Rede Ina Korter: Unterrichtsversorgung, Ganztagsschulen, Abitur nach 12 Jahren

...

Anrede,
mit markigen und großspurigen Sprüchen ist Kultusminister Busemann vor einem Jahr gestartet.
Von der "umfassendsten Schulstrukturreform in der Geschichte des Landes Niedersachsen seit 50 Jahren" hat er bei der Verabschiedung des Schulgesetzes im vergangenen Jahr gesprochen.
"Bildungsgeschichte" glaubte er mit dieser Strukturreform zu schreiben.
Mit 2 500 neuen Lehrerstellen wollte er die Unterrichtsversorgung auf 100 % bringen.
Schon ein Jahr später zeigen sich die ersten tiefen Kratzer im Lack.
Nach einer neuen Umfrage von Infratest - dimap hat die CDU in Niedersachsen in nur einem Jahr 5 Prozentpunkte an Zustimmung zu ihrer Schul- und Bildungspolitik verloren.
Die große Zustimmung zu Ihrer Schulpolitik, auf die Sie sich immer so gern vollmundig berufen haben, bröckelt deutlich.
Das ist auch kein Wunder, wenn man eine erste Bilanz Ihrer Schulpolitik zieht.
Die beiden zentralen und einzigen eigenen Projekte, mit denen sich Herr Busemann so gern als Kraftprotz und Herkules dargestellt hat, sind die Schulstrukturreform und die Einstellung von 2.500 Lehrkräften.
Seine Schulstrukturreform beeindruckt vor allem durch ihre Schlichtheit, nach dem Motto:
was vor 50 Jahren gut war, muss für die Zukunft auch richtig sein.
Aber spätestens nach den nächsten PISA-Ergebnissen, wenn die anderen europäischen Länder noch weiter vor Niedersachsen und den anderen Bundesländern liegen als jetzt, weil sie die Chancen und Potenziale all ihrer Kinder nutzen und nicht frühzeitig aussortieren, wird die CDU riesige Schwierigkeiten haben, das Festhalten an dieser antiquierten gegliederten Schulstruktur zu rechtfertigen.
Die schwarz-gelbe Schulstrukturreform in Niedersachsen ist eben nicht modern, wie Herr Busemann immer gern sagt, und schon gar nicht zukunftsfähig - sondern einfach nur gegliedert.
Und auch mit Ihrem zweiten großen Projekt, den 2.500 neuen Stellen, mit denen die Unterrichtsversorgung auf 100% gebracht werden sollte, scheitert die Landesregierung schon jetzt.
Ausgerechnet für den Unterrichtsversorgungserlass hat der Minister gleich zweimal das Veto des Landeselternrates kassiert.
Der große – gern auch selbst inszenierte – Jubel für den großen "Kraftakt" mit diesen neuen Stellen ist schon jetzt verebbt.
Ihr Etikettenschwindel ist längst erkannt, denn es wird deutlich, dass Sie die 2.500 Stellen komplett verbrauchen, um die Rückkehr zum teuren gegliederten Schulsystem ab Klasse 5 zu finanzieren.
Vier Schulsysteme nebeneinander sind teurer als eine Schule für alle.
Für eine Verbesserung der Schule, für individuelle Förderkonzepte, für den Ausbau zusätzlicher Ganztagsschulen bleibt absolut nichts übrig.
Im Gegenteil, um auf statistische 100% Unterrichtsversorgung zu kommen, verschlechtert die Landesregierung die Bedingungen für alle Schulen dramatisch:
Die Klassenfrequenzen werden an den Realschulen und Gymnasien auf 32 Schülerinnen heraufgesetzt. Das sind in der Tat bayrische Verhältnisse!
Die Lehrerstunden für große Klassen werden gestrichen. Individuelle Förderung in diesen Klassen wird kaum noch möglich sein. Aber Hauptsache sie steht im Gesetz auf dem Papier. Das reicht Ihnen offenbar.
Die Lehrerstunden für Ganztagsschulen werden radikal gekürzt. So wird nur eine Nachmittagsaufbewahrung möglich sein, aber kein vernünftiges ganztägiges pädagogisches Konzept.
Der Unterrichtsversorgungs-Erlass ist gekennzeichnet von dem ideologischen Eifer, mit dem die CDU die Gesamtschulen verfolgt.
Mehr als 10% der Lehrerstunden werden den Gesamtschulen mit diesem Erlass geklaut.
