Antrag: Der demografische Wandel erfordert eine andere Politik: Zukunft der Pflege in Niedersachsen ? Perspektiven für 2030

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Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Hannover, den 12.04.2005

Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung
Der Landtag stellt fest:

Der soziale und demografische Wandel der Gesellschaft wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu einem massiven Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen und damit verbunden auch zu einem Anstieg der Inanspruchnahme professioneller Pflegemöglichkeiten führen. Um auch in Zukunft eine menschenwürdige, bedarfsgerechte und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Pflege in Niedersachsen vorhalten zu können, ist das Land aufgefordert, bereits jetzt entsprechend zu handeln. Ziel muss es sein, einem modernen Pflegeverständnis entsprechend den Hilfebedürftigen ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben in möglichst autonomer Lebensgestaltung zu ermöglichen.

Der Landtag fordert die Umsetzung eines Handlungskonzepts "Zukunft der Pflege in Niedersachsen – Perspektiven für 2030". Dieses Handlungskonzept soll folgende Aspekte umfassen:

I. Sicherung des Vorrangs häuslicher Versorgung

1. Unterstützung pflegender Angehöriger und Unterstützung des Verbleibens in der eigenen Wohnung
”¢ Ausbau und Verbesserung der Erreichbarkeit bestehender Unterstützungsangebote (Wohnraumberatung und Wohnraumanpassung, Förderung von Hausbetreuungsdiensten und Hausnotrufnetzwerken),
”¢ Erhalt der Niedersächsischen Fachstelle für Wohnberatung
”¢ Maßnahmen zur sozialen und emotionalen Unterstützung pflegender Angehöriger, Maßnahmen der Beratung, Anleitung und Kompetenzförderung pflegender Angehöriger
Ӣ Ausbau des Angebots an Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege

2. Einrichtung von trägerunabhängigen Pflegeberatungsstellen für pflegende Angehörige und Pflegebedürftige
Im Zusammenwirken von Kommunen, Pflegekassen und den anderen an der pflegerischen Versorgung Beteiligten soll die Beratung, Information und Koordination für die Nutzergruppen optimiert werden. Dabei soll den Bedarfen der Migrantinnen und Migranten Rechnung getragen werden.

3. Vernetzung und Integration an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen, auch komplementären, Leistungsbereichen in Kommunen und Kreisen. Hierzu sind die örtlichen Pflegekonferenzen zu stärken und verbindlich zu machen.

II. Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in der pflegerischen Versorgung
1. Schaffung von Qualifizierungs- und Angebotsstrukturen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements im Bereich der unterstützenden und pflegebegleitenden Hilfen
2. Durchführung von Modellprojekten auf kommunaler Ebene, die auf die Gewinnung und Einbindung freiwilliger Helferinnen und Helfer zielen
3. Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in der Seniorenbildung
4. Ausweitung der Möglichkeit des freiwilligen sozialen Jahrs auf Seniorinnen und Senioren

III. Anstoß zur Förderung von Prävention und Rehabilitation
1. Ausbau der geriatrischen Krankenhausversorgung
2. Ausbau der ambulanten geriatrischen Rehabilitation
3. Verbesserung der geriatrischen Qualifikation in der ärztlichen Ausbildung und Praxis
4. Initiierung eines Modellprojekts "präventiver geriatrischer Hausbesuch"
5. Beseitigung ökonomischer Fehlanreize, die den Grundsatz des Vorrangs der Rehabilitation vor Pflege behindern, indem die Pflegeversicherung als leistungspflichtiger Rehabilitationsträger qualifiziert wird.

IV. Sicherung einer angemessenen Pflege und Betreuung für Personengruppen mit besonderen Bedarfen
1. Sensibilisierung der Träger, Einrichtungen und Pflegekräfte für kulturspezifische Anforderungen der älter werdenden Migrantinnen und Migranten
2. Entwicklung eines Curriculums zur staatlich anerkannten Weiterbildung von Pflegefachkräften für gerontopsychiatrische Pflege
3. Ausbau der ambulanten Pflege für besondere Bedarfskonstellationen, z.B. schwer Kranke mit technikintensivem Pflegebedarf, Sterbende, MigrantInnen
4. Ausbau von demenzspezifischen Beratungs- Pflege- und Betreuungsangeboten

