Änderungsantrag: Mehrsprachigkeit – Ein Gewinn für Niedersachsen

 

Änderungsantrag
(zu Drs. 16/5289)

Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen 

Hannover, den 28.11.2012

Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 16/5289

Beschlussempfehlung des Kultusausschusses - Drs. 16/5395

Der Landtag wolle den Antrag in folgender Fassung beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien werden durch das niedersächsische Bildungssystem noch immer massiv benachteiligt. Stammen diese Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien, verschlechtern sich ihre Bildungschancen. Gleichzeitig werden die mitgebrachten Fähigkeiten kaum geachtet und gefördert. Damit werden erhebliche Potenziale ungenutzt gelassen, Chancen für eine wirksame Integration der Kinder aus Einwandererfamilien vertan und der zunehmende Fachkräftemangel verstärkt. Deshalb müssen in unserem Bildungssystem die Voraussetzungen für eine chancengerechte Förderung und Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen geschaffen werden.

Um zu verhindern, dass viele Zuwandererkinder in den niedersächsischen Schulen scheitern, müssen die Hürden des gegliederten Schulwesens abgebaut werden und durch eine Weiterentwicklung der Schulen zu Ganztagsschulen mit Qualität eine bessere Förderung ermöglicht werden.

Darüber hinaus hat eine intensive Sprachförderung, die auch die Herkunftssprache der Jugendlichen einbezieht, eine hervorragende Bedeutung.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. I.  Sprachbarrieren überwinden!
    • Ein ganzheitliches Sprachförderkonzept in Kindergärten und Kindertagesstätten wird etabliert, mit dem die Sprachförderung im täglichen Ablauf der Einrichtungen verankert wird. Dazu bedarf es u.a. systematischer Fortbildungsangebote für Erzieherinnen und Erzieher. Das Land setzt sich intensiv dafür ein, dass die Besuchsquote der Zuwandererkinder in den Kindertagesstätten deutlich gesteigert wird.
    • Die Sprachförderung wird nicht auf Kindergarten, Vorschule oder Förderkurse in Grundschulen beschränkt, sondern es werden auch in der Sekundarstufe in allen Schulformen Sprachförderangebote eingeführt.
    • Die Eltern von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und gleichzeitigem Sprachförderbedarf sollen durch niedrigschwellige Angebote gezielt in die Lage versetzt werden, ihre Kinder besser unterstützen zu können und an das System Schule herangeführt werden.
      Dazu gehören unter anderem Sprachkurse für Eltern und der Einsatz engagierter Eltern mit Migrationshintergrund als Lotsen für andere Eltern ihres jeweiligen Sprach- und Kulturraums.
  2. Interkulturelle Kompetenz stärken!
    • Das Land tritt mit den Universitäten in Gespräche ein mit dem Ziel, in der Lehrerausbildung Kompetenzen in der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache und in der interkulturellen Bildung zu verankern, und schafft  entsprechende Erweiterungsstudiengänge sowie regionale Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer.
    • Menschen mit im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen wird durch eine unbürokratische und erleichterte Anerkennungspraxis von im Ausland erworbenen Qualifikationen der Zugang zu Erziehungs- und Bildungsberufen in Niedersachsen eröffnet.
    • Absolventinnen und Absolventen eines Lehramts- oder Sozialpädagogikstudiums mit Migrationshintergrund werden gezielt in Schulen und anderen staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eingestellt.
  3. Potenziale erkennen, nutzen und ausbauen!
    • Der muttersprachliche Unterricht wird an den Schulen bedarfsorientiert aufgebaut und nicht auf die Grundschule beschränkt.
    • Das Fremdsprachenangebot wird erweitert und die Mehrsprachigkeit gezielt und flächendeckend gefördert. Das Angebot von Herkunftssprachen als weiterer Fremdsprache wird bedarfsgerecht ausgebaut.
    • Austauschprogramme und Patenschaften mit Schulen vor allem aus den Ländern der Muttersprache werden entwickelt und unterstützt.

 

Begründung:

 

Das niedersächsische Bildungssystem wird den Veränderungen unserer durch zunehmende Internationalisierung, Pluralisierung und Wanderungsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts gekennzeichneten Gesellschaft nicht annähernd gerecht.

