Rede Stefan Wenzel: Aktuelle Stunde Islam und Integration
der grausame Mord an Theo van Gogh und die brennenden Kirchen, Moscheen und Schulen in den Niederlanden haben auch in Deutschland Ängste und Befürchtungen ausgelöst. Kann so etwas auch in Deutschlan...
Anrede,
der grausame Mord an Theo van Gogh und die brennenden Kirchen, Moscheen und Schulen in den Niederlanden haben auch in Deutschland Ängste und Befürchtungen ausgelöst.
Kann so etwas auch in Deutschland passieren?
Wie kann sich eine offene und freie Gesellschaft vor den Feinden der Freiheit schützen?
Die Erfahrung des Nationalsozialismus hat dazu geführt, dass sich Deutschland eine freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassung gegeben hat, die die Unantastbarkeit der menschlichen Würde garantiert und die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zur Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft erklärt. Die Grundrechte stehen jedem Menschen unabhängig von Geschlecht, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauung zu. Mit den Grundrechten verbinden sich aber auch Pflichten.
Kein freier und demokratischer Rechtsstaat ist gegen terroristische Anschläge oder feige Mordtaten einzelner Menschen oder Gruppen gefeit. Deshalb wäre es falsch, sich grundsätzlich in Sicherheit zu wiegen.
Anrede,
der Mord in den Niederlanden war nicht nur ein Anschlag auf die Grundwerte eines freien und demokratischen Staates, er war auch ein Anschlag auf die Muslime, die den heiligen Fastenmonat als Sinnbild für Vergebung und Versöhnung sehen und für die das Ramadanfest am vergangenen Sonntag als Aufruf zum Frieden gilt.
Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die Religionen für ihre politischen Zwecke auf grausame Art und Weise missbraucht haben. Auch die christliche Kirche hat in dieser Hinsicht eine unselige Vergangenheit.
Meine Damen und Herren von der CDU,
Sie haben hinter den Titel Ihrer Aktuellen Stunde ein Fragezeichen gesetzt. Dort heißt es: "islamistische Bedrohung auch in Niedersachsen?"
Ein Fragezeichen – das ist allemal besser als ein Ausrufezeichen, denn Sie sind mit diesem Fragezeichen schon weiter gegangen als in der Beantwortung einer kleinen Anfrage meines Fraktionskollegen Hans-Albert Lennartz zur Sicherheitslage in Niedersachsen vom 22. Januar 2004. Damals haben Sie, Herr Innenminister Schünemann nämlich geantwortet: "Vor dem Hintergrund der anhaltenden Bedrohungslage durch den "islamistischen Terrorismus" stellt die Bekämpfung dieses Kriminalitätsphänomens einen Schwerpunkt in der Arbeit der Niedersächsischen Sicherheitsbehörden dar." (Zitatende)
Sie konnten diese Behauptung aber nie belegen. Seit dem 11.September 2001 sind laut Ihrer Aussage, ganze zwei Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Eines war bereits war zum Zeitpunkt Ihrer Antwort eingestellt. In keinem einzigen Fall ist es zu einer Anklageerhebung gekommen.
Sie fordern: In Zukunft besteht die "Pflicht zur Integration".
Anrede,
wenn Sie damit sagen wollen, wir verlangen von Einwanderern, dass sie die deutsche Sprache lernen, dann stimmen wir dem ausdrücklich zu.
Wenn Sie damit auch sagen wollen, wir verlangen von Einwanderern, dass sie Recht und Gesetz achten, stimmen wir ebenfalls eindeutig zu.
Wenn Sie aber sagen wollen "Pflicht zur Integration" heißt Aufgabe der eigenen kulturellen oder religiösen Identität, dann liegen Sie falsch.
Anrede,
in den Niederlanden wurden – genau wie in Deutschland – erhebliche Fehler gemacht: eine wirkliche Integration hat es auch in den Niederlanden nicht gegeben, auch wenn der Eindruck, den wir von unserem Nachbarland immer gehabt haben, ein anderer war. In den Niederlanden haben sich genau wie in der Bundesrepublik Parallelgesellschaften gebildet.
