Volker Bajus: Rede & Antrag "Niedersächsische Justiz kindgerechter machen - Modellprojekt Childhood-Haus"

- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,

Während die Kriminalitätsstatistik insgesamt einen sinkenden Trend anzeigt, nimmt die sexualisierte Gewalt gegen Kinder weiter zu. Allein im Corona Jahr 2020 um 10%. Bei der „Kinderpornographie“ sind es sogar mehr als 50%. Erschreckende Zahlen, die uns alle alarmieren und zum Handeln aufrufen!

Zweifelsohne handelt es sich hier um eines der schlimmsten Verbrechen. Kindern schwere Gewalt anzutun, sie in hohem Maße zu traumatisieren, für‘s Leben zu zeichnen, ihr Vertrauen und ihre Schwäche auszunutzen, und nicht zuletzt ihnen die Chance zu rauben, selbstbestimmt ihren Weg zur eigenen Sexualität zu finden, all das ist an Grausamkeit kaum zu überbieten.

Klar, unser Ziel muss sein, dass sich kein Pädokrimineller sicher fühlt und mit der ganzen Wucht des Rechtsstaates zu rechnen hat.

Deswegen ist es gut, dass sich auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden viel getan hat. Bei den Ermittlungsmethoden, der technischen Ausstattung oder der Qualifikation. So beim Landeskriminalamt und der Kriminalpolizei oder bei den Staatsanwaltschaften.

Der Rechtsrahmen ist jüngst mit dem „Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ deutlich verschärft worden. Mag einiges in diesem Gesetz nicht einvernehmlich sein und manches wird ob seiner Sinnhaftigkeit selbst von erfahrenen Kinderschützer*innen bezweifelt, in einem sind wir uns hier alle einig: Schwere Verbrechen müssen konsequent und hart bestraft werden.

Anrede,

es ist nur allzu menschlich, angesichts der Abscheulichkeit der Taten, den Blick auf die Bestrafung der vielen Täter und der (eher wenigen) Täterinnen zu lenken. Aber, verfehlen wir nicht den Auftrag, den wir als Politik haben, wenn wir nicht zuallererst an das Wohl der Kinder und an ihre Rechte, denken und für sie sorgen?

Kinder und Familien, die ja Opfer und Zeugen zugleich sind, kommen aber in Strafverfahren nicht selten zu kurz. Ist ja auch nicht einfach:

Wie schafft man eine kindgerechte, altersgemäße und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre? Wie verhindert man Einflussnahmen auf gerichtlich relevante Aussagen? Wie verhindert man Retraumatisierungen? Und, nicht immer ist eine Anzeige, eine Anklage, aus Sicht des Kindeswohls der richtige Weg. Ein schwieriges Feld.

Wenn ein Kind Opfer von sexualisierter Gewalt wird, ist das für die ganze Familie eine absolute Ausnahmesituation. Gerade auch wenn der Täter - wie so häufig - aus der Familie selber kommt, ist das normale Familienleben komplett lahmlegt.

Die Bedürfnisse in dieser Situation sind vielfältig: das betroffene Kind braucht viel Zuwendung, es muss mehrfach zu Behörden, zu Ärzt*innen, zu Psycholog*innen, zu Gutachter*innen, um Aussagen und Beweise so gut es geht zu sichern. Gleichzeitig brauchen die Kinder und ihre Familien viel emotionale und seelische Unterstützung, um das Erlebte zu verarbeiten und einen Weg zurück in die Normalität zu finden. Dafür braucht es ein Hilfesystem, das bestehende Angebote zusammenführt und Betroffenen niedrigschwellig zur Verfügung stellt. Optimalerweise aus einer Hand.

In Niedersachsen sind in den letzten Jahren viele neue Kompetenzstellen entstanden, die versuchen, den notwendigen Sachverstand für diese schwierigen Herausforderung zu entwickeln.

So in der psychologischen Versorgung, in der Traumabehandlung, in der Forensik, in der Justiz. Auch bei den Familiengerichten ist einiges im Fluss.

Die Berichte der „Kommission zur Prävention von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Niedersachsen“ oder auch der „Lüdge-Kommission“, die Anhörungen der Expert*innen in der Enquete-Kommission Kinderschutz zeigen, dass in den letzten Jahren viel neue Expertise entwickelt wurde.

Woran es noch mangelt, ist das systematische Wissen systematisch zusammenzuführen und in der Praxis breiter anzuwenden.

Nun gibt es einen Ansatz aus den nordischen Ländern. Das sogenannte “Barnahus” oder “Childhood-House”-Konzept. Darunter versteht man ein Kompetenzzentrum für behördenübergreifende Zusammenarbeit. Hier kommen alle Disziplinen zusammen, die das betroffene Kind und die Familie unterstützen und gleichzeitig alle nötigen Hilfen aus einer Hand zur Verfügung stellen.

Dr. Astrid Helling-Bakki, Geschäftsführerin der World Childhood Foundation (Deutschland)

beschreibt das so: „Es ist eine kinderfreundliche, multidisziplinäre, ambulante Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die Opferzeugen von sexualisierter und körperlicher Gewalt wurden. Das Childhood-Haus bietet ideale räumliche Möglichkeiten für eine gut abgestimmte, koordinierte und kinderfreundliche Versorgung der Kinder in Verfahren.“

Die gleichnamige Stiftung versucht diese Idee weiter zu verbreiten. Erklärtes Ziel ist es in Deutschland, in jedem Bundesland ein Haus zu etablieren. Wichtig ist, hier soll die bereits vorhandene Kompetenz zusammengeführt und gebündelt werden und nicht etwa das „Rad neu erfunden“ werden. Es geht also nicht um Konkurrenz, sondern um Verbesserung der Kooperation.

Was bringt uns aber eine einzige Einrichtung in einem großen Flächenland wie Niedersachsen? Entscheidend scheint mir die wissenschaftliche Begleitung und die Einbindung der unterschiedlichen Strukturen in einem modellhaften Projekt. Vom Kinderschutz, über die Jugend und Familienhilfe, die psychologische Versorgung, die Polizei und die Justiz.

So kann durch die Best Practice unter einem Dach für die beteiligten Institutionen und Behörden ein „Organisationslernen“ werden. Bestenfalls entsteht also ein kollektiver Lernprozess. In anderen Ländern wird inzwischen mit mobilen Teams oder mit regionalen Zweigstellen gearbeitet.

Die Stiftung hat vor kurzem in der Enquete Kommission berichtet. Das war sehr überzeugend.

In Deutschland gibt es bislang fünf solcher Einrichtungen mit positiven Erfahrungen. Weitere sind in Gründung.

Jetzt könnte man sagen, diese Entscheidung überlassen wir der Enquete Kommission. Ich halte das aus zwei Gründen für einen Fehler:

  1. Die Kommission wird erst fertig, wenn der Doppelhaushalt beschlossen wurde. Damit aber stünden die notwendigen Mittel womöglich erst 2024 zur Verfügung. Das wären mehr als zwei verlorene Jahre.
  2. Die Kommission müsste nicht diskutieren, ob man diesen Weg weiter folgt, sondern könnte bereits konkrete Vorschläge machen, wie die Umsetzung ist.

Anrede,
wir denken, es ist überfällig die Kinder und Jugendlichen, ihre verletzten Seelen und Körper, die Rechte der Opfer, ihren Schutz, ihr Wohl viel stärker in den Fokus zu rücken und ihnen den Vorrang zu geben

Unterstützen Sie unsere Initiative.

 

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