Rede Ina Korter: Schule darf nicht krank machen – Druck aus dem Turbo-Gymnasium nehmen

Anrede,

"Abends, 20 Uhr 40: Die Ziffern auf der Uhr lassen sich nur noch mit brennenden Augen lesen. Draußen ist es schon lange dunkel, und vom Tag habe ich mal wieder nichts mitbekommen. Jetzt muss ich noch Chemie machen und die Englischvokabeln lernen. ”¦ So sieht also mein Leben mit 14 Jahren aus." So beschrieb am 12. Februar Viola in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung ihren Schulalltag in einem niedersächsischen Gymnasium.

Und Birte schrieb: "Dreimal pro Woche komme ich erst nachmittags aus der Schule. ”¦ Eine Mittagspause gibt es nicht. Erst zu Hause esse ich ”¦ etwas, danach geht es mit den Hausaufgaben weiter. Wenn man die in Ruhe machen möchte und sich Mühe dabei gibt, bleibt danach wenig freie Zeit übrig. In der 8.Klasse habe ich 34 Stunden pro Woche, und die einzelnen Unterrichtsstunden sind oft sehr hektisch und voll gestopft. Die Themen werden so schnell wie möglich durchgezogen, um das vorgegebene Pensum zu schaffen, und entsprechend viele Hausaufgaben fallen an. ”¦ Und selbst das, was dran war, wurde zu ungründlich erklärt, so dass viele nicht mehr mitkommen."

So sieht es heute an den Gymnasien in Niedersachsen aus.

Doch die Landesregierung reagiert vollkommen konzeptlos.

Dabei war das, was heute an den Gymnasien passiert, seit Jahren absehbar.

Schon 2004 haben wir darauf hingewiesen, dass das Turbo-Abi für die Schülerinnen und Schüler zu einer Wochenarbeitszeit von mehr als 40 Stunden führen wird.

Wir haben gefordert, die Schulzeitverkürzung auszusetzen, bis die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen sind.

Aber der damalige Kultusminister Busemann sah in unserem Antrag – so wörtlich im Februar 2004 hier im Landtag – lediglich "ein weltfremdes, ja geradezu absurdes Ansinnen".

Er wollte unbedingt ganz vorn sein beim G 8.

Dabei war schon damals klar:

Die Schulzeitverkürzung kann nicht funktionieren, wenn man einfach die Stundentafeln komprimiert und den Arbeitsdruck auf die Schüler erhöht.

Schüler sind keine Stopfgänse!

Wir brauchen eine Schule, die Leistung, Lernerfolg und Chancengleichheit sichert, und keine, die Kinder krank macht und ihnen Kindheit und Jugend raubt.

Das Abitur kann nur dann ohne Qualitätsverlust schon nach 12 Jahren abgelegt werden, wenn die Gymnasien hierfür ein neues pädagogisches Konzept entwickeln.

Sie müssen zu echten Ganztagsschulen werden. Nur dann kann der Schultag so rhythmisiert werden, dass sich Phasen der Anspannung und der Entspannung sinnvoll abwechseln.

Ein warmes Mittagessen gehört selbstverständlich dazu. Und an die Stelle der Hausaufgaben treten Phasen des selbstständigen, aber von Pädagogen unterstützten Lernens und Übens.

Spätestens um 16 Uhr haben die Schülerinnen und Schüler dann tatsächlich frei.

Kurzfristig sollten die 45-Minuten-Stunden durch Doppelstunden ersetzt werden.

Heute haben die Schüler bis zu acht verschiedene Fächer an einem Tag. Ist es da ein Wunder, wenn sie am Ende der 8. Stunde kaum noch wissen, was in der ersten Stunde dran war?

Der Stofffülle muss durch Konzepte exemplarischen Lernens begegnet werden.

Es reicht nicht, einfach 10 % der Vorgaben zu streichen. Schülerinnen und Schüler müssen vor allem lernen, sich Themen selbst zu erschließen und Problemlösungen zu finden.

Aber neue Lernformen funktionieren nicht in überfüllten Klassen.

Zuallererst muss deshalb die Anhebung der Klassenfrequenzen auf 32 zurückgenommen, muss vor allem die 10. Klasse als Eingangsstufe der Oberstufe kleiner werden.

