Rede Gabriele Heinen-Kljajic: Die Rolle der Soziokultur in Niedersachsen

Landtagssitzung am 12.10.2011

Gabriele Heinen-Kljajic, MdL

Anrede,

die vorliegende Antwort der Landesregierung ist eine beeindruckende Leistungsbilanz der soziokulturellen Einrichtungen in Niedersachsen. Dank an alle, die zum Zusammentragen dieses umfangreichen Datenmaterials beigetragen haben.

Eine der größten Stärken der Soziokultur ist ihre Flexibilität und die Fähigkeit, Trends und Probleme schneller aufzugreifen, als die klassischen Kultureinrichtungen.

Eine große Herausforderung der Kulturpolitik ist der demografische Wandel. Die Soziokultur greift die damit verbundenen Chancen und Risiken auf, thematisiert sie und stellt sich den Herausforderungen. Beispiele hierfür sind die Filmreihe "Neuland denken" und die Ausstellung "Demografie und kulturelle Orte – mit Soziokultur den Wandel gestalten".

Sie hat das von Hermann Glaser postulierte "Bürgerrecht Kultur" schon ernst genommen, als die Forderung nach kultureller Teilhabe noch nicht Mainstream war und Theater noch glaubten, die Öffnung zu neuen Besucherschichten sei nur auf Kosten der künstlerischen Qualität erreichbar und komme für sie deshalb per se nicht in Frage.

Gerade weil Soziokultur einen sehr breit gefassten Kulturbegriff pflegt, weil sie nicht nur die "Künste" pflegt, sondern sich auch als Plattform für soziale und politische Fragestellungen anbietet, ist sie deutlich breiter aufgestellt, als andere Kultureinrichtungen. Sie macht auch Angebote für Menschen, die man mit einem kostenlosen Opernabo nicht glücklich machen würde, die aber ja deshalb keinesfalls "kulturlos" sind, sondern die einfach mit einer bürgerlich definierten Hochkultur nichts anfangen können oder wollen.

Da Soziokultur auf aktive Beteiligung setzt, hat sie zumindest das Potenzial, einen Raum zu schaffen für eine neue Ästhetik, für eine neue Kultur. Hier ist bürgerschaftliches Engagement nicht nur willkommenes Auffangnetz für Etatkürzungen, sondern es ist ein Anspruch der eigenen Arbeit. Und die kontinuierlich steigende Anzahl der Veranstaltungen, aber vor allem der Besucher, die alleine im Jahr 2009 bei über 1,3 Millionen lag, belegen eindrucksvoll, dass die Menschen in Niedersachsen die Angebote der Soziokultur annehmen.

Und wenn es ein Kulturangebot gibt, das Migranten aller Schichten und Milieus adressiert,  dann ist es die Soziokultur. 57 Prozent der Einrichtungen haben spezielle interkulturelle Angebote. Landesweit richten sich 12 Prozent der Veranstaltungen der Soziokultur ganz gezielt an Migranten. Das dürfte kaum eine andere Kultureinrichtung erreichen.

Der niedersächsische Handlungsbedarf in Sachen Zugang zu kulturellen Angeboten ist grundsätzlich hoch. Kultur spielt im Ländervergleich traditionell eine eher untergeordnete Rolle. Beim Ländervergleich einschlägiger Indikatoren liegt Niedersachsen auf den hinteren Plätzen. Der Kulturfinanzbericht 2010 zeigt: Im Bundesschnitt gibt jedes Land 1,8 Prozent seines Etats für Kultur aus, in Niedersachsen sind es für das laufende Jahr nur 0,75 Prozent. Mit 58,8 € pro Einwohner liegt Niedersachsen weit abgeschlagen auf Platz 14. Allein der Mittelwert aller Bundesländer liegt bei 89,88 €. Selbst Städte wie Braunschweig oder Hannover fallen bei öffentlichen Ausgaben für Kultur weit ab. Wir haben es also nicht nur mit einem Problem des ländlichen Raums zu tun. Von den ohnehin schon bescheidenen Kulturausgaben des Landes entfallen gerade einmal 0,45 Prozent auf die Soziokultur. Der Anteil fällt in den nächsten beiden Haushaltsjahren weiter ab auf 0,43 Prozent. Anerkennung für gute und wichtige Arbeit, liebe Kollegen von CDU und FDP, sieht anders aus.

Besonders erschreckend ist das Abschneiden beim Jugendkulturbarometer. Niedersachsens Jugend hat klare Defizite beim Zugang zu Kulturangeboten, einzige Ausnahme: Soziokulturelle Zentren. Kein Wunder – 55 Prozent der Angebote der Soziokultur richten sich an Kinder und Jugendliche.

Dass die Landesregierung nun nach den massiven Kürzungen im Jahr 2005 ihre sechsjährige Blockade-Haltung aufgibt und immerhin für die nächsten beiden Jahre je 550.000 € Investitionsmittel für die soziokulturellen Zentren und je 60.000 € für eine weitere Beraterstelle beim Landesverband einplant, ist eine erfreuliche Wende in der schwarz-gelben Kulturpolitik. Aber bei den Investitionen gibt es eine Bedarfsanmeldung der Einrichtungen in Höhe von 5 Mio. €. Hier geht es um den Erhalt kultureller Infrastruktur, für den sich das Land, auch über 2013 hinaus, engagieren muss.