V. Sicherung einer bedarfsgerechten Pflegeausbildung
1. Bereitstellung einer bedarfsgerechten Anzahl von Ausbildungsplätzen
2. Öffentlichkeitsarbeit und Werbung für Pflegeberufe, insbesondere auch bei jungen Männern
3. Sicherung einer Ausbildung, die sich an die sich stetig verändernden Anforderungen in den Einrichtungen anpasst, beispielsweise an den steigenden Anteil von dementen und mehrfach erkrankten Menschen.
4. Sicherung der bisherigen Umschulungsausbildungsgänge und Umschulungsausbildungsquoten im Bereich der Altenpflege sowie der anderen gesundheitsnahen Ausbildungsberufe


Begründung
Gemäß der 10. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird die Bevölkerungszahl Niedersachsens bis zum Jahre 2050 deutlich niedriger sein als heute. Gleichzeitig verändert sich die Altersstruktur der Bevölkerung: In Zukunft werden immer mehr hochbetagte Pflegebedürftige immer weniger jungen Menschen gegenüber stehen. Der Anteil älterer Menschen ab 60 an der Gesamtbevölkerung wird von 25% auf 33% wachsen. Insbesondere ist die Anzahl der Hochbetagten von großem Interesse: Während heute jede/r 23. EinwohnerIn Niedersachsens 80 Jahre oder älter ist, wird im Jahre 2020 fast jeder 15. und im Jahre 2050 annähernd jede/r 9. Niedersachse/in zu den Hochbetagten zählen. Die Niedersächsische Pflegestatistik zeigt, dass Pflegebedürftigkeit in hohem Maße mit dem Alter korreliert. Daneben gibt es eine Reihe von sozialstrukturellen Entwicklungen, die Einfluss auf die Pflegefähigkeit und -bereitschaft familiarer Pflegepersonen nehmen: ein sinkendes Pflegepotenzial zur Pflege durch eigene Kinder und deren Lebenspartner, steigende Erwerbsquoten bei Frauen, eine veränderte Haushaltsstrukturentwicklung sowie kulturelle Veränderungen, die zu einer abnehmenden Pflegebereitschaft führen. Diese Entwicklungen erfordern eine langfristig angelegte Steuerung, um die Voraussetzungen für eine menschenwürdige Pflege auch in Zukunft zu sichern.

