Antrag: Im Notfall richtig versorgt – Notfallversorgung in Niedersachsen nachhaltig entlasten und neuausrichten!

Fraktion SPD
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Eine gut funktionierende Notfall- und Akutversorgung ist von grundlegender Bedeutung für die Gesundheitsversorgung. Für Menschen in lebensbedrohlichen Notsituationen sowie Patientinnen und Patienten mit einem dringlich notwendigen medizinischen Behandlungsbedarf ist sie die erste Anlaufstelle im deutschen Gesundheitssystem. Hilfesuchende, die unverzüglich auf medizinische Unterstützung angewiesen sind, können sich dabei nach eigenem Ermessen entweder an den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst, die Notaufnahme im Krankenhaus oder den Rettungsdienst wenden.

In den vergangenen Jahren ist die Inanspruchnahme der Notfallversorgung angestiegen. Der Rettungsdienst muss immer häufiger ausrücken, die Notfallambulanzen sind regelmäßig überfüllt und das Personal überlastet. In der Folge kommt es in den Notaufnahmen oftmals zu langen Wartezeiten. Im schlimmsten Fall können sie für ihre vordringlichen Aufgaben blockiert werden. Unterschiedliche Studien weisen zudem daraufhin, dass zwischen 30 Prozent und 50 Prozent der Patientinnen und Patienten, die die Notaufnahme aufsuchen, aus medizinischer Sicht nicht im Rahmen der stationären Notfallversorgung behandelt werden müssen.

Die Ursachen dieser Entwicklungen sind vielfältig. Sie reichen von nicht ausreichend transparenten Zuständigkeiten oder schlechten Erfahrungen mit dem vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst über die Erwartung einer schnelleren Behandlung im Krankenhaus bis hin zu unterschiedlichen Anreizen für die Leistungserbringenden und Personalengpässen.

Die Politik hat den Reformbedarf der Notfall- und Akutversorgung schon länger im Blick. Der niedersächsische Landtag hat bereits in der vergangenen Wahlperiode eine Enquetekommission mit dem Auftrag eingesetzt, Lösungsansätze zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung in Niedersachsen zu erarbeiten. Die Kommission hat in ihrem Abschlussbericht u.a. für die Neuaufstellung der Notfallversorgung einstimmig konkrete Handlungsempfehlungen formuliert, die im Gestaltungs- und Ermessensbereich des Landes und der niedersächsischen Kommunen sowie der landesunmittelbaren Leistungserbringer und Kostenträger liegen.[1]

Die Bundesregierung hat zwischenzeitlich auf Grundlage der vierten Stellungnahme der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung einen umfassenden Reformprozess der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland angestoßen.

Vor diesem Hintergrund gilt es, die bisherigen Bemühungen zur Neuausrichtung der Notfallversorgung auf Landesebene fortzusetzen und den Reformprozess auf Bundesebene konstruktiv zu begleiten.

Der Landtag begrüßt:

  • die bisherige Umsetzung der Handlungsempfehlungen der „Enquetekommission zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung in Niedersachsen“,
  • die konstruktive Zusammenarbeit der Landesregierung mit den maßgeblich an der Notfallversorgung in Niedersachsen beteiligten Akteurinnen und Akteuren,
  • die flächendeckende Einführung des interdisziplinären Versorgungsnachweises „IVENA“ zur besseren Vernetzung von Rettungsleitstellen, Rettungsdiensten und Krankenhäusern,
  • die flächendeckende und landesweit einheitliche Einführung und Umsetzung der Telenotfallmedizin,
  • den mit der vierten Stellungnahme der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung angestoßenen Reformprozess der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland.