Auch im Personalbereich ist die Soziokultur strukturell unterfinanziert. Schauen wir uns die Zahlen an:

Die Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur (LAGS) führt nicht nur Fortbildungsveranstaltungen durch und entwickelt Themenprojekte. Sie unterhält auch einen vierköpfigen Beraterstab, der weit über die eigene soziokulturelle Klientel und häufig auch weit über die tatsächlich ausfinanzierten Kapazitäten hinaus, Kultureinrichtungen in ganz Niedersachsen unterstützt und begleitet. Kommunen und Landschaften eingeschlossen. Nur 17-18 Prozent der Beratungen kommen eigenen Mitgliedern zugute. Gäbe es dieses Beratungsangebot nicht, wären viele Kulturinitiativen oder -Vereine nie entstanden oder längst an formalen Auflagen oder am komplexen Dickicht von Fördermodalitäten gescheitert. Überall dort, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo in Ihrer Region aus bürgerschaftlichem Engagement verstetigte Kulturangebote entstanden sind, ist vermutlich auch mal ein/e LAGS-BeraterIn zum Einsatz gekommen. All das erkennt auch die Landesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage an, alleine finanziell gewürdigt hat sie es in den letzten Jahren nicht. Und das, obwohl trotz Kürzungen die Anzahl der Beratungsstunden weiter angestiegen ist.

Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn die Zahl der Besucher von Veranstaltungen der Soziokultur zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ins Verhältnis gesetzt wird. Während die Besucherzahlen in zehn Jahren um deutlich mehr als die Hälfte gestiegen sind, ist die Beschäftigtenzahl gerade mal um gute 10 Prozent gestiegen.

Anrede,

auch im Ländervergleich wird deutlich, dass Soziokultur in Niedersachsen mit besonders wenig öffentlichen Mitteln auskommen muss. Während bundesweit 36,3 Prozent der Mittel selbst erwirtschaftet werden müssen, sind es in Niedersachsen 48 Prozent. Während bundesweit 35,3  Prozent der Mittel durch institutionelle Förderung abgedeckt werden, sind es in Niedersachsen nur 26 Prozent, ausschließlich finanziert von den Kommunen. Der Landesanteil an der Projektförderung ist von 11 Prozent in 2000 auf 8 Prozent in 2009 abgesunken. Wie unklug die Kürzungen der letzten Jahre vor allem unter Kosten-Nutzen-Aspekten waren, veranschaulichen die Zahlen, die die öffentliche Förderung ins Verhältnis zum einzelnen Besucher setzen. Während in Niedersachsen pro Besucher in der Soziokultur im Jahr 2009 7,52 € öffentlicher Mittel aufgebracht werden, sind es im Bereich Theater im Schnitt 87,05 €.

Neben der Kürzung der  Landesmittel soll hier aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass der LAGS die Befugnis als beliehenes Unternehmen entzogen wurde. Früher von der LAGS vergebene Mittel werden heute vom MWK und den Landschaften vergeben. Die von Ihnen, Frau Ministerin, benannten positiven Effekte, überzeugen nicht. Wenn man die gleichen Kennzahlen zugrunde legen würde, was ihre Tabelle auf Seite 41 leider nicht tut und daher einen falschen Eindruck erweckt, dann hat die LAGS den ländlichen Raum keinesfalls schlechter versorgt als die neuen Strukturen. Auch die Behauptung, die Gelder die früher bei der LAGS zur Fördermittelverwaltung verwendet wurden, kämen jetzt den Projekten zugute, ist natürlich Augenwischerei. Denn erstens ist das Gesamtmittelaufkommen gekürzt worden – von "zusätzlich" kann also gar keine Rede sein – und zweitens fallen natürlich jetzt – sowohl bei den Landschaften wie auch im MWK – ebenfalls Verwaltungskosten an. Der Aufwand ist schließlich nicht weggefallen, sondern nur verlagert worden.

Sich dann auch noch den sprunghaften Anstieg der Mitgliederzahlen – nach Aufkündigung der beliehenen Unternehmerschaft und der radikalen Kürzung der LAGS-Gelder – als positiven Effekt der Regionalisierung der Kulturförderung auf die Fahnen zu schreiben, ist entweder zynisch oder zeugt von Unkenntnis. Liebe Frau Ministerin Wanka, ich will Ihnen diesen Effekt erklären: Hier haben langjährige Kunden oder befreundete Einrichtungen der LAGS, die sich darüber geärgert haben, wie schwarz-gelb mit der Soziokultur umspringt, einen Unterstützungsbeitrag geleistet. Das war nicht das Ergebnis konstruktiver Reformen, sondern eine Solidarisierung gegen destruktive Kulturpolitik.

Anrede,

die Soziokultur hat seit Regierungsantritt von schwarz-gelb darunter zu leiden gehabt, dass sie als Erfolgsmodell rot-grüner Kulturpolitik neun Jahre lang ins Abseits gestellt wurde. Umso erfreulicher ist es, dass Sie, Frau Ministerin Wanka, diesen kulturpolitischen Bann aufgehoben haben. Wir haben jahrelang in den Haushaltsdebatten zusätzliche Mittel für die Soziokultur eingefordert. Schön, dass unsere Große Anfrage dazu geführt hat, dass Sie uns dieses Jahr mit eigenen Vorschlägen zuvorgekommen sind. Lassen sie uns auf diesem Weg gemeinsam weitergehen.

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