Antrag: Infektionsschutz für Geflüchtete gewährleisten - dezentrale Unterbringung voranbringen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Der Ausbruch des Corona-Virus betrifft die gesamte Gesellschaft, auch Geflüchtete. Diese sind aufgrund der beengten Unterbringung in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes und kommunalen Gemeinschaftsunterkünften besonders von einer Infektion mit dem Coronavirus bedroht. Dort kann weder ein Sicherheitsabstand eingehalten, noch können soziale Kontakte vermieden werden. Wer sich Gemeinschaftsküchen teilt, in Mehrbettzimmern wohnt, aus derselben Kantine versorgt wird und die Sanitäranlagen gemeinsam nutzt, ist immer mit anderen Menschen in Kontakt. Flächendeckende Hygiene- oder Schutzstandards können in Gemeinschaftsunterkünften nur bedingt umgesetzt und eingehalten werden. Wenn in Gemeinschafts- und Sammelunterkünften die Wahrung des Mindestabstands nicht möglich ist, ist eine Unterbringung dort ungeeignet.

In den letzten Jahren wurden durch die Bundesregierung die Regelungen zur Wohnsitzverpflichtung in Erstaufnahmeeinrichtungen zunehmend verschärft, zuletzt mit dem sogenannten Geordneten-Rückkehr-Gesetz. Schutzsuchende werden so angesichts der Corona-Infektionslage einem unverantwortlichen Risiko ausgesetzt. Insbesondere für Risikogruppen ist das nicht hinnehmbar.

In der Landesaufnahmebehörde in Bramsche leben ca. 900 Geflüchtete, in Bad Fallingbostel über 700, in Braunschweig und Osnabrück je rund 500, in Oldenburg und Celle je rund 200 sowie in Friedland knapp 70.Geflüchtete leben zu lange in den Erstaufnahmeeinrichtungen, teils bis zu 18 Monate. Sechsbettzimmer sind weit verbreitet. So können Gemeinschaftsunterkünfte zu Infektionsherden ähnlich wie bei den Erntehelfer*innen werden. Deshalb müssen die Belegungszahlen in den Landesaufnahmeeinrichtungen drastisch reduziert werden. Es muss verhindert werden, dass Geflüchtete schneller infiziert werden als andere Menschen.             

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

1.      sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass       .

  • das Asylgesetz dahingehend geändert wird, dass die Pflichtaufenthaltszeiten in den Erstaufnahmeeinrichtungen verkürzt werden
  • bundeseinheitliche Leitlinien zwischen Bund und Ländern für Musterhygienepläne vereinbart werden
  • der Erlass negativer Asylentscheidungen durch das BAMF vorübergehend gestoppt wird, bis der verlässliche Zugang zu Rechtsberatung wieder gewährleistet ist und die kurzen Rechtsmittelfristen wieder eingehalten werden können
  • Überstellungen innerhalb der EU auch formell ausgesetzt werden und ein Abschiebestopp erklärt wird, solange die Landes- oder Bundesregierung die Corona-Maßnahmen aufrechterhalten werden oder die Situation in den Zielländern dies erfordert.

2.      in Niedersachsen

  • von § 49 Absatz2 Asylgesetzdahingehend Gebrauch zu machen, dass die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge schnellstmöglich beendet wird
  • die Verteilung aller Geflüchteten auf die Kommunen innerhalb von zwei Wochen nach deren Eintreffen in der Erstaufnahmeeinrichtung vorzunehmen und dabei Angehörige von Risikogruppen und Schutzbedürftige zu priorisieren
  • analog zu den seit März 2020 verpflichtenden Vorgaben des Landes für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer*innen für die Unterbringung von Geflüchteten in Erstaufnahmeeinrichtungen und kommunalen Gemeinschaftsunterkünften eine verbindliche Vorgabe für die ausschließliche Nutzung von Einzelzimmern (Ausnahmen für Familien) zu machen, um das Infektionsrisiko für die Bewohner*innen zu senken
  • kleine Einheiten für die dezentrale Unterbringung und kommunale Konzepte zu schaffen, entsprechend den Regelungen für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer*innen, und dabei auch die Unterbringung in Appartements, Ferienwohnungen, Hotels und sonstigen Leerständen einzubeziehen
  • ein Konzept zur Evakuierung von Risikopatient*innen kurzfristig zu entwickeln und umzusetzen
  • Quarantänemaßnahmen auf Infizierte und Kontaktpersonen zu beschränken und in Quarantäne befindliche Personen oder COVID-19-Infiziertenicht mit anderen Erkrankten zusammen zu legen
  • ein landesweites Konzept zur Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs von in Quarantäne befindlichen Personen zu erstellen
  • COVID-19-Tests genauso häufig durchzuführen wie außerhalb der LAB NI und dabei alle Bewohner*innen der LAB NI genau in allen erforderlichen Sprachen darüber aufzuklären, in welchen Fällen Tests erfolgen können, sowie ggf. standardisierte Testungen bei allen Neuankünften durchzuführen
  • je nach Bedarf COVID-19-Tests vor jeder Zuweisung aus der LAB NI in die Kommunen vorsorglich durchzuführen
  • Gesundheitskarten auch für Menschen, die Asylbewerberleistungen beziehen und nicht krankenversichert sind, für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus sowie für erwerbslose EU-Bürger*innen auszustellen, damit auch sie einen normalen Zugang zum Gesundheitssystem bekommen
  • tagesaktuell und in allen erforderlichen Sprachen Informationen zu COVID-19 und zur Quarantäne bereit zu stellen und auch entsprechende Beratung anzubieten
  • Zugang zum WLAN in allen Zimmern der Aufnahmeeinrichtungen und nicht nur in den Fluren und Gemeinschaftsräumen zu gewährleisten, damit sich die Bewohner*innen über die digitalen Medien informieren und Kontakt zu Verwandten und Freund*innen halten können, und so dem Lagerkoller vorzubeugen
  • die Beschulung in der Landesaufnahmebehörde (LAB NI) besonders in der aktuellen Situation so zu gestalten, dass sich alle Kinder beteiligen können
  • die Auszahlung von Leistungen durch die Sozialbehörden sicherzustellen und, sofern Geflüchtete nicht über ein Girokonto verfügen, die Auszahlung möglichst vor Ort in der Unterkunft zu organisieren
  • soweit noch nicht geschehen, alle Behördentermine abzusagen und Aufenthaltspapiere unbürokratisch zu verlängern
  • Abschiebungen auszusetzen und alle Menschen, die sich nach wie vor in Abschiebehaft befinden, zu entlassen, solange die Landes- oder Bundesregierung die Corona-Maßnahmen aufrechterhalten werden oder die Situation in den Zielländern dies erfordert.