Der Landtag bittet die Landesregierung:

  1. Zusammenschlüsse bestehender Rettungsleitstellen in Niedersachsen in Abstimmung mit den kommunalen Trägern des bodengebundenen Rettungsdienstes zu unterstützen. Perspektivisches Ziel soll die Weiterentwicklung der niedersächsischen Leitstellen zu umfassenden Gesundheitsleitstellen sein.
  2. Gemeinsam mit den kommunalen Trägern des bodengebundenen Rettungsdienstes die Systematisierung und Bündelung der Kapazitäten in den Rettungsleitstellen voranzutreiben. Dazu zählt insbesondere die landesweite Einführung eines einheitlichen strukturierten sowie auf international wissenschaftlich evaluierten und validierten Standards basierenden Notrufabfrage- und Dispositionsprozesses.
  3. Die Qualifizierung der Disponentinnen und Disponenten zur Anwendung der einheitlichen Notrufabfrage und Dispositionsinstrumente sicherzustellen.
  4. In Abstimmung mit den für die Notfallversorgung in Niedersachsen maßgeblichen Akteurinnen und Akteuren über alle Notfallsektoren hinweg kompatible beziehungsweise aufeinander abgestimmte Ersteinschätzungskriterien für die Zuordnung von Notfällen in die richtige Versorgungsstufe zu entwickeln, zu erproben und die daraus gewonnenen Erfahrungen in den Reformprozess auf Bundesebene einzubringen.
  5. Auf eine Zusammenführung der Notrufnummer 112 und der 116117 hinzuwirken, so dass zwischen den verschiedenen Rettungsleitstellen und verschiedenen Versorgungsebenen ein Rückgriff auf die Strukturen und Ressourcen der anderen Leitstelle und eine unmittelbare Weiterleitung von Anrufenden und erhobenen Daten an die andere Ebene möglich sind. Beide Rufnummern sollen dabei in ihrer derzeitigen Funktion erhalten bleiben.
  6. Sich gleichzeitig für eine bessere Erreichbarkeit der 116117 einzusetzen. Dazu zählen insbesondere auch kürzere Wartezeiten („Warteschleifen“) für Anrufende.
  7. Den wohnortnahen Aufbau Integrierter Notfallzentren (INZ) an niedersächsischen Krankenhäusern unter Berücksichtigung des Krankenhausreformprozesses auf Bundesebene zu planen und umzusetzen.
  8. Den flächendeckenden Einsatz von Gemeindenotfallsanitäterinnen und Gemeindenotfallsanitätern (GNS) oder gleich qualifizierten Personen zu ermöglichen. Dafür gilt es insbesondere, bei den verantwortlichen Akteurinnen und Akteuren der Selbstverwaltung sowie den zuständigen Kostentragenden auf eine gemeinschaftliche Finanzierung hinzuwirken sowie auf Bundesebene die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine Etablierung der GNS in weiteren niedersächsischen Rettungsdienstbereichen ermöglicht.
  9. Den Austausch und die Aktivitäten zur Neuausrichtung der Notfallversorgung in einem gemeinsamen Landesgremium gem. § 90a SGB V zu bündeln. In dem Landesgremium sollen die maßgeblichen Akteurinnen und Akteure aller drei Sektoren der Notfallversorgung sowie die Landesregierung vertreten sein. Es soll sowohl Empfehlungen für eine sektorenübergreifende Notfallversorgung in Niedersachsen abgeben als auch den bevorstehenden Reformprozess auf Bundesebene konstruktiv begleiten.
  10. Die Überführung des Modellprojekts der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen „Videosprechstunde im ärztlichen Bereitschaftsdienst“ in die Regelversorgung zu unterstützen.
  11. Durch Öffentlichkeitsarbeit nach dem Vorbild der Aufklärungskampagne der Freien Hansestadt Bremen eine Sensibilisierung der Patientinnen und Patienten für die Inanspruchnahme der verschiedenen Versorgungsangebote vorzunehmen.
  12. Bei den zuständigen Akteurinnen und Akteuren auf die Einführung eines umfassenden Qualitätsmanagements und die Erfassung transparenter Daten in der Notfallversorgung hinzuwirken, damit Maßnahmen zur Neuausrichtung der Notfallversorgung zukünftig besser evaluiert werden können.
  13. Sich auf Bundesebene für eine deutschlandweit einheitliche und anerkannte Berufsausbildung für Leitstellendisponentinnen und Leitstellendisponenten einzusetzen.
  14. Die Bemühungen des Bundes zur Neuausrichtung der Notfall- und Akutversorgung zu unterstützen und sich im Sinne der Handlungsempfehlungen der „Enquetekommission zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung in Niedersachsen“ aktiv in den Reformprozess einzubringen.

