Antrag: Doppelhaushalt 2022/23: Frauen und Kinder besser vor Gewalt schützen – Aktionsprogramm zur Umsetzung der Istanbul-Konvention auflegen

Entschließung

Im Februar 2018 ist die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft getreten. Ziel der Konvention ist es, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen. Sie verlangt von den Vertragsstaaten eine ganzheitliche Gewaltschutzstrategie, die neben dem Schutz von Frauen vor Gewalt bspw. auch die gesellschaftliche Bewusstseinsbildung und die Beseitigung von Diskriminierung beinhaltet.

In Bezug auf Schutzeinrichtungen empfiehlt die Istanbul-Konvention u.a. einen Familienplatz pro 10.000 Einwohner*innen. In Niedersachsen wären demnach etwa 800 Familienplätze erforderlich. Aktuell stehen 394 Plätze zur Verfügung.

Bereits vor der Corona-Pandemie mussten die niedersächsischen Frauenhäuser vor Ort immer wieder Frauen, die von Gewalt bedroht waren, abweisen, weil sie vollständig belegt waren. Hinzu kommt eine knappe Personalausstattung, die regelmäßig zu Defiziten bei der psychosozialen Betreuung der Frauen und ihrer Kinder führt. Auch die spezialisierten Fachberatungsstellen können dem seit Jahren steigenden Beratungsaufkommen kaum noch gerecht werden. Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik hat die Corona-Pandemie zu einer Zunahme häuslicher Gewalt geführt. Gleichzeitig ist der Zugang zum Hilfesystem seit Beginn der Pandemie deutlich erschwert und durch Hygienevorgaben können bspw. nicht alle Plätze in Schutzeinrichtungen belegt werden.

Frauenhäuser und spezialisierte Fachberatungsstellen werden über die Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Maßnahmen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind, gefördert. Die Richtlinie läuft Ende des Jahres 2021 aus.

Der Haushaltsplanentwurf der Landesregierung für 2022 und 2023 sieht trotz der benannten Defizite de facto sogar eine indirekte Kürzung der Mittel für den Gewaltschutz vor. Zwar wird die Finanzierung von 9,2 Millionen Euro um 230.000 Euro erhöht. Diese leichte Erhöhung kann jedoch die gestiegenen Fix- und Personalkosten sowie die Mehrbedarfe durch die in den letzten Jahren zusätzlich entstandenen Frauenhausplätze nicht auffangen. Die Voraussetzungen der Istanbul-Konvention kann Niedersachsen damit nicht erfüllen.

Der Landtag begrüßt:

Der Landtag stellt fest:

  • Die Umsetzung der Istanbul-Konvention mit ihrem ganzheitlichen Ansatz zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt erfordert eine Gesamtstrategie. Diese fehlt in Niedersachsen bisher.
  • Der Bedarf an Schutz, Beratung, Unterstützung und Präventionsarbeit kann durch das unzureichend ausgestattete Hilfenetzwerk derzeit nicht ausreichend aufgefangen werden.
  • Die personelle Ausstattung von Frauenhäusern und spezialisierten Fachberatungsstellen ermöglicht keine bedarfsgerechte Betreuung von Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind. Die Betreuung von mitbetroffenen Kindern in Frauenhäusern wird gar nicht berücksichtigt.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

1.      kurzfristig die neue Förderrichtlinie zu nutzen, um den Gewaltschutz für Frauen in Niedersachsen zu verbessern und dafür mindestens den Betreuungsschlüssel in Schutzeinrichtungen von 1:8 zu erhöhen sowie die psychosoziale Begleitung und Betreuung von mitbetroffenen Kinder entsprechend zu berücksichtigen und finanziell zu hinterlegen,

2.      anzuerkennen, dass die Verweildauer gewaltbetroffener Frauen und ihrer Kinder in Schutzeinrichtungen stark einzelfallabhängig ist, mit vielen externen Faktoren zusammenhängt und ein kürzerer Aufenthalt oft dem Ziel eines Lösens aus Gewaltstrukturen oder dem Erreichen einer gewaltfreien Partnerschaft nicht zuträglich ist. Ein sicherer, möglichst druckfreier Zufluchtsort zu sein, gehört zum Auftrag einer Schutzeinrichtung. Daher ist in der Richtlinie auf eine Regelung zur zeitlichen Aufenthaltsdauer für gewaltbetroffene Frauen in Frauenhäusern zu verzichten,

3.      die Beratung von Angehörigen und Fachkräften bspw. in Schulen durch die spezialisierten Fachberatungsstellen als relevanten Teil der Hilfestruktur anzuerkennen und entsprechend auch finanziell in der neuen Förderrichtlinie stärker zu berücksichtigen,

4.      die Förderung der Koordinierungsstelle der niedersächsischen Frauen- und Mädchenberatungsstellen gegen Gewalt als wichtigen Baustein zur Umsetzung der Istanbul-Konvention über die Projektlaufzeit von 3 Jahren hinaus zu verstetigen,

5.      in Zusammenarbeit mit den relevanten Akteur*innen eine Strategie zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Niedersachsen zu erarbeiten, die folgende Schwerpunkte beinhaltet:

a.      Ausbau der Plätze in Schutzeinrichtungen den Vorgaben der Istanbul-Konvention entsprechend und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Personalausstattung

b.      Berücksichtigung der Bedarfe von mitbetroffenen Kindern und Jugendlichen

c.      Flächendeckender Ausbau spezialisierter Fachberatungsstellen bei geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt

d.      Schließung der Versorgungslücken bezüglich psychisch kranker und suchtkranker, gewaltbetroffener Frauen und Frauen mit über 14jährigen Söhnen sowie Erreichung eines barrierefreien Zugangs zur Hilfe- und Schutzstruktur auch für Migrantinnen und Frauen mit Beeinträchtigungen 

e.      Erhöhung der Mittel für eine angemessene Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit

f.       Ausbau der Täterarbeit zur Durchbrechung von Gewaltspiralen

g.      Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit in Form von gendersensibler Erziehung in Kitas und Schulen, um Gewalt und engen Geschlechterrollen vorzubeugen

6.      eine Koordinierungsstelle an geeigneter Stelle in der Landesverwaltung einzurichten, die die Umsetzung der Istanbul-Konvention verantwortet und die Zusammenarbeit der beteiligten Ressorts steuert, und diese mit entsprechenden Kompetenzen und Befugnissen auszustatten,

7.      ein inter- und transdisziplinäres Gremium unter Einbindung der Fachverbände einzurichten, das die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Niedersachsen begleitet, berät und überwacht,

8.      sich auf Bundesebene für einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Schutzeinrichtung unabhängig von Einkommenssituation, Aufenthaltsstatus, gesundheitlicher Verfassung und Alter der Kinder einzusetzen, der gleichzeitig eine verlässliche Finanzierung der Frauenhäuser durch Bund, Land und Kommunen sowie allgemeine Mindeststandards regelt.

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