Rede Ursula Helmhold: Der demografische Wandel erfordert eine andere Politik: Zukunft der Pflege in Niedersachsen ? Perspektiven für 2030

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Anrede,
bislang haben wir von Seiten der Regierung und der Regierungsfraktionen noch nicht allzu viel zum demografischen Wandel vernommen. In Regierungserklärung und Koalitionsvereinbarung kam der Begriff überhaupt nicht vor, obwohl er ein seit Jahren drängendes Problem beschreibt.
Jetzt, zur Mitte der Wahlperiode, fordern Sie die Einsetzung einer Enquete-Kommission zum Thema "Demografischer Wandel in Niedersachsen".
So sehr ich es begrüße, dass das Thema endlich bei Ihnen angekommen ist, so falsch finde ich den Weg, den Sie mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission vorschlagen.
Das, meine Damen und Herren ist zum heutigen Zeitpunkt nun wirklich nicht mehr nötig.
Die Bevölkerungsentwicklung ist wahrlich kein neues Thema.
Die Daten liegen seit langem vor:
Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages hat ihren Bericht am 28.3.2002 vorgelegt. Im Juni 2003 lag bereits die 10. (!) koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung vor.
Das Land Nordrhein-Westfalen legte sogar schon einen Enquete-Bericht zur Zukunft der Pflege vor.
Sie haben bislang geschwiegen.
Die meisten der von Ihnen gestellten Fragen sind bereits beantwortet:
Zum Beispiel: "Wie wird sich die Bevölkerung hinsichtlich Zahl und Altersstruktur in den kommenden Jahren und Jahrzehnten entwickeln, wenn sich die bisherigen Tendenzen fortsetzen?"
Ja, da müssen Sie nur das Landesamt für Statistik befragen, bzw. einmal ins Netz gehen und die Daten heraussuchen – die sind doch längst vorhanden.
Antworten finden Sie übrigens auch in einer Antwort auf eine große Anfrage der SPD-Fraktion zum Thema "Älter werden in Niedersachsen" (Drs. 14/4012).
Sie stellen viele Fragen, die bereits beantwortet sind und es ist nicht einzusehen, dass eine Kommission Zeit damit vertun soll, längst vorhandenes Wissen neu zusammenzustellen.
Anrede,
die Bertelsmann-Stiftung legt seit Jahren Veröffentlichungen zu diesem Thema vor, die auch Handlungsempfehlungen beinhalten. Auch die politische Bewertung der Daten und Vorschläge kann an anderer Stelle vorgenommen werden, dazu brauchen wir keine Enquete-Kommission.
Die soll sich nach Ihren Vorstellungen auch noch mit den Ergebnissen der Hirn- und Lernforschung befassen, um das Erreichen von Bildungzielen im Kleinkindalter zu optimieren, sie soll Aussagen zu Lehrplänen machen, damit die ökonomischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden und es soll geklärt werden, wie Fähigkeiten des Familien- und Haushaltsmanagements für Mädchen und Jungen im schulischen Kontext besser vermittelt werden können.
Man gewinnt den Eindruck, dass in Ihren Fraktionen, jeder, der schon immer mal etwas über ein Thema wissen wollte, dies aufschreiben durfte und die Kommission wirklich umfassend mal eben alle Fragen beantworten soll, die auch nur im entferntesten etwas mit dem demografischen Wandel zu tun haben könnten.
Und wie praktisch ist doch so eine Enquete-Kommission: Man kann Fragen stellen, muss aber lange Zeit keine Antworten geben. Das ist reine Zeitschinderei, weil Sie sich vor den unangenehmen Konsequenzen drücken wollen.
Dazu sind wir aber eigentlich nicht hier. Die Menschen haben ein Parlament nicht gewählt, damit lediglich Fragen gestellt und Handlungen auf die lange Bank geschoben werden.
Politik heißt gestalten, meine Damen und Herren, und Sie drücken sich davor, die dringendsten Zukunftsfragen dieses Landes zu beantworten.
Mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission schieben Sie das Thema auf die lange Bank. Es ist nämlich überhaupt kein ehrgeiziges Ziel, bis zum Ende des nächsten Jahres einen Bericht vorzulegen und den Menschen vorzugaukeln, dann könnten noch entscheidende Weichen gestellt werden.
Was soll denn im Jahr 2007 bis zum Ende dieser Wahlperiode noch geschehen?
Der Haushaltsplan wird dann bereits verabschiedet sein und, falls Sie doch noch etwas auf den Weg bringen sollten, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit der Diskontinuität zum Opfer fallen.
Nein, meine Damen und Herren, die Zeit drängt mehr als Sie es wahrhaben wollen. Die Fakten liegen auf dem Tisch und es muss gehandelt werden.