Begründung

Die Sicherstellung der Notfall- und Akutversorgung steht bundesweit vorzunehmenden Herausforderungen. Nur durch eine umfassende Neuausrichtung der Aufgaben und Möglichkeiten lässt sich diesen Herausforderungen begegnen.

Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) für Niedersachsen belegen eine Fallzahlensteigerung in Notfallambulanzen um 30,7% in den vergangenen zehn Jahren, während die Fallzahlen des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes im gleichen Zeitraum um 17,2% gesunken sind. In Niedersachsen sind darüber hinaus die Einsatzzahlen des Rettungsdienstes in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. So wurde im Pilotprojekt Gemeindenotfallsanitäter (gestartet 2019 in den Landkreisen Vechta, Cloppenburg, Ammerland und der Stadt Oldenburg mit Trägern, Beauftragten und Krankenkassen) festgestellt, dass in etwa der Hälfte der Fälle der Rettungsdienst nicht die richtige Versorgungsebene war. Verschärft wird diese Situation durch Personalengpässe im Gesundheitswesen, die einen effizienteren Personaleinsatz in allen Bereichen der Notfallversorgung erfordern.

Um der nicht sachgerechten Inanspruchnahme entgegenwirken zu können und Notrufe effizienter zu bearbeiten, fehlt es den Rettungsleitstellen an Steuerungsmöglichkeiten zur unmittelbaren Weiterleitung an erweiterte Versorgungsmöglichkeiten wie die Telenotfallmedizin, den Notfallkrankenwagen, die Gemeindenotfallsanitäterinnen und -sanitäter, die Sozialdienste, die Psychiatrischen Dienste, die Notfallpflege und vor allem an den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst. Durch die frühzeitige Überführung von ambulant behandelbaren Fällen in die vertragsärztliche Versorgung oder die richtige erweiterte Versorgungsebene sowie durch eine gute Kommunikation zwischen den verschiedenen Notfallsektoren kann ein wesentlicher Beitrag zur Entlastung der Rettungsleitstellen, des Rettungsdienstes sowie der Notaufnahmen in Krankenhäusern geleistet werden.

Entscheidende Voraussetzungen dafür sind strukturierte und standardisierte Notrufabfrage- und Dispositionsprozesses in allen Rettungsleitstellen, aufeinander abgestimmte Ersteinschätzungskriterien für die Zuordnung von Notfällen in allen drei Sektoren der Notfallversorgung sowie die (technische) Zusammenführung beziehungsweise Verknüpfung der beiden Notfallnummern 112 und 116 117. Die endgültige Entscheidung über das geeignete Rettungsmittel soll bei den Disponentinnen und Disponenten in den Rettungsleitstellen liegen.

Um ihre Steuerungsfunktion wahrnehmen zu können, müssen Rettungsleitstellen darüber hinaus technisch und personell in die Lage versetzt werden, das hohe Aufkommen zu bearbeiten. Der Zusammenschluss bestehender Rettungsleitstellen zu größeren Einheiten ist daher anzustreben. Perspektivisch sollen die niedersächsischen Rettungsleitstellen zu sogenannten Gesundheitsleitstellen mit unmittelbarem Zugriff auf den ärztlichen Bereitschaftsdienst sowie alle erweiterten Versorgungsmöglichkeiten weiterentwickelt werden. Das Konzept der Gesundheitsleitstelle versteht die Leitstelle als zentrale Anlaufstelle, in der sowohl die Anrufe der 112 als auch der 116117 angenommen, gefiltert und in die richtige Versorgungsebene gelenkt werden. Erforderlich sind dafür umfassende Änderungen der (bundes-) rechtlichen Rahmenbedingungen und insbesondere auch die Schaffung der rechtlichen Grundlagen für die Fachkräfte in den Leitstellen, damit diese die verbindliche und rechtssichere Weiterleitung eingehender Hilfeersuchen in die richtige Versorgungsebene – einschließlich des ärztlichen Bereitschaftsdienstes – vollziehen können.