Anrede,

wir wollen nicht das Rad zurückdrehen.

Wir wollen das pädagogische Konzept der Gymnasien so verändern, dass ein qualitativ hochwertiges Abitur schon nach 12 Jahren möglich ist und die Schüler dabei Lernfreude und Leistungsbereitschaft behalten.

Warum muss denn die Schulzeit überhaupt so starr für alle Schüler gleich festgelegt werden?

Kinder und Jugendliche entwickeln sich unterschiedlich, es ist deshalb richtig, die Schulzeit stärker zu individualisieren.

Was in der Grundschule mit der flexiblen Eingangsstufe geht, muss auch in der Mittel- und Oberstufe möglich sein.

Auch in der Sekundarstufe müssen altersgemischte Lerngruppen gebildet werden dürfen, die von den Schülerinnen und Schülern in jeweils unterschiedlicher Zeit durchlaufen werden können. Reformschulen haben mit diesem Konzept gute Erfahrungen gemacht.

So lässt sich die Zahl der Abiturienten steigern.

Wir haben bereits heute in Niedersachsen einen Flickenteppich, was die Schulzeit bis zum Abitur betrifft: Gymnasien vergeben das Abitur nach Klasse 12. An den integrierten Gesamtschulen wird das Abi nach Klasse 13 gemacht, an der Kooperativen Gesamtschulen meist nach Klasse 12. Die Waldorfschulen haben 13 Jahre Zeit.

Nicht nur Schülerinnen und Schüler entwickeln sich unterschiedlich schnell, auch die Schulen.

Warum geben wir ihnen nicht die Möglichkeit, im Rahmen der Eigenverantwortlichkeit und in Abstimmung mit dem Schulträger selbst zu entscheiden, wie schnell sie sich zu echten Ganztagsschulen mit dem Abitur nach 12 Jahren entwickeln, ob sie die flexiblen Wege bevorzugen oder ob sie vorläufig das Abitur auch noch nach 13 Jahren vergeben wollen?

Anrede,

der Ausbau der Gymnasien – und auch der übrigen Schulen – zu echten Ganztagsschulen ist nicht zum Nulltarif zu haben.

Notwendig sind sowohl Investitionsmittel für den Bau von Mensen und Aufenthaltsräumen, als auch ein zusätzliches Personalbudget.

Diese Mittel sind nur vom Land, von den Kommunen und vom Bund gemeinsam aufzubringen.

Die frühere, rot-grüne Bundesregierung hat mit dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" erheblich zum Ausbau der Ganztagsschulen beigetragen.

Jetzt sollte sich das Land mit Nachdruck beim Bund dafür einsetzen, dass dieses Investitionsprogramm fortgeführt wird.

"Ganztagsschulen-light" ohne Personalbudget können pädagogisch nicht erfolgreich arbeiten.

Für den Ausbau aller 242 Gymnasien zu echten Ganztagsschulen werden wir etwa 80 Millionen Euro benötigen, wenn man den Erlass für Ganztagsschulen mit viertägigem Ganztagsbetrieb zugrunde legt.

Diese Mittel könnten nicht nur für Lehrkräfte verwendet werden, sondern für Fachkräfte ganz unterschiedlicher Qualifikation.

Wir haben deshalb bereits in den Haushaltsberatungen für 2008 gefordert, für das Budget der eigenverantwortlichen Schulen zusätzliche 32,5 Mio. € vorzusehen – ein Betrag, der entsprechend dem Ausbau der Schulen jährlich gesteigert werden muss.

Anrede,

als die schwarz-gelbe Koalition vor vier Jahren die Schulzeitverkürzung bis zum Abitur beschlossen hat, da hat sie vor allem volkswirtschaftlich argumentiert und die pädagogischen Probleme ignoriert.

Heute müssen wir dafür sorgen, die versäumte pädagogische Umgestaltung des Gymnasiums möglichst schnell nachzuholen.

Meine Partei hat vorgeschlagen, den Solidaritätszuschlag umzuwandeln in einen Bildungs-Soli. Damit würden die Mittel bereitgestellt, die notwendig sind, um unser Schulwesen insgesamt auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen. Das wäre eine wirkliche Investition in die Zukunft.

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