Anja Piel: Rede zur Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen (Grüner Gesetzentwurf)

- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,

ich habe heute die große Freude, etwa 10.000 Erstwählerinnen und Erstwähler in Niedersachsen beglückwünschen zu dürfen.

10.000 Menschen, die bisher das nicht tun konnten, was für uns alle selbstverständlich ist: nämlich Menschen zu wählen, die sich in Parlamenten für das einsetzen, was sie brauchen.

10.000 Menschen, denen man jahrzehntelang nicht zutraute, eine Wahlentscheidung zu treffen.

Ab heute gilt: EIN Wahlrecht für ALLE in Niedersachsen. 10 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention wurde das auch Zeit.

Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich für Deutschland klargestellt, was in anderen Ländern längst gelebt wird: die grundlegenden Rechte von Bürgerinnen und Bürgern dürfen nicht davon abhängen, was sie können. Oder eben nicht können. Diese Rechte gelten für alle.

Anrede,

und trotzdem wird es auch hier im Landtag wahrscheinlich einige wenige geben, die dieser Wahlrechtsänderung nicht zustimmen. Aber: ein inklusives Wahlrecht ist gut für Demokratie und keine Gefahr. Wenn Sie hier heute ein Gesetz ablehnen, für das wir einen ganz eindeutigen Auftrag vom Bundesverfassungsgericht bekommen haben, dann ist das nur ein weiterer Beleg dafür, dass Sie die Idee der Demokratie nicht begreifen.

Anrede,

bei aller Freude über die heutige Entscheidung komme ich nicht umhin, den Blick nach vorn zu richten – und da sehe ich noch einen langen Weg vor uns.

Erstens:

Wir machen heute den Weg dafür frei, dass Menschen mit Behinderungen das aktive und das passive Wahlrecht bekommen. Wir als Parteien müssen jetzt aber noch mehr dafür tun, dass sie es auch in Anspruch nehmen können.

Es ist unsere Aufgabe, zu erklären, was wir tun und vorhaben. Und zwar so zu erklären, dass es alle verstehen.

Es ist unsere Aufgabe, Veranstaltungen so zu planen, dass alle daran teilnehmen können.

Und es ist unsere Aufgabe, Funktionen und Ämter so auszugestalten, dass alle sie übernehmen können.

Und da sehe ich bei uns allen noch eine Menge zu tun.

Zweitens:

Dort, wo im Mai neue Hauptverwaltungsbeamte, also zum Beispiel Bürgermeister, gewählt werden, dürfen einige der betroffenen Menschen nun bereits wählen. Das ist schön!

An der Europawahl im Mai dürfen sie aber nicht teilnehmen. Eine absurde Situation.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und SPD,

mit Ihrer Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf haben Sie gezeigt, dass Sie für eine gute Sache auch mal mit der Opposition stimmen. Anders ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin: die haben die Entscheidung, dass alle wählen können, so lange vertagt, bis es zu spät war. Zu spät für eine Änderung des Wahlrechts zur Europawahl.

Drittens:

Die HAZ hat den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Jürgen Dusel, gestern gefragt, welche Note er Deutschland für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geben würde. Antwort: 3 bis 4.

Das ist ziemlich schlecht für ein Land, in dem sich die meisten Entscheiderinnen und Entscheider an die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention gebunden fühlen sollten.

Und die Diskussion um die Wahlrechtsausschlüsse zeigt ganz deutlich, dass die Barrieren in den Köpfen der Menschen schwieriger zu überwinden sind, als so mancher Bordstein mit dem Rollstuhl.

Das erleben wir auch hier in Niedersachsen, wo sich die Landesregierung monatelang nicht darauf einigen kann, wie sie das Bundesteilhabegesetz genau umsetzen wird. Oder beim Thema Behindertengleichstellungsgesetz: hier wird offenbar ein Gesetz geplant, das eher von Bedenken geprägt ist als vom Glauben daran, dass Inklusion etwas Gutes für alle Menschen ist.

Anrede,

Inklusion ist ein Menschenrecht, über das es nichts zu verhandeln gibt. Was wir hier in Niedersachsen brauchen, ist eine Landesregierung, die mit Mut und Entschlossenheit vorangeht. Die dabei auch mal Barrieren überwindet. Und die der Inklusion eine Richtung gibt.

Sehr geehrte Frau Ministerin Reimann,

wir haben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf gerne auf die Sprünge geholfen. In Zukunft erwarten wir aber mehr von Ihnen.

Vielen Dank.

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