3.      in den Kommunen

  • Unterbringungseinrichtungen dezidierte Landesvorgaben zur Verfügung zu stellen, damit die oben aufgezählten Forderungen für die Landesebene auch in den Kommunen erfüllt werden, und die Kommunen bei der Umsetzung dieser Vorgaben proaktiv zu unterstützen
  • Schutzmaßnahmen für Risikopatient*innen sicher zu stellen
  • für geflüchtete Menschen in Quarantäne eine behördlich gesicherte Unterstützung für die Gewährleistung des täglichen Bedarfs (Einkäufe, Lebensmittel etc.) sicher zu stellen
  • Anreize, ggf. finanzieller Art, zu schaffen, um eine dezentrale Unterbringung in eigenen Wohnungen zu organisieren und Gemeinschaftsunterkünfte nach und nach schließen zu können.

Begründung

Das Verwaltungsgericht Leipzig hat mit Beschluss vom 22.04.2020 festgestellt, dass "auch in Asylbewerberunterkünften die Verhinderung der Ausbreitung der Krankheit Covid-19 zwingend geboten ist" und in dem konkreten Fall die Landesdirektion Sachsen verpflichtet, vorläufig die Pflicht des klagenden Asylbewerbers, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, zu beenden. Geklagt hatte ein Asylbewerber, der aus Altersgründen einer Risikogruppe gehört.

Die Verwaltungsgerichte Dresden (Beschlüsse vom 24.04.2020 und 29.04.2020), Chemnitz (Beschluss vom 30.04.2020) und Münster (Beschlüsse vom 07.05.2020 und 12.05.2020) haben ebenfalls entschieden, dass jeweils Einzelpersonen oder Familien aus Erstaufnahmeeinrichtungen entlassen werden müssen, weil in den Unterkünften der Schutz vor Covid-19 nicht hinreichend gewährleistet ist.

Nach Erkenntnissen einer neuen, bisher unveröffentlichten Studie der Universität Bielefeld und des Kompetenzzentrums Public Health Covid-19 könnten Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland aufgrund der hohen Personendichte besonders anfällig für Corona-Infektionen werden. Nach den Erkenntnissen der Forscher*innen sei das Infektionsrisiko in den dafür untersuchten Einrichtungen vergleichbar hoch oder sogar noch höher als auf Kreuzfahrtschiffen. Als einen der Hauptgründe dafür nennen die Forscher*innen die verpflichtende gemeinsame Nutzung von Bädern, Küchen und Zimmern, in denen Abstandsregelungen nicht eingehalten werden können. Ein Corona-Fall würde danach statistisch 20 Prozent der übrigen Bewohner*innen infizieren. Die Forscher*innen haben dafür 23 Einrichtungen in sieben Bundesländern untersucht. Der Studienleiter, ein Professor für Public Health an der Universität Bielefeld, folgerte aus den Erkenntnissen schließlich, dass einzig die Unterbringung in Einzelzimmern oder eine dezentrale Unterbringung das Infektionsrisiko begrenzen kann. 