Die beschriebenen Maßnahmen führen insgesamt zu kürzeren Bearbeitungszeiten der Notfälle und ermöglichen einen effizienteren Einsatz der ohnehin häufig knappen Personalressourcen in Rettungsleitstellen, im Rettungsdienst und in den Notaufnahmen. Durch standardisierte Verfahren wird zudem die höchste Rechtssicherheit für die Mitarbeitenden der Leitstellen erreicht, so dass auch die begründete Nicht-Mitnahme bei nicht-sachgerechter Inanspruchnahme des Rettungsdienstes ohne Konsequenzen für die Disponentinnen und Disponenten bleibt.  

Gleichermaßen muss diese Rechtssicherheit bei medizinisch begründeter Nicht-Mitnahme auch am Notfallort gewährleistet sein. Das Niedersächsische Rettungsdienstgesetz (NRettDG) regelt dies in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 für die Notfallrettung und in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 für den Notfalltransport. Eine gesetzliche Transportpflicht besteht demzufolge ausdrücklich nicht. Dennoch kann es in der Praxis zu haftungsrechtlichen Fragestellungen kommen, die eine rechtssichere Entscheidung durch den Rettungsdienst vor Ort erschweren. Die Landesregierung ist weiterhin angehalten, die Träger des Rettungsdienstes bei der Klärung dieser Fragestellungen zu unterstützen, beispielsweise im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern.

Bei Rettungsdiensteinsätzen, bei denen kein anschließender Krankentransport erfolgt, wird in Niedersachsen die sogenannte Versorgung vor Ort durch die Krankenversicherungen vergütet. Hintergrund ist eine landesspezifische Regelung im Rahmen der Entgeltvereinbarung zwischen den Kostentragenden und den Landkreisen und kreisfreien Städten. In einigen anderen Bundesländern ist dies nicht der Fall, so dass dort keine Übernahme der Fixkosten bei „Leerfahrten“ erfolgt. Eine bundesgesetzliche Regelung im SGB V ist daher anzustreben.

Wie die Rettungsleitstellen und der Rettungsdienst sind auch die Notaufnahmen an Krankenhäusern von zentraler Bedeutung für eine gut funktionierende Versorgung von Notfallpatientinnen und Notfallpatienten. Den Aufbau Integrierter Notfallzentren (INZ), in denen die Notfallversorgung in enger Zusammenarbeit zwischen der kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenhäusern erfolgt, gilt es an niedersächsischen Krankenhäusern voranzutreiben. Bei der Planung müssen sowohl die Reformprozesse auf Bundesebene als auch die besonderen Herausforderungen der Sicherstellung einer wohnortnahen Versorgung in einem Flächenland wie Niedersachsen berücksichtigt werden.

Die Wahrnehmung der Aufgaben in der Notfallversorgung und damit die Sicherstellungsaufträge obliegen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren auf verschiedenen Ebenen. Dazu zählen in Niedersachsen die kommunalen Träger des bodengebundenen Rettungsdienstes, die Krankenhäuser sowie die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN). Für eine Neuausrichtung der Notfallversorgung ist daher ein enger Austausch aller Verantwortlichen in einem gemeinsamen Gremium unter Beteiligung der zuständigen Landesministerien unabdingbar.

Neben allen Bemühungen auf Landesebene müssen maßgebliche Rahmenbedingungen für eine Notfallreform zwingend durch die Bundesgesetzgebung definiert werden. Die vierte Stellungnahme der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung adressiert die grundlegenden Probleme in der Notfallversorgung und ist geeignet, den Ausgangspunkt für einen umfassenden Reformprozess der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland zu bilden. Die Niedersächsische Landesregierung ist aufgefordert, diesen Reformprozess aktiv zu begleiten und sich für eine zeitnahe Umsetzung einzusetzen.


[1] Vgl. Drucksachen 18/8650 und 18/11410

Zurück zum Pressearchiv