Antrag: Für ein menschenwürdiges Leben - Strategien zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Niedersachsen

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Das Recht auf Wohnen ist ein grundlegendes Menschenrecht. Es bildet die Basis für ein menschenwürdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe. Dennoch betrifft Wohnungs- und Obdachlosigkeit nach wie vor zahlreiche Menschen und ist eng mit Armut und sozialer Ausgrenzung verbunden. Wohnungslose Menschen verfügen über keinen eigenen oder mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Eine besonders betroffene Teilgruppe sind obdachlose Menschen, die weder bei Freunden, Verwandten noch in Wohnungslosenhilfen unterkommen können und im öffentlichen Raum leben.

Zum Stichtag 31.01.2022 gab es rund 10.860 untergebrachte Wohnungslose in Niedersachsen, wobei die meisten in der Region Hannover untergebracht waren. Diese Zahl stieg bis Anfang 2024 auf etwa 33.000 Menschen an. Auch wenn zu berücksichtigen ist, dass diese Zahl einen erheblichen Anteil geflüchteter Menschen enthält, davon ca. 31% Menschen aus der Ukraine, ist doch die Zahl der wohnungslosen untergebrachten Menschen anhaltend hoch und zeigt die Auswirkungen eines angespannten Wohnungsmarktes.  Zum 31.12.2023 gab es 4.857 Hilfefälle in den Angeboten der Hilfen nach §§ 67 ff SGB XII. Weitere 13.592 Hilfefälle waren an das niedrigschwellig beratende Basisangebot angebunden. Insgesamt waren das 18.199 Personen. Davon lebten 13.898 Personen in der Nacht vor Hilfebeginn in prekären Wohnverhältnissen wie zum Beispiel rechtlich ungesicherter Unterkunft bei Bekannten oder Freunden, unzumutbaren Wohnverhältnissen oder auf der Straße.

Menschen ohne festen Wohnsitz sind in der Regel mit erheblichen, multiplen Herausforderungen konfrontiert. Viele kämpfen mit sozialer Ausgrenzung, Stigmatisierung und psychischen Erkrankungen wie Depressionen. Der Zugang zu Wohnraum wird durch hohe Nachfrage, Diskriminierung und strukturelle Barrieren erschwert. In Zeiten von Krisen, wie wir sie derzeit erleben, leiden obdachlose Menschen besonders stark unter Folgen wie Preissteigerungen. Diese Menschen brauchen häufig gezielte Unterstützung, um ihre schwierige Lebenslage zu überwinden und langfristig stabile Wohnverhältnisse zu erreichen.

Der im März 2024 veröffentlichte Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit (NAP) setzt ein wichtiges Signal für die nachhaltige und umfassende Bekämpfung dieser Probleme. Er unterstreicht die Bedeutung eines strukturierten Ansatzes, um das Ziel zu erreichen, Wohnungs- und Obdachlosigkeit langfristig zu überwinden. Die Maßnahmen des NAP bieten Orientierung und Anknüpfungspunkte für die Entwicklung entsprechender Landesprogramme.

Um Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu bekämpfen, unternimmt das Land Niedersachsen bereits eine Vielzahl von Maßnahmen. In enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren auf Landes- und kommunaler Ebene wird daran gearbeitet, die Betroffenen zu unterstützen. Ein grundlegender Baustein zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit ist die Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Ein Element ist dabei die Gründung der Landeswohnungsgesellschaft (WohnRaum Niedersachsen GmbH), die darauf abzielt, mehr Mietwohnraum in Niedersachsen zu schaffen. Die Bereitstellung von zusätzlichem Wohnraum ist eine zentrale Voraussetzung, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit effektiv zu bekämpfen.

Mit dem seit 01.01.2022 geltenden Landesrahmenvertrag zur Ausgestaltung der Hilfen für Menschen in sozialen Schwierigkeiten übernimmt das Land in bundesweit besonderer Weise gemeinsam mit den Kommunen und Leistungserbringern soziale Verantwortung und trägt seitdem auch zu 90% die Kosten der Hilfen. Ein langjährig etabliertes landesweites Netz an Hilfsstrukturen und Beratungsstellen wird derzeit gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren des Hilfefeldes in einem kooperativen und partizipativen Prozess weiterentwickelt und an aktuelle Bedarfslagen angepasst. Dabei werden bereits Elemente des Housing-First-Ansatzes in dem Weiterentwicklungsprozess bei der Ausgestaltung der Leistungsangebote mitgedacht und sind an vielen Stellen als Teil der Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII bereits jetzt verwirklicht.