Mit der neuen Arbeitszeitverordnung macht die Landesregierung mit ihrem Gesamtschulhass weiter.
Auch hier sollen die Anrechnungsstunden ganz überproportional bei den Gesamtschulen gestrichen werden.
Etwa ein Drittel aller Stunden, die durch die Novelle der Arbeitszeitverordnung eingespart werden sollen, werden den Kooperativen Gesamtschulen weggenommen.
In den Zeitungen können wir gerade lesen, dass die Gesamtschulen neue Rekorde bei den Anmeldezahlen für Schülerinnen und Schüler erleben.
Von den Eltern wird eine gemeinsame Schule für ihre Kinder, eine Schule, die die Bildungswege lange offen hält, mehr gewünscht denn je.
Aber darüber schweigt der Kultusminister lieber in seinen Jubel-Presseerklärungen.
Mit ihrer ideologischen Anti-Gesamtschulpolitik gerät die Landesregierung immer mehr ins Abseits.
Statt sich am Elternwillen zu orientieren, wie sie es immer wieder betont, vollzieht sie die Schulstrukturänderung auf dem Rücken der Kinder:
Mit großspurigen Sprüchen versichert Herr Busemann ein ums andere Mal: Wir trauen uns das zu, wir werden diesen Kraftakt schaffen.
In Wirklichkeit ist es nicht Herr Busemann, der die Last dieser überstürzten Schulstrukturreform tragen muss, sondern es sind die Schulen - und es sind vor allem die Kinder.
Wer Einblick in die 4. Klassen hat, kann schon im laufenden Schuljahr beobachten, wie sich dort das Klima verändert hat. Die Debatte um Trend und Empfehlung beginnt alles zu überlagern. Das schlimmste was uns passieren kann, ist, dass den Kindern schon in der Grundschule bei steigendem Sortierungsdruck und Misserfolgserfahrungen die Lernfreude verloren geht.
Im nächsten Schuljahr ist zu befürchten, dass die Kinder, die in das 5. oder 6. Schuljahr kommen, in eine chaotische Situation geraten werden.
Sie werden in Schulen kommen, deren Kollegien zu großen Teilen gerade neu zusammengesetzt sind und noch keine Zeit hatten, sich zusammenzufinden. Sie werden zu großen Teilen – gerade an den Gymnasien – von Lehrkräften unterrichtet werden, die für diese Schulform gar nicht ausgebildet sind.
Sie werden in mindestens 170 Außenstellen, davon 130 an Gymnasien, unterrichtet werden, oftmals Kilometer vom Stammhaus entfernt und damit vom Schulleben ihrer neuen Schule abgeschnitten.
Diese Kinder, Herr Busemann, werden einem Experiment ausgesetzt, wie es wohl in der nachkriegsdeutschen Schulgeschichte einmalig ist.
Und diese Kinder sollen obendrein auch die Ersten sein, für die die Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre verkürzt wird.
Sie werden Stundentafeln mit 33, ab Klasse 9 mit 34, mit 35 Pflichtwochenstunden bekommen. Dazu sollen sie nachmittags noch Hausaufgaben machen– eine Stunde am Tag ist da eher zu niedrig gerechnet. Das ergibt eine Arbeitswoche von 40 und mehr Stunden.
Und dies alles zudem noch ohne Vorbereitungszeit für die Schulen, ohne Zeit, hierfür pädagogische Konzepte zu entwickeln und sich auf den faktischen Ganztagsbetrieb vorzubereiten.
Diese Kinder werden zu Versuchkaninchen gemacht einzig aus dem Grund, dass der niedersächsische Kultusminister im Wettstreit mit seinen Kolleginnen in Hessen und Baden Württemberg Wolff und Schavan der Schnellste sein will.
Die Kinder in Niedersachsen werden dem Ehrgeiz unseres Kultusministers geopfert! Das halten wir für unverantwortlich.
Wir fordern die Landesregierung auf, die Schulzeitverkürzung auf 12 Jahre bis zum Abitur zumindest solange auszusetzen, bis das Chaos der schwarzgelben Schulstrukturreform bewältigt ist und die Schülerzahlen deutlich zurückgehen. Damit würden Sie sich endlich verantwortlich zeigen für das, was Sie gerade in den Schulen anrichten.
