Anja Piel: Rede zur Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen

- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,

der Staat muss allen Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren. Auch durch „vermeintlich unwürdiges Verhalten geht dieser Anspruch nicht verloren“. So leitet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu Sanktionen im Sozialrecht ein.

Es lohnt sich übrigens, das Urteil genau zu lesen:

Erstens. Sanktionen von mehr als 30% sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Unser Grundgesetz ist auch 70 Jahre nach seiner Verabschiedung immer noch eine verlässliche Grundlage.

Damit wird die jahrelange Sanktionspraxis der Job Center beendet, die viele Menschen in schlimme existenzielle Notlagen gebracht hat. Denn was heißt es denn, wenn das Existenzminimum um 30, 60 oder sogar 100% gekürzt wird?

Solche Kürzungen gehen an die Substanz: Man wird nicht mehr satt. Vielleicht verliert man die Wohnung.

In Niedersachsen trifft das etwa 11.000 Menschen. Vielen von ihnen wurde das Existenzminimum um 10 oder 20% gekürzt. Im Durchschnitt sind das um 110 Euro. Klingt vielleicht für uns hier nach nicht viel. Aber können wir uns vorstellen, wie es ist, mit weniger als 400 Euro einen ganzen Monat überstehen zu müssen?

Unter den 11.000 Menschen sind einige, die noch weitaus härter sanktioniert worden sind. Und das nicht etwa deshalb, weil sie keine Lust auf die vermittelte Beschäftigung haben. Oder weil sie lieber vorm Fernseher sitzen, statt zum Termin im Job Center zu gehen.

Menschen werden auch sanktioniert, wenn sie Bescheide nicht verstehen, wenn sie psychisch krank sind, weil sie eine Vielzahl von Problemen haben. Das Perfide ist: sie werden nicht nur sanktioniert, weil sie Probleme haben. Sie werden sanktioniert, OBWOHL sie Probleme haben.

Menschen, die Sozialleistungen beziehen, befinden sich übrigens IMMER in einer prekären Situation. Und machen wir uns nichts vor: Sanktionen verstärken ihre Not und schaffen neue Probleme. Auch dann, wenn die Einschnitte weniger als 30% betragen.

Wer von uns hätte die Nerven für Bewerbungen, wenn er nicht mal weiß, wie er die Miete bezahlen soll?

Zweitens. Sanktionen sind dem Urteil zufolge nur dann legitim, wenn sie dem Ziel dienen, die Bedürftigkeit zu überwinden und eine eigenständige Existenz durch Erwerbsarbeit zu schaffen. Aber mal ehrlich, wie soll das denn gehen?

Wir nehmen den Menschen ihre Existenzgrundlage und dann fallen sie plötzlich auf die Füße?

Es gibt Studien, die belegen, dass Sanktionen krank machen können– und zwar physisch und psychisch. Ebenfalls belegt:  Sanktionen führen zu Isolation der Betroffenen.

Und Sanktionen werden zudem zum Teil zu Unrecht verhängt: ein Drittel der Widersprüche und Klagen gegen Sanktionen sind erfolgreich, so die Statistik der Bundesagentur für Arbeit.

Nach meinem Verständnis macht es keinen Sinn, Menschen in existenzielle Notlagen zu bringen. Aber wenn Menschen auch noch völlig zu Unrecht an den Rand der Existenz gebracht werden, dann ist das mit dem Sozialstaatsprinzip aus meiner Sicht nicht vereinbar.

Wollen wir das wirklich, Menschen zu Unrecht in eine existenzielle Notlage zu bringen?

Drittens. In der Urteilsbegründung heißt es ausdrücklich: der Gesetzgeber kann Sanktionen zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten verhängen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: er muss das nicht tun.

Wenn man aber doch zwei Handlungsoptionen hat, ist man in der Regel gut beraten, Folgen für die Betroffenen auch mit den Betroffenen abzuwägen.

Wenn ich mit Erwerbsloseninitiativen spreche, oder mit der Landesarmutskonferenz, mit den Gewerkschaften oder den Wohlfahrtsverbänden, höre ich überall das Gleiche: es darf keine Kürzung am Existenzminimum geben.

Hartz IV muss einer Förderung und Unterstützung weichen, die die Würde des Menschen wahrt. Das war am Tag der Urteilsverkündung einhellige Überzeugung.

Anrede,

Haben Sie mal mit den Betroffenen gesprochen? Darüber, wie die Zukunft der sozialen Sicherung aussehen könnte?

 Denn genau das ist der Auftrag des Bundesverwaltungsgerichts. Ein Urteil ersetzt keine Politik.

Es ist ja schön, wenn der Ministerpräsident nach der Jahresauftaktklausur des Kabinetts mal wieder das gute Betriebsklima in der Koalition lobt. Ist das schon ein Wert an sich, wenn jeder Partner weiß, was er dem anderen politisch abverlangen kann?

Den Betroffenen nützt das gute Klima der GroKos in Hannover und Berlin wenig.

Ausbaden müssen es im Fall der Sanktionen, ebenso wie bei der Grundrente oder bei der Kindergrundsicherung die Schwächsten der Gesellschaft.

Das ist ein Armutszeugnis. Und zwar für die Große Koalition. Niedersachsen hätte seine Chance wahrnehmen können, etwas anders zu machen. Das lehnen Sie ab. Schade!

 

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