Weitere Modellprojekte, beispielsweise im Bereich der Digitalisierung adressieren die spezifischen Bedarfe der Betroffenen. Ein Rahmenkonzept zur sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung bietet den Akteuren im Hilfefeld Handlungssicherheit in der Begleitung von LGBTIQ* und stellt dadurch die Berücksichtigung der besonderen Belange dieser Zielgruppe im Hilfefeld sicher. Trotz dieser umfangreichen Bemühungen bleibt Wohnungs- und Obdachlosigkeit eine Herausforderung, die ständige Aufmerksamkeit erfordert.

Vor diesem Hintergrund bittet der Landtag die Landesregierung zur Prävention und Bekämpfung von Obdach- und Wohnungslosigkeit alle laufenden Aktivitäten in einem Landesprogramm zusammenzuführen und darüber hinaus folgenden Maßnahmen zu ergänzen:

  1. Alle Housing-First-Prinzipien im bestehenden System sichtbar zu verankern, insbesondere durch Verstärkung niedrigschwellig zugehender Angebote und Ausrichtung der Haltung der Akteure im System auf das umfassende Wunsch- und Wahlrecht des hilfesuchenden Menschen hinsichtlich Art und Umfang personenzentrierter Angebote (“Der Mensch im Mittelpunkt“). Dabei ist besonders darauf zu achten, dass individuelle und passgenaue Leistungsangebote mehrsprachig und auch diversitätssensibel unterbreitet werden. Informationsmaterialien sollen leicht verständlich zur Verfügung gestellt werden.
  2. Die Entwicklung eines neuen Grundangebots von Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII zu unterstützen, das niedrigschwellige, proaktiv angebotene, wahlfreie und (zunächst) antragsunabhängige Beratung und Unterstützung zur Abwendung drohender Wohnungs-/Obdachlosigkeit als auch zu deren Überwindung vorsieht.
  3. Ein Modellprojekt zur Sozialen Wohnraumakquise mit Fokus auf die Gewinnung von Wohnraum privater Anbieter und Wohnungsgesellschaften nach §§ 67 ff. SGB XII an je einem ländlichen, städtischen, großstädtischen und sozialsystembezogenen Standort (z.B. an stationärer Hilfe) zu initiieren. Ziel ist es, zu untersuchen und zu evaluieren, welche Strategien zu einer Erhöhung der Vermietungsbereitschaft an wohnungslose Menschen führen können, z. B. gezielte Ansprache sozial engagierter Vermietender, Angebote der zugehenden sozialarbeiterischen Begleitung auch in einzelnen Konfliktsituationen. Auch wäre zu untersuchen, welche Art der Ansprache und ggf. ergänzender Unterstützung Vermietende benötigen, um sich auf eine Überlassung von Wohnraum an wohnungslose Menschen einzulassen.
  4. Darauf hinzuwirken, dass die personellen Kapazitäten in niedersächsischen Tagesaufenthalten erhöht werden, um den Bedürfnissen der Menschen in diesen ersten Anlaufstellen gerecht zu werden, die besonders belastet sind und eine individuelle Ansprache benötigen.
  5. Den Aufbau von Clearingstellen zur Überleitung von Menschen mit einem sozialrechtlichen Anspruch in das Regelsystem der Gesundheitsversorgung aktiv zu begleiten.
  6. Forschungsvorhaben niedersächsischer Hochschulen für angewandte Pflegewissenschaft zur Erhebung von Daten bezüglich gesundheitlicher und pflegerischer Bedarfe von Wohnungslosen in ausgewählten niedersächsischen Regionen zu unterstützen. Bedarfserhebungen sollen verlässliche Daten als fundierte Grundlage für Maßnahmen zur Unterstützung wohnungs-/obdachloser Menschen liefern und können perspektivisch als Grundlage für eine weitergehende systematische landesspezifische Datenerhebung dienen.
  7. Die derzeit auf Bundesebene stattfindenden Aktivitäten zur Erarbeitung bundesweiter Leitlinien für Mindeststandards für die ordnungsrechtliche Unterbringung von obdachlosen Menschen zu unterstützen und, sobald hier Ergebnisse vorliegen, eine Übertragung auf Niedersachsen zu prüfen.             

