Arbeit des Aktionsbündnisses „Gesundheit rund um die Geburt“ zur Unterstützung des Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ in Niedersachsen.
- Die Landesprojekte „Bauchgefühl“ und „Bauchgefühl 2.0“ zur Stärkung der natürlichen und selbstbestimmten Geburt
Der Landtag beschließt:
Die Landesregierung wird gebeten in Anlehnung an das nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ einen „Landesaktionsplan Gute Geburt“ aufzulegen, um die schwangerschafts- und geburtshilfliche Versorgung in Niedersachsen sicherzustellen und den Hebammenberuf zu stärken. Bei dem Prozess sind insbesondere die maßgeblichen Berufsfelder im Gesundheitswesen in Runde Tische o.ä. Partizipationsformate einzubeziehen. Darüber hinaus wird die Landesregierung gebeten zukünftig eine beständige Umsetzung der Maßnahmen, die Fortschreibung des Plans und die dafür notwendige Einrichtung einer Vernetzungsstelle sicherzustellen.
Bei der Erstellung des Landesaktionsplans sollen insbesondere aus folgenden Zielen Maßnahmen für eine sichere und gute Geburt abgeleitet werden:
- Die Frau mit ihrem Kind steht im Mittelpunkt. Ihre Perspektive, ihre Selbstbestimmung und das Wohlbefinden von ihr und ihrem Kind sind die wichtigsten Qualitätskriterien und grundlegend für Entscheidungen, Maßnahmen, Regelungen und Gesetze.
- Jede Frau hat rund um die Uhr Anspruch auf eine wohnortnahe (d. h. eine max. 40-minütige Fahrtzeit) Versorgung in einem Kreißsaal.
- Jede Frau hat Anspruch auf eine hebammenbegleitete Betreuung, mit der die regulären Vorgänge bei der Geburt und im Wochenbett gefördert und optimiert werden.
- Jede Frau hat unter der Geburt Anspruch auf eine optimale Betreuung durch eine anwesende Hebamme. Dabei wird den Frauen die Zeit gegeben, die sie brauchen, um ihre Kinder zu gebären.
- Jede Frau hat, wann immer es ihre und die Gesundheit ihres Kindes verantworten lassen, Anspruch auf eine interventionsarme (-freie) physiologische, würdevolle, wertschätzende Geburt.
- Jede Frau hat Anspruch auf umfassende Informationen über geplante Eingriffe, Untersuchungen, Möglichkeiten zur Schmerzreduktion und mögliche Komplikationen. Zentral ist dabei die Zustimmung der Gebärenden hierzu im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung.
- Die Senkung der Kaiserschnittrate in Niedersachsen ist erklärtes Ziel.
- Eine vollumfängliche, aufwandsgerechte Vergütung der Geburtshilfe muss gewährleistet sein, damit sich physiologische Geburten „rechnen“.
- Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsfelder rund um die Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft wird verbessert.
- Weitere Ziele können im Rahmen des Prozesses ergänzt werden.
Folgende Themenfelder sollen besonders berücksichtigt werden:
- Versorgungsstrukturen in der Geburtshilfe sicherstellen, stärken und verbessern
- Betreuungs-, Hilfs- und Versorgungsangebote jeder Art müssen bei Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (ambulant und stationär) flächendeckend, wohnortnah und barrierearm für alle Frauen und Familien zugänglich sein. Das Land setzt sich für ein Sicherstellungskonzept für die geburtshilfliche Versorgung ein.
- Auf kommunaler Ebene sollen regionale interdisziplinäre Versorgungsnetze unterstützt werden, die eine verlässliche und qualitativ hochwertige Versorgung garantieren.
- In den Regionen müssen verlässliche, bedarfsgerechte Notfall- und Verlegungskonzepte zur Versorgung aller Fälle unter Einbindung der Hebammenhilfe entwickelt werden. (s. a. Konzept des Main-Kinzig-Kreises, Hessen).
- Telemedizinische Angebote in der Geburtshilfe für Fachmedizinerinnen und Fachmediziner sowie Hebammen müssen geprüft werden und die Umsetzung initiiert werden.
- Die Arbeit von Hebammen sicherstellen, stärken und verbessern
- Die Hebammenversorgung muss für Frauen, die diese in Anspruch nehmen wollen, über den gesamten Betreuungsbogen flächendeckend möglich sein. Insbesondere für die klinische Geburtshilfe wird für eine ausreichende personelle Ausstattung gesorgt.