Bereits im Frühjahr 2008 hatte  Vernon Munoz, der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Bildung in seinem  Bericht über das deutsche Schulsystem eine erhebliche strukturelle Benachteiligung vor allem von Schülerinnen und Schülern aus Einwandererfamilien festgestellt und darauf hingewiesen, dass es sich dabei keineswegs um ein ethnisches, sondern vor allem um ein soziales Problem handelt. Er bezeichnete dies als  Verstoß gegen das Menschenrecht auf Bildung. Im niedersächsischen Schulsystem mit der frühen Trennung nach Klasse 4 haben Kinder aus Einwandererfamilien häufig schlechtere Chancen, sprachlich bedingte ungünstigere Eingangsvoraussetzungen gegenüber Gleichaltrigen aufzuholen.

Niedersachsen braucht ein neues Leitbild  für ein  Bildungssystem, das Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Chance wahrnimmt und Teilhabegerechtigkeit und Chancengleichheit aller bei uns lebenden Menschen endlich realisiert.

Sprache ist die zentrale Voraussetzung für die soziale Integration der bei uns lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Die sprachliche Integration umfasst zwei komplementäre Teilprozesse: Die sichere Beherrschung des Deutschen als Verkehrssprache seitens der Zuwanderinnen und Zuwanderer in Wort und Schrift und darüber hinaus die Akzeptanz und Wertschätzung der Herkunftssprachen der zu uns eingewanderten Menschen. Sprachförderung kann nicht erst nachgeholt werden, wenn Defizite erkannt wurden, sondern muss von Beginn an integraler Bestandteil unseres Bildungssystems werden. Mit einer Beschränkung der Sprachförderung auf Kindergärten, Kindertagesstätten oder Förderkurse in der Grundschule wird der Tatsache zu wenig Rechnung getragen, dass für die Erlangung vollständiger Sprachkompetenz bis zu acht Jahre erweiterte Sprachförderung erforderlich sind. Damit Lehrerinnen und Lehrer diese Aufgabe leisten können, brauchen sie eine systematische Qualifizierung, um „Deutsch als Zweitsprache“ unterrichten zu können. Um die Sprachkompetenzen der Zuwanderer nutzen zu können, Mehrsprachigkeit zu fördern und die Akzeptanz der Herkunftssprachen zu erhöhen, muss der herkunftssprachliche Unterricht an Schulen ausgebaut und im Rahmen des  Fremdsprachenangebots an den Schulen erweitert werden.

 Pädagoginnen und Pädagogen mit Migrationshintergrund in Kindergärten und Schulen sind in einer Einwanderungsgesellschaft besonders wichtig:  Sie sind überzeugende Vorbilder für den Lernerfolg, können als Expertinnen und Experten für den kulturellen und sprachlichen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler bei Konflikten wertvolle Unterstützung leisten und schließlich einen Beitrag für die Förderung der von den Zuwanderern mitgebrachten Fähigkeiten und Potenziale leisten. Die eklatante Unterrepräsentanz von Erzieherinnen/ Erziehern, Sozialpädagoginnen/ Sozialpädagogen und Lehrkräften an allen staatlichen Bildungseinrichtungen in Niedersachsen muss durch gezielte Einstellung der Absolventinnen und Absolventen entsprechender Ausbildungen und Studiengänge   beendet werden.

Gerade sozial benachteiligte Eltern aus Einwandererfamilien sind häufig nicht in der Lage, ihre Kinder etwa bei den Hausaufgaben oder der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts zu unterstützen. Ihrer Teilnahme an Elternabenden oder Elternsprechstunden steht zumindest subjektiv oft die Barriere mangelnder Kenntnis der deutschen Sprache entgegen. Chancengerechtigkeit in der  Bildungspolitik muss auch bei den Eltern ansetzen: Dazu gehören Sprachkurse für Eltern ebenso wie der Einsatz von Eltern mit Migrationshintergrund als Lotsen für andere Eltern ihres jeweiligen Sprach- und Kulturraums.

 

 

 

 

 

Gabriele Heinen-Kljajic
Parlamentarische Geschäftsführerin

     

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