Antrag: Afghanistan: Leben retten, Loyalität erwidern, Schutzbedürftige aufnehmen!

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Deutschland hat in Afghanistan Menschen im Stich gelassen, die unseren Bundeswehreinsatz, unsere Hilfsorganisationen und den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren unterstützt haben. Trotz der aktuellen Entwicklungen muss Deutschland zu seiner humanitären Verantwortung stehen und alle Gefährdeten bei der Wahrnehmung ihrer Chance, ausreisen zu können, unterstützen.

Es wird begrüßt, dass

  • der Bundesinnenminister aus den Ländern - auch aus Niedersachsen - aufgefordert wurde, ein Aufnahmeprogramm aufzulegen, und die ersten Landesregierungen aus Niedersachsen, Berlin, Brandenburg, Thüringen, Baden-Württemberg, Hamburg, NRW und Schleswig-Holstein ihre Aufnahmebereitschaft für Menschen aus Afghanistan öffentlich und gegenüber der Bundesebene signalisiert haben,
  • Schleswig-Holstein ein eigenes Landesaufnahmeprogramm für Familienangehörige hier lebender Afghan*innen und Berlin ein Landesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete afghanische Geflüchtete plant,
  • Niedersachsen für die Aufnahme afghanischer Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen mindestens 450 Unterbringungsplätze bereitgestellt hat.

Aber Niedersachsen kann mehr. Niedersachsen sollte zusätzlich zu einem möglichen Bundesaufnahmeprogramm ein Landesaufnahmeprogramm auflegen und sich auf Bundesebene für diverse Maßnahmen einsetzen, die die Aufnahme in Deutschland erleichtern, fördern und beschleunigen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • ein humanitäres Landesaufnahmeprogramme nach § 23 Abs. 1 AufenthG für besonders schutzbedürftige Afghan*innen wie Frauen und ihre Familien und Sonderkontingente für Menschenrechtler*innen, Frauenrechtler*innen, und Menschen, die sich durch ihr gesellschaftliches Engagement und ihre Arbeit für eine freie, demokratische afghanische Gesellschaft eingesetzt haben, vorzubereiten und anzubieten für den Fall, dass im Bund und international die Strukturen für eine Aufnahme geschaffen werden können;
  • eine Landesaufnahmeanordnung für afghanische Verwandte von in Niedersachsen Lebenden analog der Landesaufnahmeanordnung für syrische Angehörige in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Thüringen nach § 23 Abs. 1 AufenthG vorzubereiten und anzubieten für den Fall, dass im Bund und international die Strukturen für eine Aufnahme geschaffen werden können;
  • die psychosoziale Versorgung nach Ankunft der Aufgenommenen und eine besonders geschützte Unterbringung für vulnerable Gruppen sicherzustellen;
  • die Finanzierung der Migrationsberatung im Doppelhaushalt 2022/2023 nicht zu kürzen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich auf Bundesebene für folgende Maßnahmen einzusetzen:

  • die Unterstützung des Aufbaus von Strukturen zur vorläufigen Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan, insbesondere von Frauen und Mädchen, aus den Nachbarstaaten Afghanistans und anschließende Aufnahme in Deutschland;
  • ein Bundesaufnahmeprogramm, über das insbesondere Frauen und Mädchen sowie weitere besonders schutzbedürftige Personen mit deren Familienangehörigen (über die Kernfamilie hinaus) aufgenommen werden;
  • Ausreisegesuche aus Afghanistan auf diplomatischem Wege zu unterstützen und zu ermöglichen;
  • die Unterstützung und Bewilligung von Landesaufnahmeanordnungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG;
  • die Erteilung einer Einreiseerlaubnis auch ohne Visa und gültigen Reisepass – auch bei Familiennachzug (visa upon arrival).
  • die unverzügliche Umsetzung aller bewilligten Familiennachzüge und die beschleunigte Bearbeitung der bereits gestellten Anträge beispielsweise durch Personalaufstockung;
  • die Entwicklung von tragfähigen Konzepten zur kurzfristigen Evakuierung von gefährdeten Personen aus den Lagern der Nachbarländer, insbesondere von Frauen und Mädchen;
  • die unbürokratische Unterstützung der Ausreise und Aufnahme von Mitarbeiter*innen und Helfer*innen ziviler Hilfsorganisationen sowie Frauen- und Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen, politisch Engagierten zum Aufbau einer Demokratie, und Künstler*innen mit ihren Familien auf Basis des § 22 S. 2 AufenthG und Eröffnung einer Aufenthaltsperspektive in Deutschland;
  • einen besonderen Beitrag zur finanziellen Ausstattung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie den politischen Einsatz auf europäischer Ebene für eine stabile und verlässliche Finanzierung des UNHCR durch ein festes Budget;
  • die Evaluierung des 1. NATO-Bündnisfalles „Afghanistan-Einsatz“, insbesondere der deutschen Beteiligung daran sowie der Verzögerungen der Evakuierungen zum Nachteil vieler Menschen.