- Die Umsetzung von flächendeckenden, hebammengeleiteten, ambulanten und außerklinischen geburtshilflichen Konzepten wie den hebammengeleiteten Kreißsaal wird unterstützt.
- Förderung der Einführung und Zertifizierungen der Hebammenkreißsäle durch die dafür bereitgestellten Mittel durch das KHVVG gemäß der kommenden Richtlinie des G-BA.
- Teilhabe und Mitwirkung von Hebammen in professionsrelevanten gesundheitspolitischen Entscheidungsgremien auf Landesebene ermöglichen.
- Einführung eines angemessenen Personalbemessungsinstruments für Hebammen auf Bundesebene zur Sicherung einer qualitativ hochwertigen Versorgung.
- Best-Practice-Beispiele identifizieren, die die Attraktivität der Arbeit im Kreißsaal erhöhen (z. B. Wiedereingliederungsmodell, Hebammenkreißsaal, Beleghebammenmodell) und diese zur Gewinnung von Hebammen in der klinischen Geburtshilfe nutzen.
- Prüfen, inwieweit ein Gründungszuschuss für Hebammen, wie er in anderen Bundesländern schon angewandt wird, eingeführt werden kann
- Ausweitung der Praxisorte für die Ausbildung der Hebammen in Kliniken.
- Qualitätssicherung in der Geburtshilfe verbessern
- Bestehende Qualitätskriterien in der Geburtshilfe flächendeckend umsetzen und verbandspolitisches Engagement für die Weiterentwicklung dieser zu unterstützen.
- Berücksichtigung der Personalausstattung, räumliche Ausstattung und der Zufriedenheit der Gebärenden mit dem geburtshilflichen Angebot und ihrer Erfahrungen und Bewertungen des Geburtsvorgangs.
- Eine interventionsarme (-freie), physiologische, würdevolle und wertschätzende Geburt fördern und anstreben.
- Perinataldatenerhebung erweitern und diese zur Verbesserung der Versorgungsqualität nutzen (aufbauend auf dem z.Z. laufenden Pilotprojekt zur Datenerhebung aus Sicht der Eltern bzgl. der Erlebnisse/Erfahrungen unter der Geburt, Hochschule Osnabrück, Prof.in Dr. Claudia Hellmers)
- Psychische Gesundheit stärken, traumatische Erfahrungen mit gesundheitlichen, physischen und psychischen Konsequenzen unter der Geburt verhindern
- Gewalterfahrungen unter der Geburt als strukturelles Thema in der Frauengesundheit anerkennen, definieren und Maßnahmen zur Abhilfe entwickeln.
- Prüfen, inwieweit mehr Unterstützung für Mütter vor, während und nach der Geburt durch Beratungsangebote und psychologische Betreuung ermöglicht werden kann.
Förderung von Forschung und Entwicklung zu den physischen und psychischen Auswirkungen von medizinisch nicht notwendigen Interventionen.
- Darauf hinwirken, dass alle beteiligten Berufsgruppen bereits in der Ausbildung auf interprofessionelles Handeln und den Bedarf von Frauen und Familien im Rahmen der geburtshilflichen Versorgung mit der nötigen Sensibilisierung vorbereitet werden.
- Prüfung einer Förderung von Fortbildungen von Hebammen sowie Ärztinnen und Ärzten in der traumasensiblen Begleitung von Frauen und Familien.
- Die Einführung von verbindlichen Nachgesprächen mit Müttern nach der Geburt prüfen und sich für die Vergütung dieser einzusetzen.
Zudem bittet der Landtag die Landesregierung sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass
- die neuesten Einigungen mit dem GKV zu den Regelungen der Vergütung von Hebammen (Hebammenhilfevertrag) überarbeitet werden, mit dem Ziel, dass Beleghebammen - die den Betrieb vieler klinischer Geburtshilfen sicherstellen – angemessen vergütet werden und sich nicht schlechter stellen als andere freiberufliche Hebammen.
- die Arbeitsbedingungen für freiberuflich tätige Hebammen sich verbessern und hierbei insbesondere eine Lösung der Haftpflichtproblematik für freiberufliche Hebammen herbeigeführt wird.
- Lösungen zur Refinanzierung der Geburtshilfe inkl. Vorhaltekosten weiterentwickelt werden, so dass Schließungen von Geburtshilfe aus wirtschaftlichen Gründen verhindert wird.
- die Beseitigung von Fehlanreizen weiter vorangetrieben werden, um Interventionen unter der Geburt zu reduzieren
- die durch Leitlinien der Fachgesellschaften erstellten Behandlungsstandards flächendeckend unter Beachtung der Level-Zuordnung umgesetzt werden, um allen Schwangeren eine adäquate Betreuung zu ermöglichen (z.B. spontane Beckenendlagengeburten, spontane Zwillingsgeburten).
