Antrag: Kinderarmut bekämpfen – Konkretes Handeln statt Ankündigungen und unverbindlicher Bundesratsentschließungen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest

I. Die Kinderarmut in Niedersachsen hat bedrohliche Ausmaße angenommen

  1. Mindestens jedes 6. Kind in Niedersachsen lebt in Armut und ist damit extrem benachteiligt.
  2. Im Jahr 2006 lebten 14% der EinwohnerInnen Niedersachsens in Armut. Besonders Haushalte mit Kindern sind betroffen, denn die Armutsquoten steigen in Abhängigkeit von der Haushaltsgröße an: Vierpersonenhaushalte haben eine Armutsquote von 14,9%, bei  Haushalten mit 5 und mehr Personen liegt sie bei 32,7%.
  3.  Arme Kinder haben deutlich reduzierte Entwicklungs- und Bildungschancen. Schon vor der Einschulung werden bei Kindern aus sozial schwachen Familien vermehrt Entwicklungsverzögerungen und Gesundheitsstörungen festgestellt. Wir brauchen gleiche Chancen für alle Kinder, deshalb darf an deren materieller Versorgung nicht gespart werden.

II. Es gibt dringenden Handlungsbedarf

  1. Die pauschale Ableitung der Kinderregelsätze aus dem Regelsatz eines alleinstehenden Erwachsenen ist realitätsfern und hat sich in der Praxis nicht bewährt. Sie sind nach allen vorhandenen Erkenntnissen zu niedrig angesetzt. Notwendig ist ein eigenständiger Regelsatz für Kinder, der auf nachvollziehbaren und wissenschaftlichen Erhebungen über deren besondere entwicklungsbedingten Bedarfe beruht.
  2. Die Landesregierung hat zwar im Bundesrat eine Entschließung unterstützt, nach der die Bundesregierung aufgefordert wird, die Regelsätze für Kinder nach dem SGB II sowie dem SGB XII neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spezielle Erfassung des Kinderregelbedarfs vorzusehen. Auf einen Gesetzentwurf konnten sich die Länder jedoch nicht einigen.
  3. Es besteht dringender Handlungsbedarf für eine ausreichende Bedarfsdeckung mit allgemeinen Lernmitteln und besonderem Schulbedarf für Schülerinnen und Schüler.
  4. Zudem fehlt im SGB II die Möglichkeit, besondere Bedarfe über Einzelfallleistungen erfassen zu können

III. Die Bundesregierung und das Land Niedersachsen sitzen das Problem der Kinderarmut aus

  1. Die CDU-SPD geführte Bundesregierung hat bis heute keine einzige Maßnahme zur Abdeckung der Fehlbedarfe für Kinder und Jugendliche im SGB II oder SGB XII Bezug vorgelegt.
  2. Sie will erst nach Vorlage der Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, deren Daten frühestens 2010 vorliegen werden tätig werden. Damit ist eine Änderung der Kinderregelsätze in weite Ferne gerückt.
  3. Obwohl im Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales Einmalleistungen für Kinder, die erstmals die Schule besuchen, in Höhe von 150 Euro als "Schulstarter-Paket" angekündigt wurden, ist dies von der Bundesregierung bis heute nicht umgesetzt worden, ebenso wenig wie der im Bericht empfohlene Zuschuss für gesunde Ernährung in Kitas und Schulen.
  4. Dabei verschärft die Preisentwicklung das Problem armer Haushalte und verschlechtert die Situation der Kinder in diesen Haushalten weiter.
  5. Der Sozialfonds des Landes ist bisher nur für das Haushaltsjahr 2008 gesichert.

Der Landtag wolle beschließen:

I. Die Landesregierung wird aufgefordert, unverzüglich einen eigenen Gesetzentwurf in den Bundesrat einzubringen, um zeitnah eine Überprüfung der Kinderregelsätze zu erreichen.
Inhalt dieses Gesetzentwurfes sollen die folgenden Punkte sein:

  1. Kinder und Jugendliche, deren Eltern Leistungen nach dem SGB II und SGB XII beziehen, sollen Regelleistungen  erhalten, die ihren tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen.
  2. Zur Ermittlung der notwendigen Höhe dieser Regelleistungen ist unverzüglich eine unabhängige ExpertInnenkommission unter Beteiligung von Wohlfahrtsverbänden , Verbänden und  WissenschaftlerInnen einzusetzen, die transparent und nachvollziehbar den kinderspezifischen Bedarf bei der Bemessung armutsfester und kindgerechter  Regelsätze unter besonderer Berücksichtigung der Lernbedarfe ermitteln soll. Auf dieser Grundlage sollen die Regelsätze des ALG II und des SGB XII vom Bund in Zusammenarbeit mit den Ländern überarbeitet und neu festgelegt werden.