Begründung

Die beschriebenen Maßnahmen haben das Ziel, die aktuelle Strategie zur Bekämpfung der Wohnungs-/Obdachlosigkeit nach §§ 67 ff. SGB XII weiter zu verbessern und an aktuelle Herausforderungen anzupassen, um so die bereits vorhandenen und gut eingeführten Strukturen des niedersächsischen Sozialhilfesystems bedarfsgerecht weiterzuentwickeln.

Um adäquate Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsversorgung wohnungsloser und obdachloser Personen treffen zu können, bedarf es zunächst einer Erhebung des pflegerischen und gesundheitlichen Bedarfs, um perspektivisch eine Datengrundlage schaffen zu können, anhand derer Ausmaß und Art adäquater Hilfen ermittelt werden können. Die Basis dafür bildet die geforderte gesetzliche Verpflichtung zur Erhebung dieser Daten. Eine fachlich renommierte Hochschule für angewandte Pflegewissenschaft soll mit der Erhebung beauftragt werden, um repräsentative Ergebnisse zu erzielen.

Um Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, führt kein Weg an der Schaffung von mehr Wohnraum vorbei, aber auch zur Erschließung vorhandenen Wohnraums für wohnungslose Menschen bedarf es in einem angespannten Wohnungsmarkt besonderer Strategien. Diese Strategien stellen eine Ergänzung zum Wohnungsneubau dar. Ein Modellprojekt zur Sozialen Wohnraumakquise soll private Anbieter und Wohnungsgesellschaften für das Projekt gewinnen und untersuchen, inwiefern Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII als Sicherheiten für Vermietende und Mietende angeboten werden können. Ziel ist es, wohnungs-/obdachlosen Menschen Wohnraum mit einem regulären Mietverhältnis bereitzustellen, der ihnen Sicherheit gibt und zur Basis weiterer Verbesserungen ihrer sozialen Lage werden kann.

Proaktive und niedrigschwellige Unterstützung/Beratung soll sicherstellen, dass Wohnungs-/Obdachlose besser erreicht und nachhaltig unterstützt werden können. Diese sozialpädagogischen Grundangebote sollen als Ergänzung zu den bestehenden Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII dienen, um die Selbstbestimmtheit der Menschen zu fördern.

Tagesaufenthalte sind ein erster Anlaufpunkt für Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Sie bieten eine Infrastruktur für eine Befriedigung essentieller Bedürfnisse wie Körperhygiene und Wäschewaschen, das Zubereiten von Mahlzeiten, aber auch für die Hinterlegung einer Postadresse, falls die Menschen keine eigene Adresse mehr haben. Darüber hinaus bieten Tagesaufenthalte niedrigschwellige sozialarbeiterische Beratung an, die in eine umfassende Begleitung bei der Überwindung von Schwierigkeiten dienen kann. Diese werden zunehmend von Menschen frequentiert, die eine überdurchschnittliche Komplexität ihrer Beratungsbedarfe mitbringen. Die Unterstützung dieser Klientinnen und Klienten ist anspruchsvoll und erfordert kontinuierliche, aufmerksame Unterstützung durch qualifiziertes Personal, um deren spezifische Bedürfnisse und Herausforderungen adäquat zu adressieren. Die vorhandenen personellen Ressourcen reichen hierfür nicht mehr aus.

Der Landtag greift mit den vorstehenden Forderungen den in der Sozialhilfe nach §§ 67 ff. SGB XII noch erkennbaren Handlungsbedarf auf. Durch die Umsetzung der genannten Forderungen kann das Problem der Wohnungs-/Obdachlosigkeit nachhaltig minimiert und das Menschenrecht auf Wohnen für alle gewährleistet werden.

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