Begründung
Schwangere haben das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt. Eine wohnortnahe und für Mütter und Kinder zugleich sichere Geburt hat für uns höchste Priorität.
Schon im Enquetebericht zur „Sicherstellung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Niedersachsen“ (2021) steht S. 118 ff. „In der geburtshilflichen Versorgung sollen Sicherheit, hohe Versorgungsqualität und Selbstbestimmtheit der werdenden Mütter gewährleistet werden, um die Gesundheit von Mutter und Kind zu erhalten sowie mögliche Risiken von Schwangerschaft und Geburt auf ein Minimum zu reduzieren (vgl. Bundesministerium für Gesundheit, 2017; G-BA, 2020h).“ Dazu gehören sowohl eine qualitativ hochwertige Versorgung durch Hebammen und Ärztinnen und Ärzte als auch eine wohnortnahe Möglichkeit zur Geburt, sei es stationär oder ambulant.
Angesichts der zunehmenden Schließungen stationärer Geburtshilfeeinrichtungen in zahlreichen Kliniken sind gezielte Maßnahmen erforderlich, um die flächendeckende und wohnortnahe geburtshilfliche Versorgung auch künftig sicherzustellen. Zwar ist perspektivisch mit einer Verbesserung der finanziellen Ausstattung aufgrund steigender Vorhaltekosten zu rechnen, dennoch bedarf es konkreter Planungen, um den Zugang zu einer stationären Geburtshilfe innerhalb von 40 Autominuten zu gewährleisten.
Darüber hinaus ist die Wahlfreiheit der Gebärenden hinsichtlich des Geburtsortes und der Geburtsform zu sichern – sei es in einem Geburtshaus, einem hebammengeleiteten Kreißsaal optimalerweise mit einer1:1-Betreuung, oder in einem Krankenhaus der Versorgungsstufen Level 1 bis 4. Die meisten Geburten finden in Niedersachsen in Kliniken der Versorgungsstufe 3 & 4 statt, daher ist ihre Erhaltung essenzielle für die flächendeckende, wohnortnahe geburtshilfliche Versorgung.
Eine qualifizierte Betreuung durch Hebammen, Geburtshelferinnen, Geburtshelfer sowie Ärztinnen und Ärzte muss dabei durchgehend gewährleistet sein.
In Deutschland haben Schwangere gemäß § 24c SGB V Anspruch auf ärztliche Betreuung, Hebammenhilfe sowie auf eine ambulante oder stationäre Entbindung. Die Umsetzung dieses gesetzlichen Anspruchs erfordert eine verlässliche, bedarfsgerechte Infrastruktur, für die sich neben dem Sicherstellungsauftrag durch die Krankenversicherungen auch das Land verantwortlich sieht.
Bei der Absicherung einer guten medizinischen Versorgung, gerade im ländlichen Niedersachsen, wird auch der Ausbau der Telemedizin eine wichtige Rolle spielen, damit spezialisiertes Fachwissen landesweit verfügbar gemacht werden kann.
Der Einbindung von Hebammenhilfe bei der Notfallversorgung und Rettungswesen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Keine Frau darf in die Lage gebracht werden, viele Kilometer zur nächsten Geburtsklinik zurückzulegen, um dann wegen überfüllter Kreißsäle abgewiesen zu werden. Denn wenn ein Notfall eintritt, darf keine Zeit verloren werden – und Ärztinnen, Ärzte und Kliniken müssen erreichbar und frei sein, um sich um Frau und Kind in Not zu kümmern. Dafür braucht es einen gut aufgestellten Rettungsdienst, der mit Hebammen, Geburtshäusern und Kliniken ein belastbares Notfall- und Verlegungskonzept organisiert. Auch während einer Verlegung muss die Schwangere oder Gebärende auf Hebammenhilfe zählen können.
Um diesen Herausforderungen adäquat begegnen zu können, ist die zeitnahe Erstellung eine Landesaktionsplans „Gute Geburt“ unerlässlich, um eine frauenzentrierte schwangerschafts- und geburtshilfliche Versorgung in Niedersachsen zukünftig sicherzustellen und den Hebammenberuf zu stärken. Denn eine Geburt gehört zu den prägendsten Momenten im Leben – und sie verpflichtet uns als Gesellschaft, Verantwortung für einen sicheren und würdevollen Start ins Leben zu übernehmen.