Antrag: Alternativen zum Heim schaffen – Ambulante Wohnformen weiter ausbauen

 

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

In Niedersachsen lebt immer noch eine viel zu große Zahl von Menschen mit Behinderungen in stationären Einrichtungen. Die Zahl der Heimplätze nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Der Auftrag des Sozialgesetzbuches IX und des Sozialgesetzbuches XII, Menschen mit Behinderungen am normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, wird nur sehr unzureichend erfüllt. In vielen Fällen scheitert die Eingliederung, weil eine Heimeinweisung mangels Prüfung von Alternativen erfolgt und in vielen Fällen faktisch eine nicht revidierbare Entscheidung bedeutet.

Der Ausbau ambulanter Versorgungsformen für Menschen mit Behinderungen ist die zentrale Aufgabe einer zukunftsweisenden, nachhaltigen und emanzipativen Sozialpolitik. Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und die Förderung des eigenständigen Wohnens sind ohne Strukturen, die ein Maximum an Selbstbestimmung ermöglichen, nicht denkbar.

Die Weiterentwicklung der Qualität der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen und ihre langfristige Finanzierung kann nur durch einen umfassenden Ausbau differenzierter ambulanter Versorgungsstrukturen sichergestellt werden.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  • Bis Ende 2009 5% der derzeit vorhandenen stationären Plätze für Menschen mit Behinderungen in ambulante Angebote umzuwandeln. Hierzu ist, nach dem Vorbild der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe, mit den Trägern der stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe eine entsprechende Zielvereinbarung mit Übergangsbudgets abzuschließen.
  • Wie bei den seelisch Behinderten begleitend ein Hilfeplanverfahren und Hilfekonferenzen aufzubauen und eine soziale Infrastruktur zur Krisenintervention und Tagesstrukturierung zu fördern.
  • Die flächendeckende Einführung des persönlichen trägerübergreifenden Budgets bis zum 31.12.2007 umzusetzen.

 

Begründung

Die Schaffung von Alternativen zur Unterbringung in Heimen und Sondereinrichtungen wird in Niedersachsen noch immer nicht konsequent angegangen. Im Gegenteil: Nach wie vor fließen öffentliche Gelder in den Bau neuer stationärer Einrichtungen. So hat Niedersachsen im Bereich der seelisch Behinderten gegenüber dem Bundesdurchschnitt eine dreimal so hohe Heimunterbringungsrate (siehe Tätigkeitsbericht des Ausschusses für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung für das Jahr 2002).

In Niedersachsen werden bisher nur ca. 4.500 behinderte Menschen ambulant betreut, während über 20.000 – bei steigender Tendenz- stationär untergebracht sind. In der Praxis haben sich Reformansätze bisher nicht in ausreichendem Maße durchsetzen können. Im Gegenteil: Der seit 15 Jahren festzustellende massive Ausgabenzuwachs bei der Eingliederungshilfe in stationären Einrichtungen hat sich auch in den vergangenen Jahren ungemindert fortgesetzt.

Die dafür veranschlagten Mittel werden dringend zur Entwicklung ambulanter Angebote benötigt. Die fachliche Weiterentwicklung der Qualität der Eingliederungshilfe hängt unmittelbar mit der Entwicklung der Kosten zusammen. Die langfristige Finanzierbarkeit der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen kann nur durch einen umfassenden Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen im Sinne der Stärkung des selbstbestimmten Lebens der behinderten Menschen sichergestellt werden. Dabei müssen Leistungsempfänger und Kostenträger gleichermaßen finanzielle Anreize zur ambulanten Versorgung erhalten. Aktuelle Musterberechnungen des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) zeigen, dass die Kosten der Sozialhilfeträger für ambulante Versorgungsformen selbst dann deutlich geringer ausfallen, wenn hierbei auf den Einsatz von Einkommen, Vermögen und Unterhalt der Leistungsempfänger verzichtet wird. Bei diesen Berechnungen sind bereits die Fälle einbezogen, die aufgrund ihres hohen Pflege- und Assistenzbedarfs deutlich höhere Kosten bei ambulanter Versorgung verursachen als bei stationärer Unterbringung.

Wenn nicht umgehend entsprechende Maßnahmen zur Förderung ambulanter Versorgungsstrukturen eingeleitet werden, ist zu erwarten, dass sich spätere Reformansätze bei der Eingliederungshilfe ausschließlich auf eine Kostenbegrenzung durch Leistungsabbau beschränken. Diese Entwicklung wurde in der Vergangenheit von den Bestrebungen einzelner Bundesländer wie etwa Bayern und Baden-Württemberg begleitet, die kommunalen Haushaltsaufwendungen für die Kinder- und Jugendhilfe und auch für die Eingliederungshilfe dadurch zu begrenzen, dass sie von der jeweiligen Haushaltslage vor Ort abhängig gemacht werden sollten.

Um eine Lenkungswirkung zu entfalten, muss mit dieser Strukturreform der Aufbau regionaler und kommunaler Hilfeplankonferenzen und individueller Hilfepläne einhergehen, wie es für den Bereich der psychisch Kranken schon lange Praxis ist. Begleitend zum ambulanten betreuten und selbstständigen Wohnen sind Einrichtungen zur Krisenintervention wie auch zur Tagesstrukturierung notwendig.

Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren mit dem Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem reformierten Sozialhilferecht das Instrument des Persönlichen Budgets, das auch trägerübergreifend umgesetzt werden soll, geschaffen. Damit wurden wichtige Voraussetzungen zum Ausbau ambulanter Vorsorgungsangebote geschaffen. Parallel zu diesen gesetzgeberischen Maßnahmen hat sich in Deutschland eine breit angelegte interdisziplinär arbeitende Begleitforschung etabliert, mit der die Umsetzung dieser neu eingeführten sozialrechtlichen Instrumente evaluiert werden soll. Dazu gehört vor allem die Begleitforschung in den 14 Modellregionen trägerübergreifender persönlicher Budgets. Die bisherigen Zwischenauswertungen der Modellprojekte zum trägerübergreifenden Budget haben gezeigt, dass es auf Seiten der Leistungsberechtigten ebenso wie auf Seiten der Leistungsträger noch erhebliche Informationsdefizite und Unsicherheiten über die genaue Ausgestaltung persönlicher Budgets gibt. Da die Leistungsempfänger nach dem SGB XII ab Januar 2008 einen Rechtsanspruch auf ihre Leistungen in Form eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets haben, muss die Landesregierung auf diese Vorbehalte dringend mit einer gezielten Informationskampagne reagieren. Ebenfalls muss die Landesregierung die zuständigen Leistungsträger zu einer verlässlichen trägerübergreifenden Kooperation bewegen und ggf. erforderliche Gesetzesänderungen unterstützen.

Parlamentarische Geschäftsführerin

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