Antrag: Atomkraftwerke in Niedersachsen: Studie zu Krebserkrankungen bei Kindern zwingt zum Handeln - Wirkung von Niedrigstrahlung neu bewerten!

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Niedersächsische Landtag stellt fest:

Die Ende des Jahres 2007 veröffentlichte Studie, die vom Deutschen Kinderkrebsregister in Mainz im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz erstellt wurde, hat belegt, dass es im Umfeld deutscher Atomkraftwerke eine deutlich erhöhte Zahl von Kindern gibt, die an Krebs erkranken. Die Studie zeigt auch, dass die Zahl der Krebserkrankungen mit der Nähe des Wohnortes von Säuglingen und Kindern zum AKW ansteigt. Eine Qualitätsprüfung der Mainzer Kinderkrebs-Studie, die im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) von den Professoren Karl-Heinz Jöckel, Eberhard Greiser und Wolfgang Hoffmann durchgeführt wurde, stützt dieses Ergebnis und zeigt, dass das Problem noch weit dramatischer ist, als von den Autoren der Kinderkrebsstudie zunächst kommuniziert. Fast die Hälfte der Kinderkrebserkrankungen im Umkreis von fünfzig Kilometern um ein Atomkraftwerk geht demnach darauf zurück, dass die Kinder in der Nähe eines Atomkraftwerkes aufwuchsen. Im Zeitraum von 1980 bis 2003 erkrankten in Deutschland demnach zwischen 121 und 275 Säuglinge und Kleinkinder zusätzlich an Krebs.

Der Niedersächsische Landtag fordert die Landesregierung auf dem Landtag umgehend zu berichten,

  • welche Schlüsse sie aus der Kinderkrebsstudie und der BfS-Qualitätsprüfung zieht,
  • welche Konsequenzen die Landesregierung bislang zum Schutz der Bevölkerung gezogen hat bzw. ziehen will.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • alle Atomkraftwerke einer unverzüglichen Sonderprüfung zu unterziehen und dabei eine Beweislastumkehr vorzunehmen,
  • von der Bundesregierung zu verlangen, Gesundheitsschutz und Risikovorsorge neu zu bewerten, eine Neubewertung der Risiken von Niedrigstrahlung und der geltenden Grenzwerte vorzunehmen und an der besonderen Sensibilität von Embryonen, Säuglingen und Kleinkindern auszurichten,
  • das gesamte System der Überwachung und Strahlenmessung an den niedersächsischen Atomkraftstandorten auf den Prüfstand zu stellen,
  • sich für eine Veränderung von Art.1 § 2 des Abkommens zwischen Weltgesundheitsbehörde (WHO) und der Internationalen Atombehörde (IAEA) einzusetzen, dass der WHO bislang untersagt, Forschungsprogramme und Maßnahmen zum Gesundheitsschutz im Nuklearbereich ohne das Einvernehmen der IAEA zu erlassen.

Begründung

Bereits seit vielen Jahrzehnten gibt es Hinweise auf erhöhte Krebsraten in der Umgebung von Atomkraftwerken. 1987 und 1989 berichteten britische Studien von einem statistisch signifikant gehäuften Auftreten kindlicher Leukämien im 10 Meilen-Umkreis um kerntechnische Anlagen in England und Wales. 1992 wurde in einer analog durchgeführten Studie des Deutschen Kinderkrebsregisters (DKKR) für den Zeitraum 1980 bis 1990 bei Kindern unter 5 Jahren in der 5km-Zone beobachtet, dass die Erkrankungsrate für Leukämien statistisch signifikant erhöht ist

Da diese Ergebnisse kontrovers diskutiert wurden und zeitgleich eine statistisch signifikante Häufung von Leukämien in der Umgebung des Atomkraftwerks Krümmel auftrat, wurde 1997 eine zweite Studie mit Daten aus dem an die erste Studie anschließenden Zeitraum (1991-1995) veröffentlicht.

Auch nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der zweiten Studie ist die Diskussion über einen möglichen Zusammenhang zwischen Auftreten von Krebserkrankungen bei Kindern und Wohnen in der Nähe von atomaren Anlagen im Normalbetrieb nicht abgebrochen. In diesem Zusammenhang wurden Daten des DKKR auch durch andere Wissenschaftler ausgewertet. Über die Ergebnisse der Studien des DKKR und der Nachauswertung durch Dritte gab es erneut Kontroversen in der Öffentlichkeit.

2001 beschloss das BfS auf der Basis der vorliegenden Befunde eine methodisch anspruchsvollere Studie – eine so genannte Fall-Kontroll-Studie – in Auftrag zu geben, um zu belastbareren Ergebnissen zu kommen. Diese "KiKK-Studie" (Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken) begann 2003. Fragestellung und Art der Studie wurde von einem interdisziplinär zusammengesetzten 12köpfigen Expertengremium vorgeschlagen. Das BfS hat das Deutsche Kinderkrebsregister in Mainz nach einer Ausschreibung beauftragt.

