Änderungsantrag: Residenzpflicht abschaffen – Freizügigkeit ausweiten

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 16/2514

Der Landtag wolle den Antrag in folgender Fassung beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Die sogenannte Residenzpflicht für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und geduldete AusländerInnen bedeutet für die Betroffenen, dass sie sich ohne behördliche Genehmigung nicht frei bewegen dürfen. Im Land Niedersachsen bedürfen diese Menschen immer wieder einer Genehmigung der Ausländerbehörde, wenn sie eine Landkreisgrenze oder die Landesgrenze überschreiten möchten. Verstöße gegen die Residenzpflicht werden als Ordnungswidrigkeit, im Wiederholungsfall als Straftat geahndet. Dadurch werden Asylbewerberinnen und Asylbewerber und Geduldete kriminalisiert und Vorurteile geschürt. Bei Wiederholung kann dies sogar eine Bleibeberechtigung über die Altfallregelung verhindern. Die Residenzpflicht schränkt so soziale Rechte, Religionsausübung, kulturelle Rechte, aber auch politische Rechte ein. In Verbindung mit anderen asylverfahrenspezifischen Einschränkungen führt die Residenzpflicht so zu einer Diskriminierung der Betroffenen, die nicht gerechtfertigt ist.

Deshalb spricht sich der Landtag für eine Aufhebung der räumlichen Beschränkungen für AsylbewerberInnen und Geduldete und für eine großzügige Handhabung des § 58 AsylVfG sowie des § 61 Abs. 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 5 AufenthG aus.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, Regelungen zu treffen, die folgenden Ansprüchen entsprechen:

  1. AsylbewerberInnen und Geduldete sollen sich erlaubnisfrei im gesamten Gebiet des Landes Niedersachsen aufhalten dürfen. Von Einschränkungen entsprechend § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird bei Geduldeten künftig abgesehen. Alle Möglichkeiten für eine Lockerung der räumlichen Beschränkungen, denen AsylbewerberInnen und Geduldete im Land Niedersachsen aufgrund des Asylverfahrensgesetzes und des Aufenthaltsgesetzes unterliegen, sind auszuschöpfen.
  2. Die Erteilung von Verlassenserlaubnissen („Urlaubsscheine“) nach § 12 Abs. 5 AufenthG und nach § 58 AsylVfG wird künftig weitgehend im Sinne der Antragsteller gehandhabt. Zu diesem Zweck sind die jeweils sachlich zuständigen Verwaltungen durch Rundschreiben anzuweisen, den Ermessensspielraum in entsprechender Weise auszuüben. Die Landesregierung prüft darüber hinaus, ob Residenzpflichtbereiche auf das benachbarte Bundesland oder Landkreise ausgedehnt werden können. Hierzu ist dem Landtag schriftlich zu berichten.
  3. Gebühren für Verlassenserlaubnisse werden nicht erhoben. Dies ist fachaufsichtlich zu gewährleisten.
  4. Die Landesregierung wird aufgefordert, sich auf Bundesebene für die Aufhebung der räumlichen Beschränkungen, denen AsylbewerberInnen und Geduldete unterliegen, einzusetzen.

Begründung

Asylsuchende, sowie geduldete und ausreisepflichtige Menschen unterliegen der sogenannten Residenzpflicht: Sie dürfen sich außerhalb einer bestimmten, ihnen zugewiesenen Zone nur mit einer Verlassenserlaubnis und nur für kurze Zeit aufhalten. Sogar anerkannte, subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge und Menschen mit einem humanitären Bleiberecht unterliegen Aufenthaltsbeschränkungen, weil ihnen eine Wohnsitznahme nur in dem ihnen zugewiesenen Gebiet erlaubt ist, solange sie auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Die Residenzpflicht ist in dieser Form einmalig in Europa. Nur Slowenien und Österreich verfügen über ähnliche Instrumente, aber kein Land sieht eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit für die gesamte Dauer des Asylverfahrens und darüber hinaus vor. Die Residenzpflicht wurde 1982 als Teil des Asylverfahrensgesetzes eingeführt. Hatte das Gesetz insgesamt zum Ziel, auf der Ebene des Verfahrensrechts den Zugang zu Asyl in Deutschland zu erschweren, setzte die Einführung der Residenzpflicht ganz unverhohlen auf Abschreckung. Asylsuchende sollten durch die Perspektive, über Jahre hinweg während des Anerkennungsverfahrens in ihrem Aufenthalt auf die Stadt oder Landkreis der zuständigen Ausländerbehörde beschränkt zu sein, von einer Flucht nach Deutschland abgehalten werden.

