Rede Ursula Helmhold: Kinderarmut bekämpfen – Konkretes Handeln statt Ankündigungen und unverbindlicher Bundesratsentschließungen

Anrede,

gestern lasen wir große Überschriften in den Zeitungen "Weniger Menschen von Armut bedroht" oder "Der Aufschwung ist bei den Bürgern angekommen". Doch ob dieser Trend anhält, muss angesichts einer schon wieder zurückgehenden Konjunktur bezweifelt werden. Vor allem aber: es handelt sich bei den Statistiken um Verschiebungen im Zehntel- und Promillebereich. Die sagen nichts über die nach wie vor verheerende Lage der Langzeitarbeitslosen und ihrer Kinder aus. Und gerade sie wurden, das ergab ja eine Studie der Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen zwei Jahren nur zu zwei höchstens drei Prozent vermittelt. Der hohe Sockel von Armut betroffener Menschen bleibt – trotz aller Reformbemühungen, das ist die nüchterne und zugleich bittere Erkenntnis.

Anrede,

nun zu der niedersächsischen Tiefebene: das Schuljahr hat begonnen und damit schwierige Zeiten für Familien mit Kindern, die an oder unterhalb der Armutsgrenze leben. Wieder einmal gab es von den Schulen die Listen der anzuschaffenden Materialien, locker kommen da 100 Euro und mehr zusammen.

Im vergangenen Jahr haben wir im Landtag dieses Thema schon einmal diskutiert. Damals haben die Regierungsfraktionen spät und unter großem öffentlichen Druck reagiert und unsere Forderung nach einem  Sozialfonds aufgenommen, um wenigstens an den Ganztagsschulen den Kindern aus armen Familien ein warmes Mittagessen zu ermöglichen. Der Fonds ist relativ bürokratisch ausgestaltet und erfordert  von den Schulen einen hohen Aufwand an Abrechnungsbürokratie, aber immerhin.

Heute wissen wir, dass dieses Projekt wohl nur dem Wahlkampf geschuldet war, denn Ihr Haushaltsentwurf für 2009 sieht keinen einzigen Euro mehr dafür vor. Den Fonds haben Sie klammheimlich wieder abgeschafft. Auch in Ihren Reden zum Haushalt kam das Thema Armut und Armutsbekämpfung überhaupt nicht vor. Übrigens auch  nicht in der Regierungserklärung. 

Sie schweigen, aber das bedeutet nicht, dass es das Problem nicht gibt. Dieses Thema lässt sich nicht totschweigen! In Niedersachsen lebt jedes 6. Kind in Armut. Und Sie sollten das wissen, denn die Sozialverbände, die Landesarmutskonferenz, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der speziellen Kindertafeln, von Kirchengemeinden, die Erstausstattungen zum Schulbeginn verteilen, sie alle berichten davon und wenn man seine Ohren nicht mit Absicht verschließt, dann kennt man das Problem.

Ganz offenbar fühlen Sie sich für die Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft weniger Chancen haben als andere, nicht zuständig. Sie verantworten ein Schulsystem, das diese Kinder ausgrenzt und diskriminiert. Und Sie verantworten es, wenn Kinder mit knurrenden Mägen in der Ganztagsschule sitzen, weil das Geld für ein Mittagessen nicht reicht. Oder noch schlimmer, wenn diese Kinder deswegen von der Ganztagsbetreuung abgemeldet werden.

Deswegen fordern wir, dass Sie die Mittel für den Sozialfonds wieder einsetzen.

Im vergangenen Jahr haben wir hier auch über die Höhe der Regelsätze diskutiert.

Es ist unstrittig, dass der Regelsatz für Kinder nicht auskömmlich und vor allen Dingen falsch berechnet ist. Man kann nämlich nicht einfach sagen, Kinder sind kleine Erwachsene und erhalten deshalb  60, bzw. 80 Prozent, der Erwachsenenregelleistung. je nach Alter.