Begründung

Die Landesregierung Schleswig-Holsteins hat laut Mitteilung vom 24.08.2021 festgelegt, dass das Land Schleswig-Holstein vorrangig weibliche Angehörige (Frauen sowie deren Kinder und Schwestern) von in Schleswig-Holstein lebenden afghanischen Staatsangehörigen aufnehmen möchte. Besonders gefährdete Frauen sollen bevorzugt berücksichtigt werden. Dies geschehe in Abstimmung mit der Bundesregierung (https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/IV/_startseite/Artikel2021/III/210817_landesaufnahmeprogramm.html). Diesem Beispiel sollte Niedersachsen folgen.

Viele Afghan*innen in Deutschland bangen um ihre Familienangehörigen in Afghanistan. Sie verstecken sich dort und können den rettenden Flughafen in Kabul nicht erreichen. Insbesondere Frauen und Mädchen haben eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit und trauen sich aus Angst vor Verschleppung und Zwangsverheiratung nicht auf die Straße. Damit sinken ihre Chancen auf eine Ausreise. Viele Afghan*innen sind aktuell gezwungen, Unterlagen mit Bezug zu ihren Familien oder Kontakten ins Ausland verschwinden zu lassen, damit die Taliban sie nicht identifizieren können. Dieser Umstand muss von den deutschen Behörden bedacht werden und darf den Menschen nicht die Chance auf Aus- bzw. Einreise nehmen. Afghanische Angehörige in Deutschland berichten zunehmend von einer gezielten Jagd der Taliban insbesondere auf Aktivist*innen und Regierungsbeamt*innen. Sie erhalten Drohanrufe auf ihren Dienstnummern und sollen mithilfe von IT-Spezialisten identifiziert werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Taliban Menschen, die für westliche Staaten gearbeitet haben oder sich für demokratische Strukturen und Menschenrechte einsetzen, verschonen oder begnadigen werden. Im Gegenteil: Auch ihre Familien befinden sich in Gefahr.

Frauen und Mädchen zahlen nach der Machtübernahme der Taliban den hohen Preis ihrer Freiheit und körperlichen Unversehrtheit. Bereits jetzt werden ihre Rechte beschnitten und sie aus dem öffentlichen Leben verbannt. Frauen leben nun in einem System des religiösen Fundamentalismus und befinden sich in einer geschlechtsspezifischen Verfolgungs- und Bedrohungssituation. Ihr Leben, die freie Entscheidung über ihren Körper, ihre Bildung, ihre materielle Existenz, ihre beruflichen Tätigkeiten, ihre politische Beteiligung und ihre persönlichen Freiheiten sind durch die Taliban massiv bedroht. Deshalb werden sichere Häfen und sichere Einreisewege gebraucht, damit niemand – insbesondere nicht Frauen und Kinder – auf eine wahrscheinlich tödlich endende Fluchtroute über das Mittelmeer gezwungen wird.

Die Finanzierung der Migrationsberatung darf keinesfalls in dem radikalen Maße gekürzt werden, wie sie im Haushaltsplanentwurf der Landesregierung für 2022/2023 vorgesehen ist, denn diese Aufgabe besteht weiterhin und erlangt auch angesichts der Afghanistan-Krise wieder besondere Bedeutung.

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