Die Kinderbedarfe müssen bis dahin kurzfristig im Rahmen eines spezifischen Kinderwarenkorbes durch ein Expertengremium, bestehend aus VerbandsvertreterInnen und Sachverständigen, festgelegt werden.

Für den Übergang müssen vorab sofort gesetzliche Regelungen zur Gewährung von Sachleistungen geschaffen werden, die der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dienen (z.B. Kosten für, aufwendiges Schullernmaterial, die Inanspruchnahme von Sportangeboten und  kulturellen Bildungsangeboten).

II. Die Landesregierung wird aufgefordert:

  1. Den Sozialfonds für die Unterstützung bedürftiger Kinder und Jugendlicher beim Schulessen in Ganztagschulen weiterzuführen, auf pädagogische  Mittagstische in Grundschulen auszuweiten, dem tatsächlichen Bedarf entsprechend auszustatten und die Vergabebedingungen zu vereinfachen.
  2. Diesen Fonds  zu erweitern auf eine Unterstützung bei den  Kosten für aufwendige Lernmittel, eintägige Klassenfahrten oder die Inanspruchnahme von Sportangeboten oder Angeboten der kulturellen Bildung.
  3. Sicherzustellen, dass die Fahrtkosten für Schülerinnen und Schüler aus armen Familien, die ab der Klasse 11 eine weiterführende Schule besuchen, übernommen werden.

Begründung

Kinderarmut ist in der Bundesrepublik keine Randerscheinung. Laut dem Kinderreport Deutschland 2007 des deutschen Kinderhilfswerks gelten 14% der Kinder als arm. Jedes sechste Kind in Niedersachsen lebt in einer Familie, die Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Sozialhilfe nach dem zweiten Buch und zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II, SGB XII) bezieht.

Arme Kinder und Jugendliche haben eingeschränkte Lebens- und Teilhabechancen. Sie sind vielfach in ihrer körperlichen und gesundheitlichen Entwicklung benachteiligt.  Schon vor der Einschulung werden bei Kindern aus sozial schwachen Familien vermehrt Entwicklungsverzögerungen und Gesundheitsstörungen festgestellt. Armut ist häufig mit verminderten Bildungschancen verbunden. Eine zentrale Erkenntnis aller Bildungsstudien ist, dass heute immer noch der soziale Status der Eltern weitgehend den Bildungserfolg ihrer Kinder bestimmt.

Um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen, muss die Politik auf mehreren Wirkungsebenen ansetzen. So ist zum Beispiel der Ausbau von Ganztagsschulen, von individuellen Förderangeboten in Schulen und Kindertagesstätten sowie ein ausreichendes Angebot an qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung vom frühen Alter an unverzichtbar.

Eine existenzsichernde materielle Absicherung durch bedarfsgerechte Regelsätze ist jedoch eine notwendige Bedingung für die Sicherung von Teilhabechancen und für die Inanspruchnahme von weiteren staatlichen Förderleistungen. Das Fehlen dieser materiellen Grundvoraussetzung behindert die Wirkung von weiteren familien-, bildungs- und beschäftigungspolitischen Reformansätzen. Kinder und Jugendliche aus armen Familien brauchen eine faire Chance, ihre individuellen Potenziale zu entwickeln und zu entfalten, gesund aufzuwachsen, Bildungs- und Förderangebote wahrzunehmen und so eine gute Ausgangsposition für ihre weitere Lebensgestaltung und ihre berufliche Perspektive zu erhalten.

Die Regelleistungen nach dem SGB II und SGB XII decken das Existenzminimum nicht. Es besteht seit Jahren ein Nachholbedarf von ca. 20%, wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband in einem Gutachten hat berechnen lassen. Insbesondere sind die Auswirkungen der Gesundheitsreform, der Mehrwertsteuererhöhung und der Anstiege der Stromkosten nicht berücksichtigt worden.

Neben dieser Tatsache ist jedoch vor allem die Herleitung des Kinderregelsatzes höchst fragwürdig und führt zu einer strukturellen Unterversorgung von Kindern. Für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres beträgt der Regelsatz 60 % des Eckregelsatzes eines Erwachsenen von derzeit 352 €. Dies entspricht einem Betrag von 211 €. Für Jugendliche ab 15 Jahren beträgt der Regelsatz 80 % des Eckregelsatzes. Dies entspricht einem Betrag von 281 €.

Die Regelsätze für Kinder und Jugendliche, deren Eltern das Arbeitslosengeld II (ALG II) oder Sozialhilfe beziehen, orientieren sich nach einhelliger Auffassung von Experten nicht an dem besonderen entwicklungsbedingten Bedarf von Kindern, sondern werden mehr oder weniger willkürlich von einer unzureichenden Bezugsgröße mehrfach pauschal aus dem Eckregelsatz eines erwachsenen, allein stehenden Haushaltsvorstandes abgeleitet. Dieser Eckregelsatz wird wiederum nicht auf der Basis des Verbrauchsverhaltens von Familien ermittelt, sondern aus dem Verbrauchsverhalten der unteren 20 % der Ein-Personen-Haushalte aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Diese Bezugsgruppe besteht mehrheitlich aus Rentnern. Sie ist in keiner Weise geeignet, die besonderen entwicklungsbedingten Bedarfe von Kindern abzubilden.