Allerdings haben unsere Nachbarn schon frühzeitig dafür Sorge getragen, dass nicht nur Neuzuwanderer die Sprache erlernen, sondern es hat – zumindest was die Sprache angeht – auch in diesem Bereich eine nachholende Integration gegeben. Aber Integration bedeutet nicht allein, dass Zuwanderer die jeweilige Sprache erlernen, sondern Integration bedeutet auch ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen – es handelt sich hierbei um eine wechselseitige Beziehung und es kann nicht allein eine Assimilierung der Zugewanderten verlangt werden.
Schaut man sich die Integrationsbemühungen der letzten Jahre an, bestehen hier nach unserer Auffassung erhebliche Defizite. Eine wirklich offene Debatte über die Vereinbarkeit der Werte des Islams mit den Werten der rechtsstaatlich verfassten westlichen Gesellschaften ist nicht geführt worden.
Individuelle Menschenrechte, demokratische Grundsätze und die Trennung von Staat und Religion stehen nicht zur Disposition. Und im Zweifel müssen diese Werte auch konsequent verteidigt und durchgesetzt werden.
Menschenrechte sind nicht teilbar, auch nicht unter dem Vorwand der Religionsfreiheit. Die Gesellschaft darf nicht zulassen, dass mitten unter uns Frauen und Mädchen ihrer elementarsten Rechte beraubt, gefangen gehalten, zwangsverheiratet und geschlagen werden. Keine Religion kann dies rechtfertigen – kein Rechtsstaat darf dies tolerieren.
Nach dem 11.September beschränkte sich die öffentliche Debatte zu oft auf die Stilisierung von diffusen Bedrohungsszenarien. Menschen muslimischen Glaubens sahen sich oft pauschalen Verdächtigungen und Diffamierungen ausgesetzt, die verletzend und ehrabschneidend wirken.
Wir müssen verstärkt den Dialog mit muslimischen Organisationen suchen und wir müssen gemeinsam über einen rechtlichen Rahmen nachdenken, der das Verhältnis zwischen dem Staat und Menschen muslimischen Glaubens gestaltet. Vorbild könnte der Loccumer Vertrag mit der evangelischen Kirche sein, der den Religionsunterricht ebenso regelt, wie die Ausbildung von Religionslehrern, die Lehrbefähigung und die Einrichtung einer wissenschaftlichen Ausbildung an den Hochschulen.
Anrede,
in Deutschland wurde zu lange eine Lebenslüge gepflegt: Die Union weigert sich bis heute anzuerkennen, dass Deutschland faktisch seit den sechziger Jahren ein Einwanderungsland ist. Stattdessen wurde lange von Gastarbeitern gesprochen. Rita Süssmuth hat dazu gesagt: "Integration war bisher nicht das Ziel, sondern Rückkehr. Über Jahre haben wir ein Nebeneinander geduldet und selbst gefördert."
Anrede,
wir müssen diese deutsche Wirklichkeit endlich anerkennen und die Integration auf eine neue Basis stellen. Das fordert alle gleichermaßen. Das erfordert ideelle und materielle Anstrengungen. Das ist aber Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland und Europa. Es ist aber auch eine wechselseitige Bereicherung, für die die Geschichte einige Beispiele kennt. Einige der großartigsten wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften sind in Spanien zu einer Zeit entstanden als Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten.
Anrede,
in den Niederlanden wurden Fehler gemacht. Auch in Deutschland wurden Fehler gemacht. Falsch wäre es, jetzt wieder dem alten politischen Reflex zu folgen und mit leichter Hand ein paar Maßnahmekataloge zu skizzieren.
Stattdessen zuzugeben, dass Politik manchmal ratlos vor Entwicklungen steht, könnte auch eine Chance sein, das Miteinander der Kulturen auf eine neue Grundlage zu stellen. Zwei Wahrheiten sind jedoch unumstößlich:
Deutschland ist ein Einwanderungsland und Menschenrechte sind unteilbar!