Die zukünftigen Herausforderungen werden noch entschieden zu wenig diskutiert, konkrete Probleme oft vertagt. Niedersachsen ist auf eine wachsende Zahl älterer und pflegebedürftiger Menschen nicht vorbereitet. Vielen der in der Pflege typischen und in Zukunft an Bedeutung gewinnenden Bedarfkonstellationen kann auf der Basis der bestehenden konzeptionellen, strukturellen und institutionellen Bedingungen nicht ausreichend entsprochen werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Versorgung und Pflege chronisch Kranker, hochaltriger und demenziell erkrankter Menschen, älterer Menschen mit Behinderungen, allein Lebender sowie Migrantinnen und Migranten. Die angesprochenen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur werden regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Auf diese Entwicklung haben sich alle relevanten Akteure und betroffene gesellschaftliche Gruppen einzustellen, wobei insbesondere das Land und die Kommunen aufgefordert sind, die künftigen Herausforderungen ernst zu nehmen und sich darauf einzurichten.
Die von der damaligen Bundesregierung beschlossene Pflegeversicherung (SGB XI) hat eine Finanzreserve über das Beitragsaufkommen aufgebaut, die sich angesichts der demografischen Entwicklung schneller als geplant aufbraucht. Diese Entwicklung wie auch neue inhaltliche Anforderungen wie z.B. die Notwendigkeit verbesserter Pflegeleistungen für an Demenz Erkrankte und die Stärkung der ambulanten erbrachten Pflegeleistungen erfordern eine grundsätzliche Reform des SGB XI.
Ziel einer vorausschauenden Politik in diesem Bereich muss es sein, die Folgen der demografischen und sozialen Veränderungen durch entsprechende Weichenstellungen zu lenken und Rahmenbedingungen für eine zukünftige bedarfsgerechte Pflegeinfrastruktur zu schaffen. Dabei bleibt es zentrales Ziel eines modernen Pflegeverständnisses und eines an der Würde des Menschen orientierten politischen Handelns, den Betroffenen ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben in möglichst autonomer Lebensgestaltung zu ermöglichen. Zu einer menschenwürdigen Pflege gehört eine Vielzahl von Voraussetzungen. Unverzichtbar sind unabhängige Beratung, eine Unterstützung pflegender Angehöriger, eine ausreichende Zahl qualifizierter und motivierter Fachleute, soziale Netze, Entwicklung neuer Versorgungs- und Wohnformen und die Förderung des Solidarpotenzials der Gesellschaft. Dabei sollen Modellversuche langfristig in Regelangebote überführt werden, da im anderen Fall auf Dauer erhebliche Mehrkosten für die Kostenträger des Quotalen Systems entstehen werden. Zur Anschubfinanzierung der vorgeschlagenen Maßnahmen soll das Land einen Betrag von 1 Million Euro unbeschadet der Mittel, die über die Rehaträger und Pflegekassen beizusteuern wären, bereitstellen.
Zu I.: Im Fall von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit geben immer mehr Menschen der häuslichen Versorgung den Vorzug vor einer stationären Betreuung. Diesem Wunsch ist unbedingt Rechnung zu tragen. Der Ausbau einer tragfähigen ambulanten Versorgung ist weiter zu fördern, damit er zukünftig zu einem tragfähigen Baustein des Versorgungswesens entwickelt werden kann, der dem ihm zufallenden Aufgabenzuwachs gerecht werden kann. Die Schaffung eines ambulanten Verbundangebots zur Förderung der ambulanten Betreuung liegt dabei nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern auch der Kommunen, weil eine Vermeidung oder Verzögerung der Inanspruchnahme stationärer Pflege auch zu einer Reduzierung der kommunalen Ausgaben führt. Ein wichtiger Baustein dabei ist die Planung und Bereitstellung hinreichender vorpflegerischer und pflegebegleitender Dienste, sowie die frühzeitige Beratung, Unterstützung und Begleitung Angehöriger und ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer.
Integrierte Versorgung und vernetzte Versorgungsstrukturen werden in der vorpflegerischen und pflegerischen Versorgung zukünftig eine weit größere Rolle spielen als bisher. Es wird darauf ankommen, Bedarfslagen hilfe- und pflegebedürftiger Menschen besser zu identifizieren und möglichst passgenaue Angebote unter Nutzung vorhandener und möglicherweise noch zu implementierender Versorgungsstrukturen zur Verfügung zu stellen. Neben einer Überwindung von Schnittstellenproblemen wird es verstärkt zu einer Zusammenarbeit aller an der pflegerischen Versorgung beteiligter Gruppen kommen müssen. Die Rolle der örtlichen Pflegekonferenzen ist in diesem Zusammenhang auszubauen und zu stärken.
Nicht weniger wichtig sind Maßnahmen, die auf die Wohnbedingungen zielen. Ca. 18% aller Pflegebedürftigen wechseln in die stationäre Pflege, weil die Wohnbedingungen eine weitere häusliche Versorgung und Betreuung nicht zulassen. Frühzeitige Wohnberatung und Wohnraumanpassung können hier als Interventionen mit oftmals geringem Aufwand einen Verbleib in der eigenen Häuslichkeit sichern. In diesem Zusammenhang ist der Arbeit der Niedersächsischen Fachstelle für Wohnberatung mit ihrer Multiplikatorenfunktion unbedingt zu erhalten.