Sofern in einigen Bereichen doch noch Fragen zu klären sind, schlagen wir Ihnen vor, 2 bis 3 öffentliche Hearings durchzuführen. Das geht schnell und ermöglicht eine zügige Arbeit an den drängenden Sachthemen. Oder ist es so, dass Sie sich vielleicht auch noch gar nicht einig über die zu gebenden Antworten sind?
Der Landesvorstand der CDU hat gerade die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre gefordert. Die Landesregierung hingegen schickt die Beamten bereits mit 50 Jahren in den Vorruhestand. Und die Enquete-Kommission soll die Frage beantworten: "Wie kann das tatsächliche Renteneintrittsalter in Niedersachsen dem gesetzlichen Renteneintrittsalter wieder stärker angenähert werden".
Ja, bestimmt nicht so, wie Sie das hier machen!
In der Antwort auf unsere Große Anfrage mussten Sie sogar eingestehen, dass sich bereits 42-jährige für den Vorruhestand bewerben. Das ist das Klima, das Sie hier in Niedersachsen erzeugen
Anrede,
gestatten Sie mir ein Zitat:
"Alle, die sich ein wenig für Politik interessieren, wissen, dass unser Problem kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit ist. Der Worte sind genug gewechselt. Deswegen ist es eigentlich nicht der Ort der Politik zu reden, sondern der Ort der Politik ist, zu handeln."
Diese Worte müssten Ihnen sehr bekannt vorkommen, sie stammen aus der Regierungserklärung von Herrn Wulff vom 4. März 2003.
Ich stimme ihm hier zu, insbesondere bei diesem Thema.
Meine Fraktion hat bereits im vergangenen Plenum einen ersten Entschließungsantrag zum demografischen Wandel vorgelegt. Heute schlagen wir Ihnen vor, wie dem demografischen Wandel im Bereich der Pflege zu begegnen ist. Weitere Initiativen meiner Fraktion werden folgen.
Im Bereich Pflege liegen alle wesentlichen Daten vor:
Gemäß der 10. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird die Bevölkerung Niedersachsens bis zum Jahre 2050 deutlich niedriger sein als heute. Gleichzeitig verändert sich die Altersstruktur der Bevölkerung:
Immer weniger jungen Menschen werden immer mehr alte gegenüber stehen. Der Anteil älterer Menschen ab 60 an der Gesamtbevölkerung wird von 25% auf 33% wachsen. Insbesondere ist die Anzahl der Hochbetagten von großem Interesse: Während heute jede/r 23. EinwohnerIn Niedersachsens 80 Jahre oder älter ist, wird im Jahre 2020 fast jeder 15. und im Jahre 2050 annähernd jede/r 9. Niedersachse/in zu den Hochbetagten zählen.
Neben diesen Zahlen gibt es eine Reihe von sozialstrukturellen Entwicklungen, die Einfluss auf die Pflegefähigkeit und -bereitschaft familiarer Pflegepersonen nehmen: ein sinkendes Pflegepotential zur Pflege durch eigene Kinder und deren Lebenspartner, steigende Erwerbsquoten bei Frauen, eine veränderte Haushaltsstrukturentwicklung sowie kulturelle Veränderungen, die zu einer abnehmenden Pflegebereitschaft führen. Diese Entwicklungen erfordern eine langfristig angelegte Steuerung, um die Voraussetzungen für eine menschenwürdige, bedarfsgerechte und an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Pflege auch in Zukunft zu sichern.
Grundsätzliches Ziel muss es sein, einem modernen Pflegeverständnis entsprechend den Hilfebedürftigen ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben in möglichst autonomer Lebensgestaltung zu ermöglichen.
Niedersachsen ist auf eine wachsende Zahl älterer und pflegebedürftiger Menschen nicht vorbereitet. Alle relevanten Akteure und betroffenen gesellschaftliche Gruppen müssen sich jedoch bereits jetzt auf diese Entwicklung einstellen, wobei insbesondere das Land und die Kommunen gefordert sind.
Ziel einer vorausschauenden Politik in diesem Bereich muss es sein, die Folgen der demografischen und sozialen Veränderungen durch entsprechende Weichenstellungen zu lenken und Rahmenbedingungen für eine zukünftige bedarfsgerechte Pflegeinfrastruktur zu schaffen.
