Antrag: Diskriminierung und Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfami-lien im Bildungssystem abschaffen – Alle Talente fördern und Chancen endlich nutzen!

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien werden durch das niedersächsische Bildungssystem noch immer massiv benachteiligt. Stammen diese Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien, verschlechtern sich ihre Bildungschancen. Gleichzeitig werden die mitgebrachten Fähigkeiten kaum geachtet und gefördert. Damit werden erhebliche Potenziale ungenutzt gelassen, Chancen für eine wirksame Integration der Kinder aus Einwandererfamilien vertan und der zunehmende Fachkräftemangel verstärkt. Deshalb müssen in unserem Bildungssystem die Voraussetzungen für eine chancengerechte Förderung und Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen geschaffen werden.

1. Kinder und Jugendliche vor allem aus sozial benachteiligten Zuwandererfamilien haben im niedersächsischen Bildungssystem schlechtere Chancen:

  • Durch die frühe Trennung in das gegliederte Schulsystem sind vor allem Kinder aus Zuwandererfamilien mit einer anderen Erstsprache massiv benachteiligt. Sie haben in der vierjährigen Grundschulzeit kaum die Möglichkeit, ihre ungünstigeren Eingangsvoraussetzungen gegenüber Kindern mit Deutsch als Erstsprache aufzuholen.
  • Eine unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache beeinträchtigt den Lernerfolg in nahezu allen Fächern. Statt der notwendigen durchgehenden Sprachförderung von Anfang an bis in die weiterführenden Schulen hinein hat die Landesregierung lediglich eine nicht ausreichende Sprachförderung vor der Einschulung für einige Kinder eingeführt. Zugleich wurde der muttersprachliche Unterricht gekürzt.
  • Die Förderung von Migrantinnen und Migranten in Bildungsberufen hat bisher nicht stattgefunden, obwohl diese eine Vorbildfunktion haben, die Lebenssituation zahlreicher Kinder besser nachvollziehen und deshalb die Talente vieler Kinder besser individuell fördern können.
  • Die im internationalen Vergleich starke Abhängigkeit unseres Bildungssystems vom Familienstatus beeinträchtigt zusätzlich den Bildungserfolg von Kindern aus Zuwandererfamilien, die häufig, auch wegen der Integrationshemmnisse, aus bildungsfernen und sozio-ökonomisch schlechter gestellten Elternhäusern kommen. Die mit der fehlenden Bildungserfahrung ihrer Eltern einhergehenden Defizite an der Beteiligung am schulischen Geschehen werden nur unzureichend kompensiert.

2. Die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien in Niedersachsen ist vor allem gekennzeichnet durch:

  • deutlich unterdurchschnittliche Bildungsbeteiligung:
    Während rund 40% der Jugendlichen eines Jahrgangs das Gymnasium besuchen, liegt der Anteil bei den Jugendlichen mit nicht deutscher Herkunftssprache lediglich bei 19,2 %. Demgegenüber sind sie an den Hauptschulen deutlich überrepräsentiert: 24,5% der Kinder aus Einwandererfamilien besuchen diese Schulform bei einem landesweiten durchschnittlichen Anteil von 13,5%,
  • einen hohen Anteil, der die allgemein bildende Schule ohne jeglichen Abschluss verlässt: Mit 18,9% eines Jahrgangs übersteigt der Anteil der Jugendlichen mit nicht-deutscher Erstsprache ohne Abschluss den Durchschnitt um etwas das 2,5-fache.
  • erheblich geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz aufgrund fehlender oder niedriger Bildungsabschlüsse. Vor allem männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund sind Verlierer auf dem Lehrstellenmarkt und besuchen vielfach perspektivlose Warteschleifen und Übergangssysteme. Hinzu kommt, dass bei gleicher Qualifikation diese Jugendlichen aufgrund ihrer Herkunft am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt diskriminiert werden.

3. Als Folge der mangelhaften Förderung junger Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Bildungssystem bleiben Ressourcen ungenutzt und werden soziale und volkswirtschaftliche Probleme geschaffen:

  • Vor allem aufgrund der eklatanten Bildungsbenachteiligung eines Teils der Kinder und Jugendlichen aus Einwandererfamilien und der neu Zugewanderten wird die Integration erschwert.
  • Bei einem wachsenden Anteil der bei uns lebenden jungen Menschen mit Migrationshintergrund bleiben Potenziale in erheblichem Umfang ungenutzt. Der sich abzeichnende Fachkräftemangel, die steigenden Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes und die künftigen Anforderungen an die sozialen Sicherungssysteme machen es jedoch erforderlich, alle optimal auszubilden.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

Alle Talente fördern, kein Kind aussortieren!