Jeder, der Kinder hat weiß: Für Bekleidung und Schuhe werden für Kinder unter 14 Jahren 18,85 Euro im Monat anerkannt.

Der Bedarf an Bekleidung und Schuhen, den Kinder haben, entspricht aber doch nicht 60 Prozent des Erwachsenenbedarfs! Und im Unterschied zu unseren Füßen wachsen die Füße der Kinder noch, und sie wachsen so schnell, dass man manchmal innerhalb kürzester Zeit mehrmals neue Schuhe kaufen muss.

Wissen Sie eigentlich, was gute Kinderschuhe heute kosten?

Dasselbe gilt für das Essen. 2,57 € sind danach pro Tag für Kinder für Essen und Trinken vorgesehen, davon 1,05 Euro für ein Mittagessen. Davon kann man gesunde Lebensmittel nicht bezahlen.

Ausgaben für Bildung sind im Regelsatz überhaupt nicht vorgesehen. Und von diesem Nichts müssen die  Eltern alle Ausgaben für Verbrauchsmaterial, Pinsel, Tuschkästen oder aufwendige Geräte, wie zum Beispiel Taschenrechner bezahlen. Es grenzt an Zauberei, dass es Eltern überhaupt irgendwie schaffen. Aber es gibt auch viele Eltern, die es eben nicht schaffen. Von Musikinstrumenten, Musikunterricht oder künstlerischer Förderung können diese Kinder nur träumen.

Und auch bei den Regelsätzen haben Sie uns vor der Wahl erzählt, es würde alles gut. Niedersachsen habe sich einer Gesetzesinitiative aus Nordrhein-Westfalen angeschlossen mit dem Ziel, die kinderspezifischen Bedarfe bei der Ermittlung der Regelsätze zu berücksichtigen. 

Das klang schön im Wahlkampf und Sie hatten das Problem vom Tisch. Das war ja das Prinzip des Wohlfühlwahlkampfs Wulff, der für und gegen alles war und nach dem Motto "Jedem Wohl und keinem Wehe" alle Probleme weglächelte.

Aber was dann kam, war kein Ruhmesblatt der Bundesratspolitik: Die Initiative schmorte monatelang, die Beratungen wurden mehrmals vertagt und im Mai 2008 schließlich war von einer Gesetzesinitiative keine Rede mehr.

Ich zitiere mal aus der Rede der Staatsministerin Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz: "Leider sind Monate verstrichen, in denen zum Thema Kinderarmut nichts passierte. Die Unionsseite hat ihren Worten keinen Taten folgen lassen. Am Ende stand ein einseitiger und unabgestimmter Vorstoß der unionsgeführten Länder in Form eines Gesetzesantrags der Länder Saarland und Nordrhein-Westfalen. Erstaunlich wurde das Ganze, als sich wenige Tage danach das Land Nordrhein-Westfalen völlig überraschend vom eigenen Kompromissvorschlag distanzierte, das Saarland im Regen stehen ließ und den vorliegenden Entschließungsantrag aus dem Hut zauberte."

Das verstehe, wer will. In welchen Kreisen der Union und der Bundesregierung dieses bemerkenswerte Vorgehen beschlossen wurde, darüber möchte ich hier nicht spekulieren. Ich nehme aber mal an, dass Ministerpräsident Wulff, der stellvertretende Vorsitzende seiner Partei, daran nicht ganz unbeteiligt war. Vielleicht war ja auch Herr Merz beteiligt, der allen Ernstes behauptet, mit 132 Euro könne man doch auskommen. Für ein Kind wären das 79 Euro, das ist in etwa der monatliche Bedarf eines Hundes im Tierheim. Auch wenn Friedrich Merz hier sicher nicht die Mehrheitsmeinung der CDU vertritt,  ist so eine Äußerung eine Schande für eine Partei, die sich christlich nennt.