Anrede,
wir sind der Überzeugung, dass ihre Schulpolitik in eine grundsätzlich falsche Richtung geht, wenn sie sich auf frühe Sortierung und Beschränkung auf reine Unterrichtszeit und sonst nichts in den Schulen reduziert.
Wenn Sie aber schon nicht zu stoppen sind in Ihrer restaurativen "Reformwut" und unbedingt das gesamte Schulsystem rückwärts in die 50iger Jahre umkrempeln müssen, dann tun Sie das wenigstens in einem Tempo, dem die Schulen folgen können und bei dem die Kinder nicht völlig unter die Räder geraten!
Wir fordern eine Entschleunigung in der Schulpolitik.
Herr Busemann ist auf dem besten Wege, von Ehrgeiz getrieben genauso zum hektischen Aktionisten zu werden wie vor ihm Sigmar Gabriel.
Sie sehen, Herr Busemann, wohin das führen kann.
Und von dem Grundsatz "Gründlichkeit vor Schnelligkeit" ist bei der Landesregierung schon lange nichts mehr übrig geblieben.
Aber mit Ihrer quantitativen Mehrheit setzen Sie ein ums andere Mal unausgegorene Konzepte durch, koste es was es wolle.
Sie ziehen das überstürzte Abitur nach Klasse 12 durch, ohne eine Erprobungsphase anzusetzen, wie in anderen Bundesländern üblich, ohne Auswertung der - zum Teil schlechten Erfahrungen dort - ohne die fundierte Kritik von 4 Philologenverbänden aus Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz zur Kenntnis zu nehmen.
Noch gespannter dürfen wir auf den Flop mit Ihrem Schulbuchmietmodell sein, von dem man schon heute hört, dass Eltern viel zahlen müssen und wenig kriegen.
Sie bringen ein schlecht vorbereitetes Kopftuchgesetz ein, welches ohnehin vom Verfassungsgericht kassiert werden wird, und überstimmen mit Ihrer Mehrheit im Ausschuss einfach die fundamentale Kritik des Datenschutzbeauftragten.
So weit zu Ihrem Rechts- und Demokratieverständnis!
Anrede,
wir fordern in der Schulpolitik eine andere Schwerpunktsetzung.
Statt die knappen Ressourcen zu verpulvern für eine rückwärtsgewandte teure Strukturreform erwarten wir mehr Anstrengungen für die Ganztagsschulen.
Nur die finanziellen Mittel der Bundesregierung aus dem Programm "Zukunft Bildung und Betreuung" zu kassieren, sie im Lande als eigene Zuweisungen darzustellen aber selbst keinen Euro dazu zu geben, das reicht nicht.
An den Schulen hat man längst begriffen, worum es geht und deshalb sind zahlreiche Kollegien bereit, sich dieser neuen Herausforderung zu stellen. Das zeigen die über 150 Anträge und Voranträge.
Die Lehrkräfte wissen, dass zur Verbesserung der Bildungsqualität mehr und anderer Unterricht auch in anderen Tagesrhythmen an Ganztagsschulen nötig ist. Und sie wissen, dass gerade vor dem Hintergrund der Gewaltdebatte Schule mehr sein muss als eine anonyme Lehranstalt.
Gerade Ganztagsschulen können und müssen ein eigenes positives Klima mit eigenem Profil entwickeln. Dann bieten sie Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften eine echte Alternative.
Wer gewollt hätte, der hätte sich davon Anfang Januar bei der Präsentation der Ganztagsschulen aus Hannover im Raschplatz Pavillon informieren lassen können.
Aber es gibt ja so wenige CDU- und FDP-Politiker im Landtag, so dass keiner Zeit hatte, hinzugehen!
Anrede,
Ganztagsschulen sind eine der Antworten auf PISA. Es müssen aber richtige Ganztagsschulen sein: mit pädagogischem Konzept und keine Verwahranstalten mit Suppenküche.
Wir fordern die Landesregierung auf, zu den Mitteln der Bundesregierung eigene Mittel bereit zu stellen, damit alle Anträge auf Einrichtung einer Ganztagsschule bewilligt werden und damit in diesen Schulen auch anspruchsvolle pädagogische Konzepte umgesetzt werden können.
Stundenkontingente dafür wären durch die Abschaffung des Sitzenbleibens und durch die Aussetzung des Abiturs nach Klasse 12 zu gewinnen.
Ein Verzicht auf die teure Schulstrukturreform aber wäre der größtmögliche Gewinn.

Zurück zum Pressearchiv