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat einen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard definiert. Darin werden Infektionsschutzmaßnahmen für Sammelunterkünfte vorgesehen. Darin ist eine Einzelbelegung von Schlafräumen vorgesehen. Für Küchen in solchen Unterkünften sind danach Geschirrspüler vorzusehen, da die Desinfektion des Geschirrs Temperaturen über 60°C erfordere. Ebenso seien Waschmaschinen zur Verfügung zu stellen oder ein regelmäßiger Wäschedienst zu organisieren.

Gleichermaßen müssen solche Maßgaben auch für Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes und kommunale Gemeinschaftsunterkünfte verbindlich festgelegt werden.

Das Land muss nun in Kooperation mit den Kommunen die Anzahl der Bewohner*innen in den Massenunterkünften deutlich reduzieren, um das Infektionsrisiko zu senken. Hierfür ist es erforderlich, möglichst viele Geflüchtete dezentral unterzubringen, wobei sämtliche freie Kapazitäten auszuschöpfen und erforderlichenfalls zusätzliche Wohnräume anzumieten sind. Besonders gefährdete Personen sind prioritär und unverzüglich aus den Massenunterkünften in dezentrale Unterkünfte zu verlegen, um sie bestmöglich zu schützen.

Sofern in Massenunterkünften Zimmer leer stehen, sind diese unverzüglich zu öffnen, um die Belegung zu entzerren.

Alle von Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut oder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung angeratenen Hygiene- und Schutzmaßnahmen für Massenunterkünfte müssen in vollem Umfang auch in Flüchtlingsgemeinschaftsunterkünften umgesetzt werden.

Für Bewohner*innen, die in Quarantäne genommen werden müssen, ist eine adäquate soziale, medizinische und psychologische Versorgung sicherzustellen. Überdies ist sicherzustellen, dass diese Personen weiterhin mit Freund*innen und Familie, Sozialarbeiter*innen, Ehrenamtlichen und Behörden kommunizieren können, indem ihnen der Zugang zum Internet ermöglicht und ihnen hierfür erforderlichenfalls ein Smartphone und/oder Laptop zur Verfügung gestellt wird. Abzulehnen ist in jedem Fall die pauschale Inquarantänenahme von Geflüchteten und die pauschale Abriegelung von Massenunterkünften durch die Polizei oder Sicherheitsdienste, da diese nicht als Schutz, sondern als Internierung wahrgenommen wird.

Die Gesundheitsversorgung und die freie Arztwahl müssen für alle Flüchtlinge gesichert sein. Geflüchteten muss bei einem Verdacht auf Infektion wie für alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch der Zugang zum regulären Gesundheitssystem und zu Corona-Tests ermöglicht werden.

Da Geflüchtete häufig aufgrund fehlender oder geringer Deutschkenntnisse vom öffentlichen Informationsfluss abgeschnitten sind, bedarf es verlässlicher, tagesaktueller mehrsprachiger Nachrichten und Informationen. Deshalb sind offizielle Informationsmaterialien kurzfristig zu übersetzen und in den Massenunterkünften in den Sprachen der dort untergebrachten Geflüchteten zu verbreiten sowie online zugänglich zu machen. Zudem sind Telefon-Hotlines mit Dolmetscher*innen für alle Geflüchteten einzurichten, um drängende Fragen direkt beantworten zu können.

Da Termine bei Behörden ein unabsehbares Infektionsrisiko bergen, weil sich hier besonders viele Menschen in engen Wartebereichen über längere Zeit aufhalten, sind alle nicht zwangsweise notwendigen Termine zur persönlichen Vorsprache - und zwar auch solche bei Botschaften und Konsulaten - abzusagen, um Infektionsgefahren zu minimieren.

Solange die Landes- oder Bundesregierung die Corona-Maßnahmen aufrechterhalten, sind Aufenthaltsgestattungen, Aufenthaltserlaubnisse und Duldungen seitens der Ausländerbehörden unbürokratisch von Amts wegen zu verlängern und ihren Inhaber*innen postalisch zuzustellen.

Da Beratungsstellen und Kanzleien nach und nach schließen und damit der Zugang zu einer effektiven Rechtsberatung nicht mehr gewährleistet ist, fordern wir für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Stopp negativer Entscheidungen. Auch den Ausländerbehörden ist zu untersagen, ablehnende Bescheide zu erlassen, solange die Landes- oder Bundesregierung die Corona-Maßnahmen aufrechterhalten.

Soweit es trotz des eingeschränkten Luft- und grenzüberschreitenden Verkehrs überhaupt noch zu Abschiebungen kommt, sind auch diese unverzüglich einzustellen, da sie sowohl für die abzuschiebenden Geflüchteten als auch die Landes- und Bundespolizeibeamt*innen sowie das Flugpersonal ein inakzeptables Infektionsrisiko bergen. Zudem besteht die Gefahr, dass der Coronavirus in andere Länder weitergetragen wird. Deshalb sind, solange die Landes- oder Bundesregierung die Corona-Maßnahmen aufrechterhalten, sämtliche Abschiebungen auszusetzen und die Betroffenen zu dulden. Der Betrieb des Abschiebungshaftgefängnisses in Langenhagen ist solange einzustellen.

 

Zurück zum Pressearchiv