Fakt ist: Mit dicken Backen ist Christian Wulff beim Thema Armut im Wahlkampf gestartet, am Ende ist ein Röcheln übrig geblieben: Eine Gesetzesinitiative hätte den Bund zum Handeln getrieben -  eine Entschließung des Bundesrates ist ungefähr so viel wie "bitte bitte" sagen. Und Bundesarbeitsminister Scholz hat ja auch prompt erklärt, es passiere überhaupt erst was nach Vorliegen der nächsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. In dieser Wahlperiode jedenfalls fassen die Großkoalitionäre das offenbar zu heiße Thema nicht mehr an. Das ist schäbig und gleicht einer politischen Armutserklärung!

Die Situation für Eltern und Kinder jedenfalls bleibt für die nächsten Jahre unverändert schlecht. Denn mit Ergebnissen ist nicht vor 2010 zu rechen, angemessene Regelsätze nicht vor 2011 zu erwarten. So haben Sie die Menschen zweimal an der Nase herumgeführt: Einmal mit dem Sozialfonds und dann mit der Luftnummer im Bundesrat.

Niedersachsen hat sich ja im Bundesrat nicht einmal zu Wort gemeldet.  Dieses Verhalten ist wirklich unredlich! Sie spielen hier ein abgekartetes Spiel auf Kosten der armen Kinder.

Und jetzt will die große Koalition das Thema schön aussitzen.

Damit wollen wir Sie aber nicht durchkommen lassen. Deshalb fordern wir Sie heute auf, einen eigenen Gesetzentwurf in den Bundesrat einzubringen, damit sich in der Frage der Kinderregelsätze und der Kinderbedarfe noch vor dem St. Nimmerleinstag etwas bewegt.

Kinder in Niedersachsen, deren Eltern nicht auf Rosen gebetet sind, brauchen:

  • Eine angemessene Kindersicherung,
  • Eine Ermittlung der kinderspezifischen Bedarfe durch eine unabhängige Expertenkommission,
  • Die kurzfristige Wiedereinführung von Mitteln für einmalige Beihilfen für Sonderbedarfe. Die Behörden müssen Spielräume haben, um die besonderen Lebenslagen dieser Kinder abfedern zu können, insbesondere für die kulturelle Bildung oder für Sportangebote,
  • Eine Kostenübernahme für das Essen in Schulen und Kindergärten, und auch eine andere Regelung für eintägigeExkursionen, Schülerfahrten  und aufwendige Lernmittel, damit diese Dinge bezahlt werden können. Dies muss eigentlich integraler Bestandteil einer umfassenden und umsichtigen Schulpolitik sein
  • Die Möglichkeit, als Fahrschüler ab der 11. Klasse überhaupt noch zur Schule gehen zu können und nicht an den Fahrtkosten zu scheitern.

Und kommen Sie mir bitte nicht mit der bevorstehenden Erhöhung des Kindergelds. Das kommt doch bei den wirklich armen Familien überhaupt nicht an, sondern wird ihnen gleich wieder von der Regelleistung abgezogen.

Und die Betreuungsprämie, die die Familienministerin wider besseres Wissen dem bayerischen Wahlkämpfer Huber geben musste, wird die Chancenungerechtigkeit für arme Kinder noch weiter verschärfen.

Besser, weil es allen Kindern gleichmäßig zugute käme, wären Sachleistungen und ein konsequenter Ausbau der Infrastrukturen im Bildungsbereich dazu gehört auch das kostenlose Mittagessen für alle Kinder nicht nur in Ganztagsschulen.

Am Dienstag wurde in der Kirche zur Wahrhaftigkeit aufgerufen.

Ich nehme an, Sie haben dazu genickt.

So viel Wahrhaftigkeit erwarte ich von Ihnen:

Es gab noch nie so wenig Kinder und noch nie so viele arme Kinder. Das muss sich ändern!

Tun Sie endlich etwas gegen die Kinderarmut in Niedersachsen

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