  • Das gerade für Zuwandererkinder besonders selektive gegliederte Schulsystem wird zugunsten einer längeren gemeinsamen Beschulung in echte Ganztagsschulen umgewandelt.
  • In einem ersten Schritt werden die besonders für Kinder aus Einwandererfamilien selektiv wirkenden und hinsichtlich ihres tatsächlichen Wertes zur Abschätzung des potenziellen Schulerfolgs ohnehin zweifelhaften Schullaufbahnempfehlungen am Ende der Grundschulzeit zugunsten einer individuellen Lernbegleitung und -beratung unverzüglich abgeschafft.

Sprachbarrieren überwinden!

  • Ein ganzheitliches Sprachförderkonzept in Kindergärten und Kindertagesstätten wird etabliert, mit dem die Sprachförderung im täglichen Ablauf der Einrichtungen verankert wird. Dazu bedarf es u.a. systematischer Fortbildungsangebote für Erzieherinnen und Erzieher. Das Land setzt sich intensiv dafür ein, dass die Besuchsquote der Zuwandererkinder in den Kindertagesstätten deutlich gesteigert wird.
  • Die Sprachförderung wird nicht auf Kindergarten, Vorschule oder Förderkurse in Grundschulen beschränkt, sondern es werden in den ersten 8 Schuljahren in allen Schulformen Sprachförderangebote eingeführt.
  • Die Eltern von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund sollen durch niedrigschwellige Angebote gezielt in die Lage versetzt werden, ihre Kinder besser unterstützen zu können und an das System Schule herangeführt werden.
    Dazu gehören unter anderem Sprachkurse für Eltern und der Einsatz engagierter Eltern mit Migrationshintergrund als Lotsen für andere Eltern ihres jeweiligen Sprach- und Kulturraums.

Interkulturelle Kompetenz stärken!

  • Deutsch als Zweitsprache und interkulturelle Bildung werden als verpflichtende Module der Lehrerausbildung festgeschrieben und entsprechende Erweiterungsstudiengänge sowie regionale Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer geschaffen.
  • Eine Kampagne wird gestartet, mit der Jugendliche und Studierende mit Migrationshintergrund gezielt über die Möglichkeiten und Aussichten in den Berufen Erzieherin/ Erzieher, Sozialpädagogin/ Sozialpädagoge und Lehrerin/ Lehrer informiert werden und es wird ein Stipendienprogramm für Quereinsteigerinnen und –einsteiger mit Migrationshintergrund in pädagogische Berufe aufgelegt.
  • Zuwanderinnen und Zuwanderern durch eine unbürokratische und erleichterte Anerkennungspraxis von im Ausland erworbenen Qualifikationen den Zugang zu Erziehungs- und Bildungsberufen in Niedersachsen zu eröffnen und Ausbildungswege zu verkürzen.
  • Absolventinnen und Absolventen eines Lehramts- oder Sozialpädagogikstudiums mit Migrationshintergrund werden gezielt in Schulen und anderen staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eingestellt.

Potenziale erkennen, nutzen und ausbauen!

  • Der muttersprachliche Unterricht wird an den Schulen bedarfsorientiert wieder aufgebaut und dabei nicht auf die Grundschule beschränkt.
  • Das Fremdsprachenangebot wird erweitert und die Mehrsprachigkeit gezielt und flächendeckend gefördert. Das Angebot von Herkunftssprachen als weiterer Fremdsprache wird bedarfsgerecht ausgebaut.
  • Austauschprogramme und Patenschaften mit Schulen vor allem aus den Herkunftsländern der Einwanderer und Einwanderinnen werden entwickelt und unterstützt.

 

Begründung:

Das niedersächsische Bildungssystem wird den Veränderungen unserer durch zunehmende Internationalisierung, Pluralisierung und Wanderungsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts gekennzeichneten Gesellschaft nicht annähernd gerecht. In niedersächsischen Klassenzimmern ist eine mehrsprachige und multikulturelle Schülerschaft längst Realität.