Das jetzt vorliegende Ergebnis der Untersuchung des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz weist nach, dass das Risiko für unter 5-jährige Kinder an Leukämie zu erkranken, mit zunehmender Nähe des Wohnorts zu einem Atomkraftwerksstandort zunimmt.

Sowohl für alle Krebsneuerkrankungen als auch für Leukämien zeigte sich, dass diese im Nahbereich (5-km-Umkreis) um Atomkraftwerke signifikant häufiger auftreten als in weiter entfernten Regionen. Der Befund für alle Tumoren ist dabei wesentlich auf den Befund für Leukämien zurückzuführen. Es ergibt sich ein negativer Abstandstrend, d.h. das Risiko einer bösartigen Neuerkrankung nimmt mit zunehmender Nähe zum Reaktorstandort zu. Unerwartet ist das auffällige Ergebnis der Regressionsanalyse, die eine kontinuierliche Zunahme des Risikos bei zunehmender Nähe des Wohnortes zum Reaktor zeigt.

Nach einer Diskussion des Abschlussberichtes zur KiKK-Studie im Dezember 2007 kommt das externe Expertengremium zu folgenden Bewertungen:

  • "Hauptergebnis der Studie ist eine kontinuierliche Zunahme des Erkrankungsrisikos für Krebserkrankungen und Leukämie bei unter 5jährigen Kindern mit zunehmender Wohnnähe zum nächstgelegenen Atomkraftwerksstandort.
  • Die Autoren konstatieren zu Recht, dass das Erkrankungsrisiko an kindlichen Krebserkrankungen und Leukämie mit zunehmender Wohnnähe zu einem Atomkraftwerk signifikant und stetig zunimmt. Die Studie ist weltweit die methodisch aufwendigste und umfassendste Untersuchung dieses Zusammenhanges. Der Zusammenhang zwischen Wohnnähe und Erkrankungsrisiko ist damit für Deutschland hinreichend belegt.
  • Die Berechnungen zum Attributivrisiko waren im Auswerteplan nicht vorgesehen. Für die Kommunikation der Ergebnisse an die Politik und Öffentlichkeit ist eine Angabe des der Wohnortnähe zum Reaktor zuzuschreibenden Risikos und zum bevölkerungsbezogenen Risiko unverzichtbar.
  • Im vorliegenden Fall wurden die Berechnungen nicht korrekt durchgeführt. Es wurde lediglich die 0-5 km-Region um die Atomstandorte berücksichtigt, während die übrigen Anteile des Untersuchungsgebietes außer acht blieben, obwohl auch dort signifikant erhöhte Risiken berechnet wurden.
  • Die Bezugspopulation für die Berechung des Anteiles aller Krebs- und Leukämiefälle bei Kindern unter 5 Jahren ist nicht korrekt bestimmt. In der Konsequenz wurde der tatsächlich auf die Wohnnähe zu Atomstandorten zurückzuführende Anteil der Krebsfälle unterschätzt.
  • Statt der von den Autoren allein für die 0-5 km Region angegebenen zusätzlichen 29 Krebsfälle bei Kindern unter 5 Jahren muss von mindestens 121-275 zusätzlichen Neuerkrankungen im Umkreis von 50 km um alle westdeutschen Atomstandorte im Zeitraum zwischen 1980-2003 ausgegangen werden. Dies entspricht 8-18 % aller im 50 km Umkreis um Atomanlagen aufgetretenen Krebserkrankungen bei unter 5jährigen Kindern.
  • Bezogen auf alle im Deutschen Kinderkrebsregister gespeicherten Erkrankungsfälle im gleichen Zeitraum entspricht dies einem Anteil von 1,03 - 2,35 %. Bei dieser Zahl muss davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine Unterschätzung handelt, weil designbedingt nicht alle betroffenen Kinder erfasst werden konnten. Dieses Risiko liegt erheblich über dem von den Autoren berichteten 0,22%.
  • Die Autoren schreiben, dass "”¦ aufgrund des aktuellen strahlenbiologischen und strahlenepidemiologischen Wissens die von deutschen Kernkraftwerken im Normalbetrieb emittierte ionisierende Strahlung grundsätzlich nicht als Ursache interpretiert werden kann."
  • Im Gegensatz zu den Autoren ist das externe Expertengremium einhellig der Überzeugung, dass aufgrund des besonders hohen Strahlenrisikos für Kleinkinder sowie der unzureichenden Daten zur Emissionen von Leistungsreaktoren dieser Zusammenhang keinesfalls ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus sprechen mehrere epidemiologische Kausalitätskriterien für einen solchen Zusammenhang. Es ist jetzt Aufgabe der Wissenschaft, einen Erklärungsansatz für die Differenz zwischen epidemiologischer und strahlenbiologischer Evidenz zu finden.
  • Die Autoren der Studie führen zur Erklärung des von ihnen nachgewiesenen Risikos um Atomkraftwerke noch unbekannte Faktoren (sog. Confounder), nicht näher beschriebene Selektionsmechanismen oder den statistischen Zufall an. Alle drei Erklärungsansätze hält das externe Gremium angesichts der Studienergebnisse für unwahrscheinlich."
  • Der Atomkraftwerksbetreiber E.ON Kernkraft schreibt im Dezember 2007 an Kommunalpolitiker im Bereich des Atomkraftwerks Unterweser, bemüht in seinem Schreiben das Argument vom "Zufall" und beklagt, dass "andere möglicherweise zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragende Faktoren ”¦ leider nicht untersucht wurden." Weiter heißt es dort: "Die Studie leistet leider keinen weiteren Beitrag zur Erforschung der Ursachen kindlicher Leukämie."