Einmalige Leistungen, die in der alten Sozialhilfe vor dem Jahr 2005 ganz überwiegend Kinder erhalten haben, sind im neuen Sozialgeld pauschal durch einen Aufschlag in den Eckregelsatz für Erwachsene integriert worden. In diesem pauschalen Aufschlag sind jedoch die einmaligen Leistungen aller Altersgruppen zusammengefasst worden, obwohl RentnerInnen kaum einmalige Leistungen in Anspruch genommen haben. d.h., die besonderen altersspezifischen Unterschiede sind zu ungunsten von Kindern eingeebnet worden. Der Wegfall einmaliger Leistungen in Kombination mit einer unzureichenden Bedarfsfestlegung im Regelsatz führt vielfach dazu, dass die betroffenen Familien keine Rücklagen für die im pauschalierten Regelsatz enthaltenen Ausgabenpositionen bilden können. Insbesondere im Falle eines längeren Leistungsbezugs kann die Anschaffung von Kleidung, der Mehraufwand für eine gesunde Ernährung, die Mitgliedsgebühren für den Sportverein, die Kosten für die Teilnahme am Schulessen oder für die Busfahrkarte nicht finanziert werden.

Gerade zu Beginn des Schuljahrs wird überdeutlich, dass die Ausgaben für Lernmittel wie Hefte, Stifte, Malutensilien, Kopiergeld, Arbeitshefte, Zeichenblöcke und Ähnlichem, die sich auf bis zu 100 Euro (in Fällen wie Kauf von Ranzen oder Taschenrechnern auch erheblich mehr) belaufen können, die finanziellen Möglichkeiten armer Familien überfordern. Den betroffenen Kindern und Jugendlichen wird hier die Chancengleichheit im Bildungsbereich genommen. Es ist erforderlich für diese und andere Fälle die Möglichkeit einmaliger Beihilfen wieder einzuführen.

Bei der Erhöhung der Regelsätze des ALG II zum 1.7.2008 hat die große Koalition nicht nur erneut die Chance vertan, die erkennbare und durch Armutsstudien belegte Kinderarmut abzumildern. Im Gegenteil: Sie wurde faktisch für die nächsten Jahre fortgeschrieben. Die Länder haben sich bei der Anpassung der Regelsätze des SGB XII lediglich dem Bund angeschlossen. Die Überprüfung der Regelsätze nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) erfolgt in viel zu langen Abständen und ist wegen der dort gewählten Referenzgruppen nahezu wirkungslos.

Die Diskussionen über die Armut in Niedersachsen und die Problematik der Kinderregelsätze haben dazu geführt, dass die Niedersächsische Landesregierung sich einer entsprechenden Gesetzesinitiative Nordrhein-Westfalens im Bundestag angeschlossen hatte. Am 23.05.08 wurde im Bundesrat jedoch lediglich eine Entschließung verabschiedet, in der die Bundesregierung aufgefordert wurde,  die Kinderregelleistungen neu zu bemessen. Auf eine eigene Gesetzesinitiative konnte man sich, wegen des Widerstandes der unionsgeführten Länder, jedoch nicht einigen. Damit blieben die Länder weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dieses Ping-Pong-Spiel zwischen Bund und Ländern um zusätzliche Hilfen für arme Kinder, insbesondere für Leistungen, die sich auf den Schulbesuch beziehen, wird auf dem Rücken der betroffenen Kinder ausgetragen. Da der Bund bereits angekündigt hat, nicht vor 2010 tätig zu werden ist es dringend erforderlich, dass das Land Niedersachsen einen eigenen Gesetzentwurf einbringt, der den Bund vor Tatsachen stellt, die er nicht ignorieren kann.

Es müssen jetzt dringend korrigierende Maßnahmen für eine armutsfeste und kindgerechte Erhebung der Regelsätze mit der Perspektive der Einführung einer Kindergrundsicherung ergriffen werden. Dafür sind beratende Expertengremien mit Beteiligung von WissenschaftlerInnen aus der Armutsforschung, Wohlfahrtsverbänden und dem Deutschen Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (DV) einzurichten.

So lange die Leistungen des ALG II und des SGB XII keine auskömmlichen Regelungen vorsehen,  muss neben der Möglichkeit der Sachleistungsgewährung das Land weiterhin gemeinsam mit den Kommunen in einem Sozialfonds passgenaue und unbürokratische Hilfemöglichkeiten bereitstellen, um mehr Chancengerechtigkeit für Kinder aus armen Familien zu ermöglichen.

Parlamentarische Geschäftsführerin

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