Wichtigstes Ziel ist aus unserer Sicht die Sicherung des Vorrangs häuslicher Versorgung. Die meisten Menschen wünschen sich, im Alter in der vertrauten Häuslichkeit zu bleiben, auch im Falle von Pflegebedürftigkeit. Der Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen ist weiter zu fördern, damit diese zukünftig zu einem tragfähigen Baustein des Versorgungswesens entwickelt werden können. Die Schaffung eines ambulanten Verbundangebots zur Förderung der ambulanten Betreuung liegt dabei nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern auch der Kommunen, weil eine Vermeidung oder Verzögerung der Inanspruchnahme stationärer Pflege auch zu einer Reduzierung der kommunalen Ausgaben führt. Ein wichtiger Baustein dabei ist die Planung und Bereitstellung hinreichender vorpflegerischer und pflegebegleitender Dienste, sowie die frühzeitige Beratung, Unterstützung und Begleitung Angehöriger und ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Ausbau und Verbesserung der Erreichbarkeit bestehender Unterstützungsangebote wie Wohnraumberatung und Wohnraumanpassung, die Förderung von Hausbetreuungsdiensten und Hausnotrufnetzwerken, Maßnahmen zur sozialen und emotionalen Unterstützung pflegender Angehöriger, sowie Ausbau des Angebots an Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Arbeit der Niedersächsischen Fachstelle für Wohnberatung mit ihrer Multiplikatorenfunktion ist unbedingt zu erhalten.
Dabei sollen Modellversuche langfristig in Regelangebote überführt werden, da im anderen Fall auf Dauer erhebliche Mehrkosten für die Kostenträger des Quotalen Systems entstehen werden. Zur Anschubfinanzierung der vorgeschlagenen Maßnahmen soll das Land einen Betrag von 1 Mio. Euro unbeschadet der Mittel, die über die Rehaträger und Pflegekassen beizusteuern wären, bereitstellen.
Integrierte Versorgung und vernetzte Versorgungsstrukturen werden in der vorpflegerischen und pflegerischen Versorgung zukünftig eine weit größere Rolle spielen als bisher. Es wird darauf ankommen, Bedarfslagen hilfe- und pflegebedürftiger Menschen besser zu identifizieren und möglichst passgenaue Angebote unter Nutzung vorhandener und möglicherweise noch zu implementierender Versorgungsstrukturen zur Verfügung zu stellen. Neben einer Überwindung von Schnittstellenproblemen wird es verstärkt zu einer Zusammenarbeit aller an der pflegerischen Versorgung beteiligten Gruppen kommen müssen. Die Rolle der örtlichen Pflegekonferenzen ist in diesem Zusammenhang auszubauen und zu stärken.
Des Weiteren können pflegeergänzende Hilfe-, Beratungs- und Unterstützungsleistungen zur Alltagsbewältigung beitragen. Hier steht nicht die direkte Pflege, sondern die Alltagsassistenz im Mittelpunkt. Für diese Aufgaben sollten bürgerschaftlich Engagierte gewonnen werden, die allerdings mit entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmen auf ihre Aufgabe vorzubereiten und professionell zu begleiten sind. Eine besondere Rolle könnte hier zukünftig das Engagement der Ruhestandsgeneration selbst spielen, indem aktive Ruheständler hilfebedürftigen alten Menschen Unterstützung leisten.
Noch längst nicht ausgeschöpft sind die Möglichkeiten von Prävention und Rehabilitation, um Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern oder zu verhindern. Hierzu werden ambulante geriatrische Rehabilitationsangebote, akutgeriatrische Tageskliniken und teilstationäre geriatrische Rehabilitationseinrichtungen und -dienste als Bindeglied zwischen ambulanter und stationärer Versorgung notwendig sein.
Auch präventive Hausbesuche von Pflegekräften zur Beratung älterer Menschen im eigenen Heim können künftig einen erheblichen Beitrag zur Stärkung der häuslichen Pflege leisten. Das Land sollte in einem regional begrenzten Modellversuch prüfen, ob diese Hausbesuche für ein nachhaltiges Regelangebot geeignet sind.
Zukünftig wird ein besonderes Augenmerk auf die steigenden Zahlen von demenzerkrankten Menschen zu legen sein, die überwiegend von Angehörigen versorgt werden. Erforderlich ist der Ausbau von spezifischen niedrigschwelligen Betreuungsangeboten aber auch die Forcierung von gerontopsychiatrischen Zentren und alternativen Wohnformen für demenziell Erkrankte. Die Etablierung einer staatlich anerkannten Weiterbildung zur Pflegefachkraft für gerontopsychiatrische Pflege würde die fachliche Qualifikation in diesem Bereich erhöhen und zur Verbesserung der Versorgung beitragen.
Daneben muss das Angebot auch stärker auf die steigenden Bedarfe von Migrantinnen und Migranten ausgelegt werden. Es ergibt sich die Anforderung, eine kultursensible Pflege zu leisten und zielgruppenorientierte Beratungs- und Unterstützungsleistungen zu erbringen.
Eine bedarfsgerechte Anzahl von Ausbildungsplätzen in den Pflegeberufen, eine ausreichende Bewerberzahl und die inhaltliche Weiterentwicklung der Ausbildung ist eine wichtige Voraussetzung, um menschenwürdige Zustände in der Pflege zu gewährleisten und Pflegemängel zu vermeiden.
Sie sehen, meine Damen und Herren,
die Daten sind bekannt, die Notwendigkeiten auch, lassen Sie uns anfangen zu handeln und richten Sie nicht unnötig Kommissionen ein.

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