Nicht zuletzt Vernon Munoz, der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Bildung hat in seinem im  Frühjahr 2008 vorgestellten Bericht über das deutsche Schulsystem eine erhebliche strukturelle Benachteiligung vor allem von Schülerinnen und Schülern aus Einwandererfamilien festgestellt und darauf hingewiesen, dass es sich dabei keineswegs um ein ethnisches, sondern vor allem um ein soziales Problem handelt. Munoz sieht darin einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf Bildung. Im niedersächsischen Schulsystem der frühen Trennung nach Klasse 4 haben vor allem Kinder aus Einwandererfamilien kaum eine Chance, ihre vor allem sprachlich bedingten ungünstigeren Eingangsvoraussetzungen gegenüber Gleichaltrigen aufzuholen. Ohne eine Aufhebung des gegliederten Schulsystems zugunsten längerer gemeinsamer Beschulung kann bessere Integration durch Bildung nicht gelingen.

Wir brauchen deshalb ein neues Leitbild unseres niedersächsischen Bildungssystems, das Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Chance wahrnimmt und Teilhabegerechtigkeit und Chancengleichheit aller bei uns lebenden Menschen endlich realisiert.

Sprache ist die zentrale Voraussetzung für die soziale Integration der bei uns lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Die sprachliche Integration umfasst zwei komplementäre Teilprozesse: Die sichere Beherrschung des Deutschen als Verkehrssprache seitens der Zuwanderinnen und Zuwanderer in Wort und Schrift und darüber hinaus die Akzeptanz und Wertschätzung der Herkunftssprachen der zu uns eingewanderten Menschen. Sprachförderung kann nicht erst nachgeholt werden, wenn Defizite erkannt wurden, sondern muss von Beginn an integraler Bestandteil unseres Bildungssystems werden. Mit einer Beschränkung der Sprachförderung auf Kindergärten, Kindertagesstätten oder Förderkurse in der Grundschule wird der Tatsache zu wenig Rechnung getragen, dass für die Erlangung vollständiger Sprachkompetenz bis zu acht Jahre erweiterte Sprachförderung erforderlich sind. Damit Lehrerinnen und Lehrer diese Aufgabe leisten können, brauchen sie eine systematische Qualifizierung, um "Deutsch als Zweitsprache" unterrichten zu können. Um die Sprachkompetenzen der Zuwanderer nutzen zu können, Mehrsprachigkeit zu fördern und die Akzeptanz der Herkunftssprachen zu erhöhen, muss der herkunftssprachliche Unterricht an Schulen ausgebaut und das Fremdsprachenangebot an den Schulen erweitert werden.

Das Beispiel Englands, Schwedens und Kanadas zeigt, wie wichtig Pädagoginnen und Pädagogen mit Migrationshintergrund in Kindergärten und Schulen in einer Einwanderungsgesellschaft zur Förderung der Integration von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien in unserer Gesellschaft sind: Sie sind überzeugende Vorbilder für den Lernerfolg, können als Expertinnen und Experten für den kulturellen und sprachlichen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler bei Konflikten wertvolle Unterstützung leisten und schließlich einen Beitrag für die Förderung der von den Zuwanderern mitgebrachten Fähigkeiten und Potenziale leisten. Die eklatante Unterrepräsentanz von Erzieherinnen/ Erziehern, Sozialpädagoginnen/ Sozialpädagogen und Lehrkräften an allen staatlichen Bildungseinrichtungen in Niedersachsen muss durch eine gezielte Werbekampagne bei Migrantinnen und Migranten für diese Berufe und gezielte Einstellung der Absolventinnen und Absolventen entsprechender Ausbildungen und Studiengänge möglichst schnell beendet werden.

Gerade sozial benachteiligte Eltern aus Einwandererfamilien sind nicht in der Lage, ihre Kinder etwa bei den Hausaufgaben oder der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts zu unterstützen. Ihrer Teilnahme an Elternabenden oder Elternsprechstunden steht zumindest subjektiv häufig die Barriere mangelnder Kenntnis der deutschen Sprache entgegen. Da unser überwiegend nach wie vor auf Halbtagsunterricht ausgerichtetes Schulsystem zur optimalen Förderung der Kinder erhebliche familiäre Ressourcen voraussetzt, muss chancengerechte Bildungspolitik auch bei den Eltern ansetzen: Dazu gehören Sprachkurse für Eltern ebenso wie der Einsatz von Eltern mit Migrationshintergrund als Lotsen für andere Eltern ihres jeweiligen Sprach- und Kulturraums.

Fraktionsvorsitzender

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