Vor allem in ländlichen Regionen werden Asylsuchende damit in die Isolation getrieben. Wer sich den Restriktionen widersetzt und außerhalb der eigenen Residenzzone angetroffen wird, muss mit Geld- und Haftstrafen rechnen. Mit anderen Worten: Wer vom Menschenrecht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wird bestraft. Die Residenzpflicht schränkt so soziale Rechte, Religionsausübung, kulturelle Rechte, aber auch politische Rechte ein. Das Recht auf Freizügigkeit ist ein hohes Gut, welches unabdingbar ist, um das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu verwirklichen. In Verbindung mit anderen asylverfahrenspezifischen Einschränkungen führt die Residenzpflicht so zu einer Diskriminierung der Betroffenen, die nicht gerechtfertigt ist. Wer Menschen diese fundamentalen Rechte nimmt, der will ihren Ausschluss aus der Gesellschaft, der will den Betroffenen und der Gesellschaft klar machen, dass die derart Ausgegrenzten nicht dazugehören und nicht gleichberechtigt sind. Geduldete und seit Jahren hier lebende ausreisepflichtige Flüchtlinge sind ebenso von den desintegrierenden Folgen der Residenzpflicht betroffen wie Asylsuchende. Aktuell unterliegen bundesweit fast 200.000 Menschen der Residenzpflicht, darunter etwa 88.000 Geduldete, 70.000 sonstige Ausreisepflichtige (faktische Duldung) sowie 37.500 Asylsuchende (Zahlen vom 31.03.2010, Bundestags-Drs. 17/1539). In Niedersachsen sind davon am Stichtag 31.05.2010 (Bundestagsdrucksache 17/2261) 3.133 „Gestattete“ und 12.300 Geduldete betroffen. Ihre gesellschaftliche Teilhabe wird dadurch enorm erschwert, wenn nicht sogar völlig verhindert. Die für das Verlassen des Residenzpflichtbezirkes notwendigen Verlassenserlaubnisscheine, sind für die Betroffenen oft nur unter großem Aufwand zu erlangen. Die zuständige Ausländerbehörde hat meist nicht täglich geöffnet, die Sprechzeiten sind kurz, für jedes Verlassen muss in der Regel ein separater Antrag gestellt werden.

Mit der Residenzpflicht wird "Ausländerkriminalität" in hohem Maße erst produziert - ein Viertel aller ausländerrechtlichen Delikte geht auf Verstöße gegen die Residenzpflicht zurück (Quelle: Selders, Beate, in: Keine Bewegung. Die Residenzpflicht für Flüchtlinge - Bestandsaufnahme und Kritik", Berlin 2009). Pro Jahr gibt es demnach mehrere hundert Verurteilungen zu Geldstrafen über 30 Tagessätzen und sogar Freiheitsstrafen. Für die Betroffenen bedeuten diese Verurteilungen häufig auch, dass humanitäre Härtefall- und Bleiberechtsregelungen für sie deshalb nicht mehr zugänglich sind, obwohl sie sonst alle Kriterien erfüllen und somit eine Chance auf ein Bleiberecht hätten.

Deshalb sind die Innenminister der Länder aufgefordert, eine Bundesratsinitiative zu erarbeiten, die eine Aufhebung des § 56 AsylVfG und wegen der geduldeten Flüchtlinge auch die Aufhebung des § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ziel hat. Der Koalitionsvertrag von Union und FDP auf Bundesebene hat Erleichterungen bei der Residenzpflicht in Aussicht gestellt, um die Arbeitsaufnahme der Betroffenen zu erleichtern. Dazu hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf beschlossen, der aber nur unzureichende Ansätze liefert. In einigen Bundesländern werden derzeit die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit gelockert. So bringen die Länder Berlin und Brandenburg Verbesserungen für Flüchtlinge auf den Weg, soweit es auf Landesebene möglich ist. Schleswig-Holstein hat AsylbewerberInnen eine regionale Reisefreiheit gewährt. Doch das können nur erste Schritte auf dem Weg zu einer gänzlichen Abschaffung der Residenzpflicht sein.

Zurück zum Pressearchiv