Kausale Zusammenhänge zwischen dem Betrieb der Reaktoren und dem Auftreten von Leukämie werden von den Kraftwerksbetreibern abgestritten, weil die zulässigen Grenzwerte nach heutigem Wissen keinen solchen Zusammenhang zulassen würden. Dazu sei die Strahlung in der Umgebung von Atomkraftwerken viel zu gering. Fraglich ist jedoch, ob die bislang geltende Risikobewertung von Niedrigstrahlung die besondere Sensibilität von Embryonen, Säuglingen und Kleinkindern richtig berücksichtigt. Fraglich ist auch, ob wirklich alle relevanten Emissionen der Kraftwerke lückenlos und zu allen Zeitpunkten erfasst wurden. Bezüglich der Wirkung von Niedrigstrahlung auf Kinder gab es schon früher Untersuchungen, die die Übertragung der für Erwachsene geltenden Risikofaktoren auf Kinder in Frage stellen.

Das "Komitee zur Abschätzung der Gesundheitsrisiken ionisierender Strahlung im Bereich niedriger Strahlenexpositionen" (Committee to Assess Health Risks from Exposure to Low Level of Ionizing Radiation) des Nationalen Wissenschaftsrats der USA (National Research Council) hat 2006 u.a. festgestellt, dass die Datenlage zum strahlenbedingten Krebsrisiko bei Kindern unzureichend ist, um eine verlässliche Risikoabschätzung vornehmen zu können.

Die Internationale Strahlenschutzkommission (International Commission on Radiological Protection, ICRP) und das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen zu den Wirkungen der Atomstrahlung (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, UNSCEAR) geben an, dass das strahlenbedingte Krebsrisiko für Kinder um den Faktor 2-3 höher ist als das der Erwachsenen und dass zusätzlich ein Abschätzfehler für das strahlenbedingte Krebsrisiko der Erwachsenen mit 2-3-fach höher oder niedriger beachtet werden muss. Weiterhin weisen demnach die Dosiskoeffizienten (Abschätzung der Dosis aufgrund inkorporierter Aktivität) insbesondere für Kinder erhebliche Abschätzunsicherheiten auf.

Auch im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hätte eine grundlegende Neubewertung der Risiken von Niedrigstrahlung vorgenommen werden können. In der Praxis sind aber sehr viele notwendige Untersuchungen und Analysen unterblieben. Teilweise ist die Veröffentlichung von Protokollen der Konferenzen in Genf und Kiew unterblieben. Ein von der WHO geplanter größerer Kongress ist vor Jahren auf Intervention der IAEA abgesagt worden. Immer noch ist die Arbeit der WHO durch eine alte Vereinbarung zwischen WHO und IAEA eingeschränkt.

Nach der KiKK-Studie dürfen die Aufsichtsbehörden über die niedersächsischen Atomkraftwerke nicht zur Tagesordnung übergehen. Zum ersten Mal hat eine Studie in Deutschland den Zusammenhang zwischen der Nähe des Wohnorts und der Wahrscheinlichkeit an Leukämie zu erkranken bewiesen. Die Studie genügt höchsten wissenschaftlichen Anforderungen. Es ist Zeit für Konsequenzen. Die dauernde Diskussion um Laufzeitverlängerungen zeigt, dass von den Betreibern kein verantwortliches Handeln zu erwarten ist. Vor diesem Hintergrund muss die Atomaufsicht des Landes Niedersachsen Sonderprüfungen anordnen, die Betriebserlaubnis der Atomkraftwerke in Frage stellen und von den Betreibern den Nachweis der Unbedenklichkeit verlangen. Tödliche Erkrankungen von Kindern, die im Umkreis der Atomkraftwerke wohnen, sind durch die Betriebserlaubnis von Atomkraftwerken jedenfalls nicht gedeckt.

Fraktionsvorsitzender

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