Des Weiteren können pflegeergänzende Hilfe-, Beratungs- und Unterstützungsleistungen zur Alltagsbewältigung beitragen. Hier steht nicht die direkte Pflege, sondern die Alltagsassistenz im Mittelpunkt. Für diese Aufgaben sollten bürgerschaftlich Engagierte gewonnen werden, die allerdings mit entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmen auf ihre Aufgabe vorzubereiten und professionell zu begleiten sind. Eine besondere Rolle könnte hier zukünftig das Engagement der Ruhestandsgeneration selbst spielen, indem aktive Ruheständler hilfebedürftigen alten Menschen Unterstützung leisten.
Zu II.: Die Förderung bürgerschaftlichen Engagements ist ein wichtiger Beitrag, den Pflege- und Betreuungsbedarf in Zukunft zu bewältigen. Hierzu bedarf es in Niedersachsen einer Gesamtkonzeption, die Information und Beratung sicherstellt, Netzwerke entwickelt und pflegt , ein übergreifendes Verständnis im Sinne zivilgesellschaftlicher Orientierung befördert und notwendige landespolitische Maßnahmen anstößt. Das Land Niedersachsen sollte an zentraler, ressortübergreifender Stelle die Voraussetzungen dafür schaffen und dabei die Erfahrungen sowohl anderer Bundesländer wie des Auslandes systematisch auswerten und das entsprechende Wissen verbreitern. Den Kommunen kommt dabei als Bestandteil ihres Auftrags zur sozialen Daseinsvorsorge die Aufgabe zu, die Leitidee einer neuen "Kultur des Helfens" auf der örtlichen Ebene praktisch umzusetzen, d, h. zu organisieren, zu fördern und zu stabilisieren.
Zu III.: In der Versorgung hochaltriger Menschen zeigt sich ein hoher Bedarf an Prävention und Rehabilitation, um Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern oder zu verhindern. Zur Verhinderung von Pflegebedürftigkeit werden ambulante geriatrische Rehabilitationsangebote, akutgeriatrische Tageskliniken und teilstationäre geriatrische Rehabilitationseinrichtungen und -dienste als Bindeglied zwischen ambulanter und stationärer Versorgung notwendig sein.
Präventive Hausbesuche von Pflegekräften zur Beratung älterer Menschen im eigenen Heim können künftig einen erheblichen Beitrag zur Stärkung der häuslichen Pflege leisten. Sie dienen der Erhaltung der Selbständigkeit und der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit. Der präventive geriatrische Hausbesuch ist aufgrund internationaler und nationaler Projekte inzwischen einer der am besten dargelegten konzeptionellen Präventionsansätze für bestimmte Zielgruppen. Es hat sich gezeigt, dass durch diese Methode Mortalität und Pflegeheimeinweisungen positiv beeinflusst werden konnten. Das Land sollte in einem regional begrenzten Modellversuch prüfen, ob präventive Hausbesuche für ein nachhaltiges Regelangebot geeignet sind.
Zu IV.: Zukünftig wird ein besonderes Augenmerk auf die steigenden Zahlen von demenzerkrankten Menschen zu legen sein, die überwiegend von Angehörigen versorgt werden. Dabei kommt es vielfach zu Überforderungssituationen, in denen Unterstützung dringend erforderlich ist. Erforderlich ist der Ausbau einer Unterstützungsstruktur von spezifischen niedrigschwelligen Betreuungsangeboten aber auch die Forcierung von gerontopsychiatrischen Zentren und alternativen Wohnformen für demenziell Erkrankte. Die Etablierung einer staatlich anerkannten Weiterbildung zur Pflegefachkraft für gerontopsychiatrische Pflege würde die fachliche Qualifikation in diesem Bereich erhöhen und zur Verbesserung der Versorgung beitragen.
Daneben muss das Angebot auch stärker auf die steigenden Bedarfe von Migrantinnen und Migranten ausgelegt werden. Es ergibt sich die Anforderung eine kultursensible Pflege zu leisten und zielgruppenorientierte Beratungs- und Unterstützungsleistungen zu erbringen.
Zu V.: Eine bedarfsgerechte Anzahl von Ausbildungsplätzen in den Pflegeberufen ist eine wichtige Voraussetzung, um menschenwürdige Zustände in der Pflege zu gewährleisten und Pflegemängel zu verhindern. Deshalb steht das Land in der Pflicht, genügend schulische Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen und im Dialog mit den Trägern der praktischen Ausbildung dafür zu sorgen, dass in ausreichendem Maße betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden. Handlungsbedarf besteht allerdings nicht nur bei der Zahl der Ausbildungsplätze. Auch inhaltlich muss die Altenpflegeausbildung weiterentwickelt werden und sich an die sich stetig verändernden und steigenden Anforderungen in den Einrichtungen (beispielsweise steigender Anteil von dementen und mehrfacherkrankten alten Menschen) anpassen, um hinreichend auf die Praxis vorzubereiten. Anleiter und Anleiterinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer müssen besser qualifiziert und die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Praxiseinrichtungen verbessert werden. Die Anleiterinnen und Anleiter in den Praxiseinrichtungen müssen zwingend über eine Qualifikation verfügen, die mindestens der Ausbildereignungsprüfung entspricht. Ebenso wird es erforderlich sein, in den nächsten Jahren genügend junge Menschen zu motivieren, ihre berufliche Zukunft im Bereich der Pflege zu suchen. Deshalb braucht dieses wichtige Arbeitsfeld ein entsprechendes Image und eine Bewerbung.
Nach dem bevorstehenden Rückzug der Bundesagentur für Arbeit aus dem bisherigen zeitlichen Umfang der Umschulungen im Bereich

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